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25 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag

Am 17. Juni 1991 unterzeichneten in Bonn der polnische Premier Jan Bielecki und Bundeskanzler Helmut Kohl sowie die Außenminister beider Länder, Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski, den deutsch-polnischen Vertrag über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“. Die insgesamt 38 Artikel umfassen ein breites Spektrum politischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen, die auf der Basis von Konsultation und Kooperation geregelt werden sollen und die Grundlage für eine Fülle von Einzelverträgen bilden.

In der Präambel bekunden beide Seiten, „die leidvollen Kapitel der Vergangenheit abzuschließen“ und an die „guten Traditionen“ im geschichtlichen Zusammenleben beider Völker anzuknüpfen. Dabei stellen sie die bilateralen Beziehungen betont in einen übergreifenden europäischen Rahmen und erteilen damit im Grunde allen nationalen Alleingängen und nationalistischen Bestrebungen, die in der Vergangenheit das beiderseitige Verhältnis so tragisch belastet haben, eine Absage.

Der Vertrag – eine Frucht des europäischen Umbruchs

Der deutsch-polnische Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag ist eine Konsequenz des europäischen Umbruchs, der 1989 in Polen seinen Ausgang nahm. Mit dem Ende des kommunistischen Systems und dem Übergang zu einem demokratischen Rechtsstaat unter der vom einstigen Dissidenten Tadeusz Mazowiecki angeführten Regierung verband sich die Hoffnung auf eine Neuordnung der deutsch-polnischen Beziehungen sowie die Aussicht auf eine „Rückkehr nach Europa“, um so die Jahrzehnte lange Hegemonie der Sowjetunion zu beenden.

Auch auf deutscher Seite verlangten die Ereignisse der Jahre 1989/90 eine Neuregelung des Verhältnisses zu Polen. Nach dem von den Bürgern erzwungenen Ende der SED-Herrschaft und dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich der Bundesrepublik erforderten die deutsch-polnischen Beziehungen eine neue Rechtsgrundlage. Der von Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz am 7. Dezember 1970 unterzeichnete Vertrag „über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ war zwar im Rahmen der damaligen Entspannungspolitik von hoher Bedeutung und entsprach mit der Anerkennung der polnischen Westgrenze (Art. I) sowie aufgrund der Perspektive einer engeren Zusammenarbeit, zumal auf wirtschaftlichem Gebiet, polnischem Interesse. Aber er ließ wegen des unüberbrückbaren Systemgegensatzes wenig Raum, die gegenseitigen Beziehungen im Sinne freundschaftlicher Nachbarschaft weiter auszubauen. Zudem stand der Vertrag nach Rechtsauffassung der Bundesregierung unter dem Vorbehalt einer künftigen Friedensregelung für Gesamtdeutschland, was konkret bedeutete, dass nach vollzogener Wiedervereinigung mit Polen ein seine Westgrenze völkerrechtlich sichernder Grenzvertrag abgeschlossen werden musste. Diese vertragliche Grenzbestätigung nach vollzogener deutscher Einheit erfolgte am 14. November 1990, und erst sie machte den Weg frei für den Vertrag über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“.

Politische Verständigung basiert auf Versöhnung

Eine wesentliche Grundlage des Vertrages bildet – wie die Präambel anmerkt – der Wunsch unserer „beiden Völker nach Versöhnung und Verständigung“. Er fand bereits seinen Ausdruck im Kontext des Warschauer Vertrages von 1970 durch den Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Warschauer Ghettodenkmal. Diese Demutsgeste bildet gleichsam die politische Antwort auf den Versöhnungsbrief der polnischen Bischöfe von 1965 sowie eine notwendige Ergänzung zur damaligen Entgegnung der deutschen Bischöfe. Denn mit seinem Kniefall hat Willy Brandt deutlich gemacht, dass eingedenk der belasteten deutsch-polnischen Vergangenheit eine politische Verständigung der moralischen Grundlage einer Versöhnung bedarf, um auf Dauer Bestand zu haben. Dieser unlösliche Zusammenhang zwischen Versöhnung und Verständigung fand am 12. November 1989 zeitgleich zum Fall der Berliner Mauer während der Kreisauer Versöhnungsmesse im Austausch des liturgischen Friedenswunsches zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Premier Tadeusz Mazowiecki seine Bekräftigung. Auch in den Folgejahren fehlte es nicht an symbolischen Gesten guter Nachbarschaft durch ranghohe Politiker beider Seiten. Der Symbolwert solcher Gesten kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie verpflichten allerdings zu einer entsprechenden Politik wechselseitiger Verständigung und Interessenwahrung, zu welcher der Partnerschaftsvertrag die Grundlage bildet.

Die Lösung der Minderheitenfrage

Die politische Führung im kommunistischen Polen hatte konsequent die Existenz einer deutschen Minderheit geleugnet und die sich deutsch fühlenden Oberschlesier einem starken Polonisierungsdruck ausgesetzt. Es versteht sich daher, dass die Minderheitenfrage in den Verhandlungen über den Nachbarschaftsvertrag von 1991 eine besondere Rolle spielte. Ihr Gewicht lässt sich daran ermessen, dass sie im Vertrag mit den umfangreichen und sehr detaillierten Artikeln 20-22 den weitaus größten Raum einnimmt. Während die polnische Seite die lange geleugnete Existenz einer deutschen Minderheit nunmehr anerkannte und ihr die ihr zukommenden Rechte garantierte, verpflichtete sich die deutsche Seite, „Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen“, die gleichen Rechte zu gewähren, wie sie der Vertrag der deutschen Minderheit garantiert. In einem dem Vertrag beigegebenen Briefwechsel erklärte die polnische Seite allerdings einschränkend, dass sie „derzeit keine Möglichkeit (sieht)“, der deutschen Minderheit die „Zulassung offizieller topographischer Bezeichnungen [...] in deutscher Sprache“ zu ermöglichen.

Trotz der umfangreichen Rechtsgarantien zeigten sich weder die in der Bundesrepublik lebenden Polen, noch die deutsche Minderheit in Polen mit den vertraglichen Vereinbarungen voll zufrieden. Die polnische Seite bemängelt bis heute, dass ihr der rechtliche Status einer Minderheit versagt wurde, der ihr nach Auffassung der Bundesrepublik nicht zukommt, weil es sich bei den in Deutschland lebenden Polen nicht wie bei den Oberschlesiern um eine autochthone Gruppe in einem traditionellen Siedlungsgebiet handle. Bislang scheiterte die polnische, auch im Zusammenhang mit dem diesjährigen Jubiläum erneut erhobene Forderung, den in der Bundesrepublik lebenden, weit über eine Million zählenden Polen den Minderheitenstatus zukommen zu lassen.

Die deutsche Minderheit hielt sich ihrerseits nicht an die im Briefwechsel festgelegte Einschränkung. So tauchten bald in einigen von Deutschen mehrheitlich bewohnten Orten in Oberschlesien bislang versteckte Denkmäler wieder auf, und neben den polnischen Ortsbezeichnungen wurden deutsche Namensschilder angebracht. Diese Eigenmächtigkeit führte zeitweise zu lokalen Spannungen, deutschfeindlichen Attacken in der Presse und einer politischen Verstimmung auf Regierungsebene. Dass sich die Situation letztlich beruhigte, ist vor allem dem Oppelner Bischof Alfons Nossol zu verdanken. Selbst zweisprachig und bereits zur kommunistischen Zeit ein Förderer der deutschen Minderheit, verstand er es mit seiner persönlichen Autorität und pastoralen Klugheit, die Gemüter zu beruhigen und ein relativ konfliktfreies Zusammenleben der unterschiedlichen ethnischen Gruppe in seinem Bistum sicherzustellen. Neben zahlreichen anderen Ehrungen wurde ihm 2010 in Würdigung seiner Verdienste um die deutsch-polnische Versöhnung sowie für die in Europa beispielhafte Integration von Minderheiten der Deutsche Nationalpreis verliehen.

Die Wiederentdeckung des deutschen Kulturerbes in seiner Bedeutung für Versöhnung und Identität

Artikel 28.1 des Partnerschaftsvertrages enthält die Verpflichtung, „bei der Erhaltung und Pflege des europäischen Kulturerbes“ zusammenzuarbeiten und „sich für die Denkmalpflege“ einzusetzen. Die Bedeutung dieser Absprache kann man nur ermessen, wenn man sich die Situation in den 1945 von den Deutschen durch Flucht und Zwangsausweisung verlassenen Gebieten, den Zustrom der aus ihrer Heimat vertriebenen Ostpolen sowie die Integrationspolitik des kommunistischen Regimes vor Augen hält. Die Ankömmlinge aus dem Osten kamen in ein ihnen fremdes Land. Sie taten sich schwer, Wurzel zu schlagen. Die Politik der „Wiedergewonnenen Gebiete“ negierte die Jahrhunderte deutscher Besiedlung und Kultur. Nicht nur die Namen der Ortschaften wurden polnisch, auch das, was an kulturellen Gütern vorhanden war, wurde entweder im Sinne einer Polonisierung umgedeutet, dem Verfall preisgegeben oder schlicht beseitigt. Damit war die polnische Bevölkerung in den ehemals deutschen Gebieten dazu verurteilt, in einem gleichsam geschichtslosen Raum zu leben. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich schwerlich ein Gefühl von Heimat und regionaler Identität herausbilden.

Mit dem Epochenjahr 1989 änderte sich diese Situation grundlegend. Der neue demokratische, sich Europa öffnende polnische Staat setzte der Geschichtsfälschung vergangener Jahrzehnte ein Ende. Damit begann in den ehemals deutschen Gebieten ein Prozess der Wiederentdeckung des deutschen Kulturerbes.(1) Er erleichterte den jetzigen polnischen Bewohnern die heimatliche Verwurzelung, prägte entscheidend ihre lokale und regionale Identität und begünstigte zugleich die Versöhnung der deutschen Vertriebenen mit dem Schicksal ihres Heimatverlustes. Sie konnten ihre einstige Heimat nach Jahrzehnten wieder aufsuchten und sich für die Rettung vom Verfall bedrohter Kulturgüter einsetzten. An die Stelle der Geschichtsvergessenheit in der kommunistischen Nachkriegszeit trat eine regionale Gedächtniskultur, die als eine neue niederschlesische Identität der jetzigen polnischen Bevölkerung gelten kann.

Deutsch-polnische Interessengemeinschaft im europäischen Kontext

Erstmals sprach, noch vor Abschluss des Vertrages, der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski am 22. Februar 1990 auf dem deutsch-polnischen Forum von einer „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“. Die Bedeutung dieser Aussage lässt sich nur ermessen, wenn man sie auf dem Hintergrund eines dreihundertjährigen deutsch-polnischen Antagonismus betrachtet. Dieser nahm seinen Anfang mit der Zeit der polnischen Teilungen, an denen bekanntlich Preußen beteiligt war, setzte sich fort über den Revisionismus der Weimarer Republik mit ihrer politischen Ausrichtung auf die Rückgewinnung der aufgrund des Versailler Vertrages verlorenen Ostgebiete, verstärkte sich extrem durch den für Polen verheerenden Zweiten Weltkrieg, bestimmte die Nachkriegszeit aufgrund der Weigerung der Bundesrepublik, die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich anzuerkennen, und fand erst mit dem Grenz- und Nachbarschaftsvertrag sein Ende. Dabei ist zu bedenken, dass die deutsch-polnische Interessengemeinschaft gemäß des Partnerschaftsvertrages in einem europäischen Zusammenhang zu sehen ist. Ihre Europäisierung ist die unverzichtbare Sicherung vor einem Rückfall in den mühsam überwundenen Antagonismus. Nicht umsonst betonen daher in der Präambel die Vertragspartner die Bedeutung, welche „die politische und wirtschaftliche Heranführung der Republik Polen an die Europäische Gemeinschaft für die künftigen Beziehungen der beiden Staaten“ hat. Der Vertrag belässt es nicht bei diesen Absichtserklärungen. In Art. 8 verpflichtet sich die Bundesrepublik, Polen auf dem Weg in die Europäische Gemeinschaft „im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Kräften“ zu fördern (Art. 8, 2). Und den Artikel abschließend heißt es: „Die Bundesrepublik steht positiv zur Perspektive eines Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Gemeinschaft, sobald die Voraussetzungen dafür gegeben sind“ (Art. 8, 3). Die Bundesregierung ist in all den Jahren im polnischen wie im eigenen Interesse ihrer aus dem Vertrag resultierenden Verpflichtung nachgekommen und hat sich als entschiedene Befürworterin der Aufnahme Polens in die europäischen Institutionen erwiesen. Am 1. Mai 2004 war mit der Aufnahme Polens in die Europäische Gemeinschaft dieses wesentliche Ziel deutsch-polnischer Interessengemeinschaft erreicht.

Streit um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ und die „Preußische Treuhand“

Die deutsch-polnische Interessengemeinschaft ist ein Schatz von hohem Wert, der stets gefährdet ist und den es daher zu hüten und zu pflegen gilt. Das ist in den vergangenen 25 Jahren nicht immer gelungen. Während für das erste Jahrzehnt des Vertrages über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ eine uneingeschränkt positive Bilanz gezogen werden kann, zeigten sich mit Beginn des neuen Jahrtausends Unstimmigkeiten in den deutsch-polnischen Beziehungen, welche die Interessengemeinschaft in Frage stellten und den Partnerschaftsvertrag einer Belastungsprobe aussetzten. Beide Seiten hatten es versäumt, sich neue gemeinsame Ziele zu setzen, nachdem sich die Dynamik der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft mit der EU-Aufnahme Polens weitgehend erschöpft hatte. Zudem wurde das dem Vertrag zugrunde liegende Prinzip von Konsultation und Kooperation in seiner Bedeutung präventiver Konfliktbewältigung nicht ausreichend beachtet.

Die in den 1990er Jahren von deutschen und polnischen Staatsmännern gemeinsam gepflegte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hätte es nahe gelegt, sich über die Art und Weise eines Gedenkens an das Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen zu verständigen. Dies ist leider nicht geschehen. So kam es, nachdem Anfang 2000 die Initiative des Bundes der Vertriebenen (BdV) zur Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ bekannt wurde, zu einem sich über Jahre hinziehenden Konflikt. Nicht nur wenig deutschfreundlich eingestellte polnische Politiker und Journalisten empörten sich, auch höchst angesehene Freunde Deutschlands, wie etwa Władysław Bartoszewski, übten scharfe Kritik, und dies aus einer tiefen Sorge, die deutsch-polnische Versöhnung könne als Teil ihres Lebenswerkes Schaden nehmen, falls alte Wunden wieder aufbrechen.

Die polnische Seite sah in der BdV-Initiative eine geschichtspolitische Instrumentalisierung. Sie diene – so die Vermutung – nicht nur dazu, den Leiden der Flüchtlinge und Vertriebenen durch die Errichtung eines „Zentrums“ Respekt zu zollen, sondern solle für die Forderung nach Entschädigung und Eigentumsrückgabe in Anspruch genommen werden. Dass diese Sorge berechtigt war, sollte sich zeigen, als auf Initiative der Landsmannschaft Ostpreußen eine „Preußische Treuhand“ gegründet wurde. Ihre Initiatoren beriefen sich ausgerechnet auf den deutsch-polnischen Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag, zu dem beide Seiten in dem beigefügten Briefwechsel erklärtet hatten, dass sich der Vertrag „nicht mit Vermögensfragen“ befasst. Die Preußische Treuhand interpretierte dies dahingehend, die Vermögensfragen seien demnach offen und bedürften – natürlich im Sinne der Ansprüche der Vertriebenen – einer abschließenden Klärung.

Obgleich die von Gerhard Schröder wie auch die von Angela Merkel geführte Bundesregierung unmissverständlich gegenüber Polen erklärt hatte, die Initiative der Preußischen Treuhand nicht zu unterstützen, sich selbst einige Vertriebenenorganisationen von ihr distanzierten und Rechtsexperten sie als chancenlos einstuften, löste sie doch in unserem Nachbarland scharfe, ja empörte Reaktionen aus. Als die Preußische Treuhand ihre Absicht bekundete, die Vertriebenenansprüche vor dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte einzuklagen, verabschiedete der polnische Sejm am 10. September 2004 nach einer äußerst emotional geführten Debatte fast einstimmig eine Resolution, in der die damals von einem postkommunistischen Linksbündnis angeführte Regierung aufgefordert wurde, mit der Bundesregierung über eine Entschädigung für die im Zweiten Weltkrieg erlittenen materiellen Schäden zu verhandeln. Dem stand zwar der am 23. August 1953 seitens der polnischen Regierung ausgesprochene Verzicht auf Reparationen entgegen, doch Jarosław Kaczyński, Chef der national-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit (PiS), argumentierte, der damalige Beschluss sei nicht rechtskräftig, weil er nicht von einer souveränen Regierung getroffen, sondern auf Druck der Sowjetunion zustande gekommen sei. Zwillingsbruder Lech, zu der Zeit Warschauer Stadtpräsident, ließ schon einmal vorsorglich die Warschau betreffende Schadenssumme errechnen. Derlei Forderungen wurden durch eine vom national-konservativem Lager ins Leben gerufene „Polnische Treuhand“ propagandistisch unterstützt, die sich sogar für eine Neuverhandlung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages aussprach.

Die Gemüter beruhigten sich wieder, als der Europäische Gerichtshof am 7. Oktober 2008 die von der Ostpreußischen Landsmannschaft eingereichte Klage abwies.

Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, den Streit um das vom BdV geplante „Zentrum“ beizulegen. So beschloss die von Angela Merkel geführte schwarz-rote Koalitionsregierung 2005, mit der Schaffung eines, die polnischen Bedenken berücksichtigenden „Sichtbaren Zeichens“ die Initiative des BdV ihrerseits aufzugreifen. Es dauerte jedoch bis 2008, ehe mit dem Regierungsantritt von Donald Tusk und seiner liberal-konservativen „Bürgerplattform (PO) die polnische Regierung ihren Widerstand gegen das Projekt aufgab. Dass damit allerdings nicht sämtliche Schwierigkeiten ausgeräumt sind, zeigen anhaltende Konflikte innerhalb der zur Umsetzung des Regierungsbeschlusses inzwischen gegründeten unabhängigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Kontroverse Positionen im wissenschaftlichen Beirat führten beispielsweise dazu, dass namhafte tschechische und polnische Historiker aus dem Gremium ausschieden.

In Polen wurde diese Entwicklung als Wandel deutscher Gedächtniskultur von einem Täter- zu einem Opferbewusstsein wahrgenommen, zumal über fünfzig Jahre nach Kriegsende mit einem Male die Erinnerung an die Opfer alliierter Luftangriffe sowie an die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten gleichsam explosionsartig ausbrach und in zahlreichen Fernsehdokumentationen, Buchveröffentlichungen und Zeitschriftenbeiträgen ihren Niederschlag fand.

Eine Phase politischer Abkühlung

Die dargelegten Belastungen in den deutsch-polnischen Beziehungen trugen das Ihre dazu bei, dass sich in Polen eine wenig deutschfreundliche Stimmung verbreitete und im Herbst 2005 die diese Stimmung befördernde national-konservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) als Siegerin aus den Parlamentswahlen hervor ging. Erschwerend kam noch hinzu, dass sich fast zeitgleich mit den Wahlen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Präsident Władysław Putin über den Bau einer Ostsee-pipeline verständigten, ohne dass dieses Projekt mit Polen abgesprochen worden wäre. Nicht allein die politische Rechte sah in diesem Vorgehen eine mit einer ehrlichen Partnerschaft und mit dem Geist des Vertrages von 1991 unvereinbare Geringschätzung Polens und seiner Interessen. Die zwischen Deutschland und Russland vereinbarte, Polen umgehende Gaszufuhr weckte denn auch die im polnischen kollektiven Bewusstsein tief verankerte Angst vor einer deutsch-russischen Verständigung auf Kosten Polens. So wurde dieser Ostsee-pipeline-Vertrag mit dem 1939 kurz vor dem Überfall auf Polen abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt verglichen.

Von einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft konnte jedenfalls mit Übernahme der Regierungsverantwortung durch „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) keine Rede sein. Die neue Regierung maß denn auch dem deutsch-polnischen Verhältnis eine nur geringe Bedeutung bei. Die durch den Nachbarschaftsvertrag begründete deutsch-polnische Interessengemeinschaft sei in Wahrheit eine Preisgabe polnischer Interessen. Jarosław Kaczyński charakterisierte sogar die Deutschlandpolitik seiner Vorgängerregierungen – und dies in einem ausgesprochen negativen Sinn – als „Versöhnungspolitik“ und rührte damit an das Fundament des Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrages.

Während auf der diplomatischen Ebene die deutsch-polnischen Beziehungen stagnierten, trugen die Medien beiderseits der Oder das Ihre zu einer deutsch-polnischen Eiszeit bei. Die deutsche Regierung war in dieser Phase bemüht, kein Öl ins Feuer zu gießen. Sie hoffte auf bessere Zeiten, die denn auch nach den vorgezogenen Wahlen vom Oktober 2007 mit dem Sieg der liberal-konservativen „Bürgerplattform“ (PO) und dem Regierungsantritt von Donald Tusk anbrach, der im Wahljahr 2005 von den Kaczyński-Brüdern wegen seiner Deutschfreundlichkeit scharf attackiert worden und im Kampf um das Präsidentenamt Lech Kaczyński unterlegen war.

Donald Tusk wusste sich der von Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki vorgezeichneten Linie einer Politik auf der Basis der Versöhnung verpflichtet, die indes bestehende Probleme nicht ausspart, aber bemüht ist, sie einvernehmlich zu lösen. So waren denn auch die deutsch-polnischen Beziehungen während der zwei Wahlperioden (2007 – 2015), in denen die „Bürgerpattform“ (PO) in Koalition mit der Bauernpartei (PSL) Polen regierte, gemäß des Vertrages von „guter Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit“ bestimmt.

Ein Ende der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft?

Ausgerechnet im Jubiläumsjahr des 25jährigen Bestehens des Nachbarschaftsvertrages stellt sich die Frage, ob mit der seit Herbst 2015 nach einem Jahrzehnt erneut und diesmal allein regierenden Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die durch den Vertrag begründete deutsch-polnische Interessengemeinschaft ihr Ende gefunden hat. Offiziell aufgekündigt wurde sie zwar nicht. Die Staatsbesuche aus diesem Anlass – Andrzej Duda in Schloss Bellevue, Joachim Gauck in Warschau sowie Beata Szydło bei Angela Merkel in Berlin – vermittelten sogar den Anschein von Normalität. Man sprach sich für eine weitere enge Zusammenarbeit aus und betonte ihre Wichtigkeit als Fundament der Europäischen Union. In einem Interview zog zudem der polnische Außenminister Witold Waszczykowski eine durchaus positive Bilanz des Nachbarschaftsvertrages: So habe dieser „dazu beigetragen, dass Polen sich in den europäischen Strukturen fest verankern konnte.“ Er hob das Verdienst der Bundesrepublik hervor, Polen auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft „in der Praxis unterstützt“ zu haben. Gefragt nach den Defiziten in den beiderseitigen Beziehungen begnügte sich der Außenminister mit der immer wieder erhobenen Forderung nach einem Minderheitenstatus der in der Bundesrepublik lebenden Polen sowie nach Rückerstattung von Kulturgütern, die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen geraubt wurden, deren Ermittlung sich jedoch als äußerst schwierig darstellt. Auffällig ist allerdings, dass Waszczykowski auf die direkte Frage, ob „man noch, wie 1991, von einer deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft sprechen“ könne, die Antwort schuldig blieb. Er verwies lediglich auf die in der Tat engen Wirtschaftsbeziehungen und die Partnerschaft in der NATO. Den Begriff „Interessengemeinschaft“ benutzte er indes bewusst nicht.(2)

Derlei Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um von einem möglichen Ende deutsch-polnischer Interessengemeinschaft zu sprechen. Dazu ist eine Analyse der politischen Konzeption der PiS-Regierung erforderlich, die ihrem innen- wie außenpolitischen Handeln zugrunde liegt.

Mit ihrer Regierungsübernahme setzte die Kaczyński-Partei neue, sich von der Vorgängerregierung deutlich abhebende Prioritäten. So äußerte sich Jarosław Kaczyński, der ohne ein Regierungsamt zu bekleiden die Geschicke Polens bestimmt, kurz nach der gewonnenen Parlamentswahl, er sehe innerhalb der EU nicht in Deutschland, sondern in Großbritannien Polens engsten Partner. Die Art und Weise, wie die britische Regierung gegenüber der Europäischen Kommission ihre Interessen vertrete, sei vorbildlich für Polen. Doch zu einem „Polexit“ will es Kaczyński, wie er nach dem „Brexit“ erklärte, nicht kommen lassen. Nicht ein Austritt aus der EU ist sein Ziel, sondern ihre Reform in Richtung auf eine Union der Vaterländer unter weitgehender Wahrung der eigenen Souveränität, also eine Konzeption, die anstelle einer fortschreitenden Integration der Mitgliedstaaten auf eine Desintegration der Europäischen Union hinausläuft. Auf diesem Hintergrund ist der gegenwärtige Konflikt der polnischen Regierung mit der Europäischen Kommission zu verstehen. So beschreitet sie gegen alle Einwände und Warnungen der Europäischen Kommission unter Verletzung der für eine Zugehörigkeit zur EU unbedingt erforderlichen Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien konsequent den Weg zu einer „souveränen Demokratie“(3) und verabschiedet unter Missachtung der Rechte der Opposition die dazu dienlichen Gesetze.

Der Politologe Aleksander Smolar kommt in seiner Analyse des politischen Konzepts von Kaczyński zu dem Schluss, dass sich dieses „an den geopolitischen Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen“ orientiere. Es ist jene geschichtliche Epoche der folgenschweren, zu zwei verheerenden Kriegen führenden Kämpfe zwischen den Nationalstaaten, in denen „die Großen die Kleinen dominieren wollen und die Kleinen Koalitionen gegen die Großen bilden.“ Obgleich sich die Europäische Union als Überwinderin eben dieser Geschichtsepoche und als Garant einer dauerhaften europäischen Friedensordnung begreift, sehe Kaczyński in der EU eine Institution, in der die Kleinen weiterhin von den Großen dominiert würden. Daraus resultiere, so Smolar, sein „Widerwille gegen Deutschland“ sowie sein Bemühen, „Widerstand gegen das stärkste Land in Europa zu organisieren.“(4)

Gemäß dieser politischen Konzeption scheint die PiS-Regierung wenig Interesse an der Belebung des Weimarer Dreiecks einer engen Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen zu haben; dafür aber an einer Intensivierung der Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn umfassenden Visegrád-Gruppe, und dies mit der Perspektive ihrer Vergrößerung um weitere kleinere EU-Mitgliedstaaten.

Unterstützt wird diese gegen die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Gestalt gerichtete und auf weitgehende nationale Eigenständigkeit bedachte Politik von „Recht und Gerechtigkeit“ durch den überwiegenden Teil der polnischen Bischöfe und ihres Klerus. Und dies aufgrund der Erfahrung, dass die von den „liberalen“ Demokratien der EU ausgehende Säkularisierung mit ihren negativen Folgen für die Kirche zunehmend auch die polnische Gesellschaft erfasst hat. Gegenüber dieser Entwicklung verspricht man sich von der die Einheit von Nation und Christentum betonenden national-konservativen Regierung die Förderung einer religiös-nationalen Erneuerung. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Predigt des Bischofs von Płock, Piotr Libera, während eines Gottesdienstes im Gedenken an die Arbeiterproteste von Radom im Juni 1976, in der er u. a. sagte: „In den letzten Tagen und Wochen beobachten wir, wie eine so genannte moderne Demokratie hier im Land sowie im geistig verlorenen Westen vor Polen in Angst geriet. Es geht schließlich nicht um diese oder jene Verfassungsgerichte, sondern um dieses Polen, um das seine Identität im Christentum erneuernde Polen, das mit dem Glauben und den Hoffnungen des einfachen Menschen solidarisch ist, das sich um Heilung des Unrechts und der Ungerechtigkeiten seitens des Ostens wie des Westens, seitens der eigenen Eliten und Banker sorgt.“(5)

Die deutsch-polnische Interessengemeinschaft ist, um die Frage nach ihrem möglichen Ende abschließend zu beantworten, weniger durch die bilateralen Beziehungen gefährdet, sondern prinzipiell, aufgrund der faktischen Aufkündigung ihrer Einbettung in die Rechtsordnung der EU, deren Grundlage die polnische Regierung durch die Verletzung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in Frage stellt.

Erstveröffentlichung: imprimatur 3/2016

(1)Vgl. die umfassende Untersuchung des von Zbigniew Mazur herausgegebenen Sammelbandes „Das deutsche Kulturerbe in den polnischen West- und Nordgebieten“, Wiesbaden 2003, S. 296

(2)„Einige Aspekte unserer Zusammenarbeit müssen wir kritisch betrachten“. DIALOG-Gespräch mit Witold Waszczykowski, dem Außenminister der Republik Polen, Dialog. Deutsch-polnisches Magazin, Nr. 115, 01/2016, S. 28.

(3)Zum Begriff der „souveränen Demokratie“ vgl. meinen Beitrag „Die polnische Regierung vollzieht einen Systemwandel“, in: imprimatur 1/2016, Anm. 3.

(4) Reinold Vetter, Säbelrasseln? Polen und der NATO-Gipfel, Polen-Analysen Nr. 185 v. 05. 07. 2016, S. 3.

(5) Tomasz Dybalski, Jak można popierać lewacką politykę multikulti (Wie kann man eine linke Multikulti-Politik unterstützen), Gazeta Wyborza v. 25. 06. 2016.

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