Krimtataren – die vergessenen Flüchtlinge
Krimtataren – die vergessenen Flüchtlinge
2014 annektierte Russland mit einer propagandistisch und militärisch wirkungsvoll vorbereiteten Aktion die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim. Damit verstieß Putin gegen das von Russland, Großbritannien und den USA garantierte Budapester Memorandum von 1994, das der Ukraine für ihre Bereitschaft, die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen an Russland zu überstellen, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zusichert. Zudem setzte sich der Kreml über die 1997 beschlossene NATO-Russland-Grundakte hinweg, die ausdrücklich den Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt gegeneinander sowie gegen irgendeinen anderen Staat beinhaltet und die Achtung der Souveränität, der Unabhängigkeit sowie die Unversehrtheit der Grenzen festschreibt.
An internationaler Verurteilung dieser Annexion hat es nicht gefehlt: Europarat, EU, NATO, die USA sahen in ihr einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Dem schloss sich die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten der UNO mit einer Resolution ihrer Generalversammlung an. Doch diese diplomatischen Interventionen blieben, trotz verhängter Sanktionen, allesamt wirkungslos.
Die Konsequenz der Annexion für die Krimtataren
Die dramatischen Ereignisse, die im Februar 2014 ihren Anfang nahmen und am 18. März mit dem „Beitritt“ der Krim zur Russischen Föderation endeten, liegen drei Jahre zurück. Sie spielen in der öffentlichen Diskussion kaum mehr eine Rolle, und sie sind durch den Krieg in der Ostukraine in den Hintergrund getreten. Und weil die Annexion der Krim kein Thema mehr ist, findet auch das Schicksal der von ihr betroffenen Menschen, zumal das der Krimtataren, kein Interesse und droht, in Vergessenheit zu geraten.
Für die Krimtataren ist die Halbinsel am Schwarzen Meer ihre angestammte Heimat. Als Russland sie im 19. Jahrhundert in Besitz nahm, bildeten sie die Mehrheitsbevölkerung. Dies änderte sich mit dem zunehmenden Zuzug von Russen, so dass sie bald in die Minderheit gerieten. 1944 verfügte dann Stalin unter dem Vorwand, sie hätten mit den Deutschen kollaboriert, ihre Deportation weit hinter den Ural. Als sich 1988 das Ende der UdSSR abzeichnete, kehrten die ersten Tataren in ihre Heimat zurück. Seit 2001 bildeten sie 12% der Bewohner der Krim.
Mit der Annexion der Krim sind viele Tataren zu Flüchtlingen geworden. Manche fürchteten, und dies nicht ohne Grund, um ihr Leben; andere wollten nicht unter russischer Unterdrückung leben. Inzwischen haben 30 000 Tataren Haus und Hof verlassen und, nur mit dem Allernötigsten versehen, in die Westukraine Zuflucht gefunden, um – wie sie glaubten – nach kurzer Zeit wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Denn die internationale Gemeinschaft würde doch nicht diesen Rechtsbruch hinnehmen und ihnen Gerechtigkeit verschaffen. Eine trügerische Hoffnung. Und nun droht den Krimtataren auch noch, dass ihr Schicksal in Vergessenheit gerät, nachdem sich offenbar die internationale Gemeinschaft trotz gegenteiliger Beteuerung mit der russischen Annexion der Krim offenbar abgefunden hat.
Integrationsmodell Drohobycz
Dem Vergessen soll im Folgenden entgegengewirkt werden, indem an einem Beispiel illustriert wird, wie sich das Leben geflüchteter Tataren in der Ukraine abspielt, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben und welche Hilfe ihnen zuteil wird.
Ein schwieriger Beginn
Zu den Orten, in denen die Krimtataren Zuflucht fanden, zählt die westukrainische Provinzstadt Drohobycz mit ihren 70 000 Einwohner, ihren Industrieruinen und ihrer hohen Arbeitslosigkeit. Dort haben sich von den 30 000 in die Ukraine geflohenen Krimtataren 120 niedergelassen und Schutz gefunden. Die griechisch-katholische Caritas nahm sich ihrer an. Zu ihrem Schirmherrn wurde ihr zeitweiliger Vizedirektor, der polnische katholische Ordensbruder Artur Deska, ein Mann mit einer interessanten Biographie. In seinem früheren Leben war er Manager, dazu als Philosoph, Historiker, Poet und Publizist hoch gebildet. Aufgrund einer schweren Erkrankung änderte er radikal sein Leben und trat in einen Orden barmherziger Brüder ein. Der heute 52-jährige Deska lebt seit 2003 mit zwei weiteren Brüdern in der Ukraine. Er beschreibt die 2014 durch die Annexion der Krim entstandene Flüchtlingssituation als chaotisch. Man war auf sie nicht vorbereitet. Und wie es bei der Bürokratie so ist – ohne gesetzliche Regelungen keinerlei Hilfe. Auch von außerhalb der Grenzen war zunächst keine Unterstützung zu erwarten. Mit bitterem Spott äußerst er sich zum Versagen von UNO und OSZE: Ihre Delegationen „tranken Hektoliter an Tee, machten tausende von Fotos, notierten die Namen. Dann reisten sie ab, um nach zwei, drei Wochen zurückzukehren… und alles begann wieder von vorne. Hilfe Fehlanzeige!“
In nüchterner Einschätzung der weltpolitischen Lage war es Bruder Artur klar, dass den Krimtataren auf absehbare Zeit die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt war. Daher war über die bloße Nothilfe hinaus ein Programm der Integration in die städtische Gemeinde erforderlich. Dazu bedurfte es eines ständigen und vertrauensvollen Kontakts mit den Flüchtlingen, den er nicht alleine leisten konnte. Es gelang ihm, einen Kreis freiwilliger Helfer, in der Mehrzahl Frauen, für diese Aufgabe zu gewinnen.
Die Integration wurde dadurch erleichtert, dass die Flüchtlinge nicht in Busladungen in Drohobycz eintrafen, sondern nach und nach. So konnten Bruder Artur und sein Helferteam aus anfänglichen Fehlern lernen und in ihre Aufgabe hinein wachsen. Es galt, für die Ankömmlinge Wohnraum zu beschaffen, wobei Bruder Artur darauf bedacht war, dass eine schädliche Gettobildung vermieden wurde. Die Familien wurden auf verschiedene Wohnblocks verteilt, um durch eine enge Nachbarschaft mit den ukrainischen Anwohnern keine Fremdheit aufkommen zu lassen. Zu helfen war weiterhin bei der Arbeitsbeschaffung sowie bei Behördengängen und Arztbesuchen.
Aktive Integrationsbereitschaft der Krimtataren
Möglich wurden diese positiven Anfänge durch die Integrationsbereitschaft der Tataren sowie durch ihren ausgeprägten Gemeinschaftsgeist. Aus ihrer Heimat an Selbstverwaltung gewöhnt, bemühten sie sich nun in ihrer Flüchtlingssituation um entsprechende solidarische Strukturen. Auf engstem Raum versammelten sie sich in Wohnungen, berieten ihre Probleme, fassten Beschlüsse und wählten einen der Ihren zum Ansprechpartner für Bruder Artur.
Die Bedeutung eines eigenen Kulturzentrums
Ein entscheidender Schritt zu einer gelungenen Integration war schließlich die Errichtung eines Kulturzentrums. Doch ehe dieser von Bruder Artur entworfene Plan umgesetzt werden konnte, waren Widerstände in der Bevölkerung und bei der Stadtverwandlung zu überwinden. Dies erforderte Geduld, Überzeugungsarbeit und Verhandlungsgeschick. 2016 kamen die Verhandlungen zu einem positiven Abschluss. Nach Beendigung der Renovierung in Eigenarbeit der Flüchtlinge steht dann ein großzügiger Raum für die Versammlungen der Krimtataren, für ihr Freitagsgebet und die Pflege ihrer Sprache und Kultur zur Verfügung. In naher Zukunft ist in dem Kulturzentrum eine Ausstellung zur Geschichte und Kultur der Krimtataren geplant. Auch sie wird, so ist zu hoffen, für die Integration der muslimischen Tataren in einer christlichen Umwelt förderlich sein.
Schwierige Lebensverhältnisse
Bei aller Integration bleibt die Lebenssituation der Krimtataren in Drohobycz noch für längere Zeit schwierig. Der durchschnittliche Monatslohn in dieser Provinzstadt liegt, umgerechnet, bei 120 €. Das ist zum Leben entschieden zu wenig, zumal die Flüchtlinge, anders als die zumeist vom Dorf stammende Stadtbevölkerung, nicht über Grund und Boden verfügen, was dieser eine weitgehende Selbstversorgung ermöglicht. Auch wenn sich die Männer um bessere Verdienstmöglichkeiten bemühen und in entlegenen Städten oder in Polen Arbeit finden, ihre Frauen durch sehr einfallsreiche Heimarbeit zum Unterhalt beitragen, manche sich selbstständig machen – äußere Hilfe wird noch für längere Zeit erforderlich sein. Die leistet der Redakteur Wojciech Pięciak vom Krakauer „Tygodnik Powszechny“ gemeinsam mit seiner Frau und einem Freundeskreis. Die von ihnen gesammelten Sach- und Geldspenden kommen durch mehrmals im Jahr unternommene Hilfstransporte den bedürftigen Flüchtlingsfamilien zugute. (Spendenkonto: Prowincja Polska Zakonu Sziptalnego, Kraków. IBAN: PL 30 1240 4650 1978 0010 6027 6370, Ukaraina/Krimtataren)
Kontakt zur Heimat
Nicht alle Krimtataren können und wollen ihre Heimat verlassen. Dies gilt auch für engste Verwandte und Freunde derer, die in Drohobycz Zuflucht gefunden haben. Man ist bemüht, miteinander in Verbindung zu bleiben. Doch auch dies ist schwierig. Aus Furcht, ihre Telefonate könnten abgehört werden, benutzen sie sichere Kommunikationswege, u. a, chiffrierte Mails. Dadurch sind die Flüchtlinge über die Situation ihrer auf der Krim zurückgebliebenen Angehörigen gut informiert. Diese berichten von einer Atmosphäre der Angst wie zu Zeiten der Sowjetunion. Die Selbstverwaltung der Krimtataren sei verboten und als „terroristische Vereinigung“ eingestuft worden. Zu Dutzenden habe man ihre Aktivisten ermordet; von anderen fehle jede Spur, so dass man nicht wisse, ob auch sie Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind oder, wie andere, im Gefängnis sitzen. Mit der verbreiteten Angst herrsche eine Stimmung des Misstrauens. Man spreche kaum mehr miteinander. Und in den eigenen vier Wänden würde man sich über politische Fragen nur im Flüsterton bei lauter Radiomusik unterhalten. Diese Aussagen finden vom Warschauer Zentrum für Oststudien (osw.waw.pl) ihre Bestätigung.
So tragen auch die in Drohobycz lebenden Krimtataren weiterhin an der Last ihrer schicksalhaften Geschichte.
Quelle: Wojciech Pięciak, Model Drohoycz, Tygodnik Powszechny 44/2015.