Polens Reparationsforderungen an die Bundesrepublik 09. 11 2022
Am 01. September 2022, dem 83. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, versammelten sich die Spitzenpolitiker der regierenden Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Warschauer Königsschloss, einem symbolträchtigen Ort. Vor ausgewählten Journalisten aus aller Welt wurden, was lange erwartet worden war, die Reparationsforderungen für die im Zweiten Weltkrieg von Deutschen verursachten Kriegsschäden an Material und Menschenopfern präsentiert. Zuvor hatte der Sejm mit großer Mehrheit den Antrag angenommen. Von der oppositionellen Bürgerplattform (PO) stimmten lediglich drei Abgeordnete gegen ihn, 15 enthielten sich der Stimme und die übrigen 20 unterstützten den Antrag. Die von der Bundesrepublik eingeforderte Summe beläuft sich auf 6 Billionen, 200 Milliarden Zł, was einem Betrag in Höhe von 1,6 Billionen € entspricht, dem Dreifachen des Bundeshaushaltes.
Falsche Behauptungen
Der Rapport enthält ein Vorwort von Parteichef Jarosław Kaczyński. Er suggeriert wahrheitswidrig, dass sämtliche Vorgängerregierungen aus der Zeit der kommunistischen Volksrepublik wie die des demokratischen Polens nach 1990 es versäumt haben, sich mit Reparationsforderungen gegenüber Deutschland zu befassen. Das Problem habe erst Fahrt aufgenommen, als seine Partei an die Macht kam. Tatsächlich hat es, wie zu zeigen ist, eine ganze Reihe solcher Anläufe gegeben.
Falsch ist auch Kaczyńskis Feststellung, die Bundesrepublik habe, während Polen leer ausgegangen sei, an über 70 Staaten Reparationen geleistet. Diese hohe Zahl kann schon deswegen nicht stimmen, weil sich Nazideutschland nicht mit derart zahlreichen Ländern im Kriegszustand befand. Hier verwechselt er Reparationen offenbar mit Zahlungen an die in aller Welt verstreuten Holocaustopfer.
Auch die Behauptung, die an die UdSSR verlorenen polnischen Ostgebiete seien mehr wert gewesen als die Polen zugesprochenen deutschen Ostgebiete ist falsch und das Gegenteil wahr. Nach Meinung des polnischen Journalisten Witold Gadomski seien die deutschen Kriegsschulden bereits durch die deutschen Ostgebiete getilgt, die Polen nach Kriegsende zugesprochen wurden. Immerhin handele es sich um eine im Unterschied zu Ostpolen zivilisatorisch hoch entwickelte Fläche in der Größenordnung eines Drittels des heutigen Territoriums des polnischen Staates.
Offizielle Erhebung der Reparationsforderungen
Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, erhob die polnische Regierung mit einer entsprechenden, an das Auswärtige Amt gerichteten Note offiziell ihre an die Bundesregierung gerichteten Reparationsforderungen. Am Tag darauf nahmen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz Außenminister Zbigniew Rau und seine deutschen Kollegin Annalena Baerbock dazu Stellung. Es sollten, so Rau, beide „Parteien unverzüglich Schritte zu einer dauerhaften, rechtlichen und materiellen Regelung der Folgen der deutschen Aggression und Besatzung von 1930 – 1945“ ergreifen.
Außenministerin Baerbock wies die polnischen Forderungen entschieden zurück. Die Reparationsfrage sei aus deutscher Sicht längst geklärt. Für sie gäbe es keine rechtliche Grundlage.[1] Im Übrigen sei sie angesichts der Herausforderungen des von Putin gegen die Ukraine geführten Vernichtungskrieges höchst unpassend. Zwar stehe Deutschland „ohne Wenn und Aber“ zu seiner politischen Verantwortung, für die es keinen Schlussstrich geben könne, doch sie sei im Rahmen der Europäischen Union anders wahrzunehmen als durch Zahlung von Reparationen.
Trotz dieser deutlichen Absage zeigte sich der polnische Außenminister überzeugt, dass sich die Position der deutschen Regierung bewegen werde.
Die Geschichte polnischer Reparationsforderungen
Das Problem polnischer Reparationsforderungen hat eine lange und verwickelte Geschichte. Als erste ergriff die Londoner Exilregierung 1942 die Initiative. Ein eigenes Ministerium bereitete den polnischen Standpunkt für eine künftige Friedenskonferenz nach Ende des Zweiten Weltkriegs vor und ermittelte dazu die polnischen Kriegsschäden, die auf 60 Milliarden Vorkriegszłotych geschätzt wurden. Am 6. 12. 1944, noch vor Beendigung des Krieges, richtete die polnische Übergangsregierung ein eigenes Büro ein, das die Kriegsverluste Polens auf 240 Milliarden Zł. bezifferte. Im Potsdamer Abkommen von 1945 hatte sich die Sowjetunion verpflichtet, aus den von ihr besetzten deutschen Gebieten Reparationen an Polen in der Größenordnung von 15% zu entrichten. In Wahrheit beutete die UdSSR diese Gebiete für sich aus, ohne dass Polen davon einen nennenswerten Nutzen hatte. Experten sprechen daher davon, dass Polen diese „Reparationen“ selbst bezahlt habe., etwa durch die endlosen aus Oberschlesien nach Osten rollenden Kohlenzüge.
In Hinblick auf die Londoner Außenministerkonferenz im Januar 1947 befasste sich das eigens eingerichtetes polnische Büro mit der Entschädigung der Kriegsschäden.
1953 verzichtete das kommunistische Polen allerdings auf Reparationsleistungen, und dies unter Hinweis darauf, „dass Deutschland seinen Verpflichtungen bereits im bedeutenden Maße nachgekommen ist und dass eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse einer friedlichen Entwicklung liegt.“ Die polnische Regierung bestätigte diesen Verzicht auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen, wie dies aus einem Protokoll hervorgeht. Doch sie macht bis heute geltend, dass dies auf sowjetischem Druck geschah und daher rechtlich nicht bindend sei – ein Argument, das kaum vor dem Haager Internationalen Gerichtshof Bestand haben dürfte.
Nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bunderepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen berief letzter 1973 die „Kommission zur Erarbeitung des Problems deutscher Entschädigungen“.
2004 wurde die Reparationsfrage zu einem deutsch-polnischen Politikum. Die ostpreußischen Vertriebenen hatten über die von ihnen gegründete „Treuhand“ gegenüber Polen ihre Ansprüche auf ihre ehemaligen Besitztümer erhoben. Die Polen reagierten empört. Im Sejm kam es zu stürmischen Szenen. Man beschloss, unverzüglich damit zu beginnen, den Wert der von Deutschen verursachten Kriegsschäden zu ermitteln. Es kam zu einer starken Störung der deutsch-polnischen Beziehungen. In dieser Situation reiste Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Warschau und versicherte, dass seine Regierung die Bemühungen der „Treuhand“ in keiner Weise unterstütze und dass sie erfolglos sein würden. Die Wogen glätteten sich wieder, und der polnische Ministerrat bestätigte am 19. Oktober 2004 die Verzichtserklärung von 1953. Doch aus dieser Phase stammen immerhin zwei Bände an Materialien zum „Problem der Reparation, der Entschädigung und der Zahlungen bezüglich der deutsch-polnischen Beziehungen 1944-2004“. Damals beliefen sich die polnischen Forderungen auf 258 Milliarden Zł., etwa 48,8 Milliarden Dollar, eine Summe, die weit unter der liegt, die heute von der polnischen Regierung gefordert wird.
Eine letzte Möglichkeit, gegenüber der Bundesrepublik Reparationsforderungen geltend zu machen, wären die zum 2+4-Vertrag führenden Verhandlungen gewesen, mit denen die mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen Probleme endgültig geregelt wurden. Doch Reparationsforderungen spielten in diesem Rahmen keine Rolle.
Dass Reparationsforderungen, aufs Ganze gesehen, weder für das kommunistische, noch für das demokratische Polen nach 1989 von erstrangiger Bedeutung waren, hat seinen Grund in der Grenzfrage, die für Polen absolute Priorität besaß. Es bedurfte auf deutscher Seite eines längeren und spannungsreichen politischen Bewusstseinsprozesses, ehe die deutsche Bundesregierung ihre Zustimmung zur völkerrechtlichen Gültigkeit der Oder-Neiße-Grenze durch den Warschauer Grundlagenvertrag und endgültig als Ergebnis der 2+4-Vertrages erteilte. Auf dieser Basis erwies sich, was mehr wert ist, als alle Reparationen, die Bundesrepublik als Anwalt für die Aufnahme Polens in de NATO sowie in die Europäische Union, wodurch beide Seiten jahrzehntelang von den guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die nun durch die neuerlichen Reparationsforderungen und die sie begleitenden deutschfeindlichen Aussagen von PiS-Politikern Schaden erleiden können.
Reparationsforderungen als Wahlkampfmunition?
Nach all dem überrascht es denn doch, dass 2017 der Sejm eine vom Abgeordneten Mularczyk geleitete „Parlamentarische Kommission zur Schätzung der Höhe der Polen gebührenden Entschädigung für die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden“ berufen wurde. Ergebnis ihrer fünfjährigen Arbeit sind drei am 1. September vorgestellte umfangreiche Bände und die von Deutschland geforderte Zahlung jener astronomischen Summe. Entspringt diese Initiative einem Wunschdenken oder ist sie das Ergebnis politischer Kalkulation?
Dass die deutsche Seite diese Forderung zurückweisen werde, dürfte der polnischen Regierung wohl klar gewesen sein. Schließlich gab es bereits 2017 das vom Deutschen Bundestag bei ihrem wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegebene Gutachten, das die polnischen Verzichtserklärung als Begründung für die Abweisung der Reparationsforderungen anführt und dabei den von polnischer Seite angegebenen Grund für die Verzichtserklärung von 1953 zitiert: Deutschland sei „bereits im bedeutenden Maße“ seinen Verpflichtungen nachgekommen. Zudem gehe es um die „Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland im Interesse einer friedlichen Entwicklung.“
Ob die PiS-Regierung versuchen wird, ihre Ansprüche beim Haager Internationalen Gerichtshof einzuklagen, ist eher unwahrscheinlich. Allein schon die Verzichtserklärungen lassen eine solche Klage 77 Jahre nach Kriegsende chancenlos erscheinen. Warum aber dann dieser Aufwand? Kommentatoren sehen den Grund vor allem darin, sich durch Anheizen einer antideutschen Stimmung den Wahlsieg im Herbst 2023 zu sichern. So überbieten sich derzeit in Zusammenhang mit den Reparationsforderungen PiS-Leute mit antideutscher Hetze: Über mehrere Generationen sollen die Deutschen auf den Knien um Vergebung bitten für ihre im Krieg begangenen Verbrechen und das Geld fließen lassen. Und Parteichef Kaczyński wird nicht müde zu betonen, die Deutschen wollten mit ihrem Einfluss in der Europäischen Union Polen vernichten. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Sieci“ sagte er mit Blick auf die Auseinandersetzungen der polnischen Regierung mit der EU-Kommission, ihr Ziel sei nicht die Verteidigung europäischer Rechtstaatlichkeit, sondern die Demontierung der Rechtstaatlichkeit in Polen. „Man versucht, uns die Freiheit, die Souveränität zu nehmen und noch dazu uns auszurauben. Es ist höchste Zeit, daraus Schlüsse zu ziehen.“ Und an anderer Stelle behauptet er allen Ernstes, Deutschland sei für Polen eine größere Bedrohung als Russland. Und das angesichts von Putins Vernichtungskrieg gegen den ukrainischen Nachbarn. Der Journalist Wieliński sieht denn auch in den Reparationsforderungen „nichts anderes als eine auf den Gräbern der vom Dritten Reiches verursachten Opfer und der auf den Ruinen der von den Deutschen zerstörten polnischen Städte geführte Wahlkampagne.“
[1] Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 28. August 2017 listet die entsprechenden Argumente auf, die belegen, warum es für polnische Reparationsforderungen keine rechtliche Grundlage gibt.
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