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Trägt die russische Kultur am Ukrainekrieg eine Mitschuld? 01. 11. 2022


Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat den Kulturbetrieb in den westlichen Demokratien hart getroffen. Es kam zu einer Vielzahl von Ausladungen russischer Künstler. Betroffen waren u. a. zwei namhafte Dirigenten, Pavel Sorokin vom Londoner Royal Opera House sowie Valery Sergiev von den Münchener Philharmonikern, die sich als Ensemble gegen seinen Auftritt ausgesprochen hatten. Die Deuche Oper in Bonn zog ihre Einladung an Dimitry Bartman, den Intendanten der Moskauer Helekon-Oper zurück. Und in Augsburg wurde eine Operette von Schostakowitsch abgesagt, weil ukrainische Musiker des Orchesters sich weigerten zu spielen. Dies sind nur einige wenige Beispiele einer förmlichen Welle von Ausladungen russischer Künstler und Absetzung russischer Werke aus Protest gegen Putins zerstörerischen Krieg und als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine.

Wie widersprüchlich die Frage nach einer möglichen Mitschuld russischer Kultur und ihrer Vertreter am Krieg in der Ukraine gesehen wird, zeigt ein Vorgang bei den Filmfestspielen in Cannes. Der Regisseur Serebrennikov trat nach Aufführung seines mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Films „Tschaikowskis Frau“ auf die Bühne, ließ sich ein Mikrophon reichen und sagte unter dem Applaus des Publikums „Nein zum Krieg“. Dabei hatte die ukrainische Filmakademie seinen Ausschluss von den Filmfestspielen gefordert. Und dies obwohl der inzwischen im Exil lebende Serebrennikov in Putins Regime jahrelang unter Hausarrest stand und sein preisgekrönter Film in seiner Heimat nicht auf die Leinwand kommt, weil er die Homosexualität von Tschaikowski thematisiert.

Serebrennikov sprach in Cannes nicht nur sein „Nein zum Krieg“. Auf der Pressekonferenz bedauerte er, dass außer ihm kein weiterer russischer Filmemacher vertreten sei. Er betonte, Kultur und Krieg seien Gegensätze, die sich einander ausschließen, wodurch sich jeglicher Boykott der Kultur verbiete. Sie sei per se gegen jeglichen Krieg gerichtet, vermittle menschliche Werte und fördere die Empathie.

Nicht von jedem wird diese positive Sichtweise geteilt, die im Übrigen einer gründlichen Überprüfung bedarf. So ist die polnische Literaturwissenschaftlerin Renata Lis[1] der Meinung, Serebrenikov, der es unterlassen hatte, deutlich Ross und Reiter beim Namen zu nennen, habe ganz im Geiste der im Westen verbreiteten Ideen des Pazifismus und der Autonomie der Kunst den Sinn der Sanktionen gegen Russland untergraben und die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine relativiert.

Die Frage nach der Verantwortung der russischen Literatur für den Krieg in der Ukraine

Diese Frage bedarf einer näheren Untersuchung. In der Diskussion um die Verantwortung der russischen Literatur für den Ukrainekrieg werden insbesondere zwei ihrer Erscheinungsformen angeführt: Grausamkeit und imperiale Ideen.

Der ukrainische Schriftsteller Oksana Sabuschko erinnert an seine Schullektüre in der UdSSR, an Turgenjews Erzählung „Mumu“, in der ein stummer Leibeigener auf Befehl der Gutsherrin sein von ihm geliebtes treues Hündlein tötet. Von dieser Grausamkeit sei heute die in der Ukraine wütende russische Soldateska bestimmt, die auf Putins Befehl nicht nur Hunde umbringe, sondern wehrlose Alte, Frauen und Kinder.[2]

In der Tat ist die russische Literatur gerade in Hinblick auf die Brutalität, mit der Putin seinen Vernichtungskrieg führt, aufschlussreich. Das ist jedenfalls die Auffassung des polnischen Schriftstellers Janusz Anderman.[3] Er verweist auf Alexander Solschenizyn und seinen Gulag-Bericht „Drei Tage im Leben des Iwan Denissowitsch“, mehr noch auf den weniger bekannten Warlam Schalamow, der in Abständen insgesamt 18 Jahre Lagerhaft erlebt und seine Erfahrungen in sechs Zyklen seiner „Erzählungen aus Kolyma“ dokumentiert hat. Es seien die gleichen Regeln, die im Straflager wie in Putins Krieg zur Geltung kommen, „eine auf der verbrecherischen imperialen Idee basierende Gewalt, der sich der wehrlose Mensch ausgesetzt sieht, der zu Grunde gerichtet werden muss, denn er bildet ein Hindernis bei der Verwirklichung des Ziels.“

Dennoch warnt Renata Lis bei allem Verständnis für die Leiden der ukrainischen Nation vor Übertreibungen: „Die russische Literatur ist wie jede andere Nationalliteratur: Sie bringt verschiedene Gesichtspunkte, verschiedene Ideen und Geisteszustände zum Ausdruck. Man kann sich mit ihr streiten, sie in den jeweiligen Kontexten interpretieren, aber man würde ihr Zwang antun, wolle man sie für Kriegsverbrechen verantwortlich machen.“ Verantwortlich ist jeder einzelne für die von ihm begangenen Untaten, ganz unabhängig von seinem jeweiligen Lesestoff.

Das andere Russland nicht vergessen

Angesichts der Bilder aus Butscha mit den auf den Straßen verstreuten Leichen, die deutliche Spuren von Folter aufweisen, angesichts der erschütternden Berichte vergewaltigter Frauen und ihrer Traumata, angesichts der planmäßigen Zerstörung der Infrastruktur, so dass Alte, Frauen und Kinder ohne Wasser und Strom leben müssen, während der Winter naht, reagieren viele Ukrainer mit Hass und Verfluchung all dessen, was russisch ist. Wer will ihnen das verdenken? Und doch muss man sich um seiner selbst willen vor derlei selbstzerstörerischen Emotionen schützen. Und man muss sich ihrer auch, wie der ukrainische Schriftsteller Jewhen Zacharow meint, um des „anderen Russlands“ willen widersetzen.[4] Denn das gibt es, die 14% Russen, die in den Wahlen gegen Putin gestimmt haben, die 2014 nach der Okkupation der Krim dem patriotischen Rausch nicht verfielen und Putins Krieg verurteilen, die trotz des Risikos ihrer Verhaftung und einer langjährigen Lagerhaft gegen ihn demonstrieren. Seit dem 24 Februar, dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, sind bis Mitte Juni tausende Russen wegen „Diskriminierung der Armee“ verhaftet worden. Und wer es wagt, die Wahrheit über diesen Krieg zu verbreiten, der wird wegen „Falschmeldung“ verklagt und verurteilt. Dieses „andere Russland“, so Zacharow, will uns unterstützen. Aber „es braucht uns. Ich bin sicher, dass Putins Staat bezwungen wird, doch wir müssen dafür sorgen, dass das „andere Russland“ Bestand hat und sich ausweitet, damit es eine bedeutend größere Rolle nach unserem Sieg in dem Staat spielt, der aus den Trümmern des jetzigen Imperialismus neu erwächst.“

Imperiales Ideengut in der russischen Literatur

Neben der Grausamkeit sind imperiale Ideen für die russische Literatur kennzeichnend, und dies bei so unterschiedlichen Schriftstellern wie Dostojewski und Brodsky.

Der polnische Schriftsteller und Literaturhistoriker Stefan Chwin erinnert daran, dass Putin aus Anlass des 200. Geburtstages von Dostojewski am 11. November 2021 dessen in ein Museum umgewandelte Moskauer Wohnung besucht hat. Diese Visite des russischen Präsidenten wurde vom Fernsehen übertragen und in den Medien kommentiert: „Dostojewskis Weltbild ist die Grundlage einer neuen Ideologie unseres Landes.“[5]

Chwin verweist auf eine für Dostojewski lebensprägende traumatische Erfahrung: In jungen Jahren gehörte er einem oppositionellen Zirkel an, wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Als er bereits vor dem Schießkommando stand, sei er vom Zaren durch einen im letzten Augenblick eintreffenden Boten begnadigt und das Todesurteil in Lagerhaft umgewandelt worden. Dies habe seinen Widerstand gegen das Zarentum gebrochen, und Dostojewski sei zu einem Propagandisten der zaristischen Alleinherrschaft geworden. „In der späteren Schaffensphase von Dostojewski wurde er zum Apostel – sagen wir – einer sakralen Expansion Russlands. Sakral, weil es nicht nur um die territoriale Eroberung der Welt durch die russische Armee ging, sondern auch um die auf russische Bajonette gestützte Gute Nachricht von der Errichtung einer besseren Welt, d. h. um die tiefe Überzeugung, dass das imperiale Russland auf Erden der letzte Retter eines wahren, authentischen Christentums ist, das die Menschheit von der `geistigen Fäulnis des Westens` befreit.“[6]

Die sowohl von Putin wie vom Moskauer Patriarchen Kyrill vertretene Auffassung eines von Fäulnis befallenden Westens sowie die Vorstellung von einer, wenn nicht globalen, so doch alle slawischen Völker umfassenden orthodoxen Einheit unter der Ägide Moskaus, des Dritten Roms, sind durch Dostojewski vorgeprägt.

Am deutlichsten vertritt dieses Gedankengut der Kreml-Ideologe Aleksandr Dugin. Als Professor an der Moskauer Militärakademie bekommen die höheren Offiziere diese Weltsicht als Grundlage ihres Denkens und Handelns vermittelt. Und sie hat ökumenische Konsequenzen, denn das wahre Christentum findet sich allein in der Orthodoxie. Entsprechend versteht sich das heutige Russland als Antithese zum westlichen, zumal römischen Christentum. Auch in dieser Hinsicht ist Dostojewski der Ideengeber. Er war in seiner Publizistik geradezu besessen von dem Gedanken, Rom habe an Jesus Verrat geübt, wodurch sich der Westen in eine Gesellschaft falsch verstandener Freiheit verwandelt habe.

Nach dem Gesagten ist es keine Frage, dass Dostojewski neben n deren Inhalten mit seiner orthodox-imperialen Publizistik Putin wie Kyrill eine ideologische Rechtfertigung des Ukrainekrieges liefert. Aber soll man deswegen Dostojewskis Weltruhm genießende Romane nicht mehr lesen, sie auf den Scheiterhaufen werfen?

Einer von dem kaum jemand angenommen hätte, dass er der Idee eines russischen Imperialismus und der daraus resultierenden Feindschaft gegenüber der Ukraine anhängt, ist Josif Brodsky (1940 – 1996). 1940 in Leningrad geboren, fiel er in seiner Jugend wegen seines aufsässigen Veraltens auf, wurde in späteren Jahren als „gesellschaftlicher Parasit“ zu einer langjährigen Lagerhaft verurteilt, kam nach 18 Monaten frei, wurde 1964 ausgebürgert, emigrierte in die USA, wo er 1977 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. 1987 bekam er den Nobelpreis für Literatur.

Alles Sowjetische war Brodsky verhasst. Nicht einmal seine Geburtsstadt nannte er mit Namen, sondern mit dem Initial „P“ – als Zeichen für St. Petersburg. Man sollte daher meinen, dass Brodsky den Zusammenbruch der UdSSR begrüßt und die aus der Konkursmasse hervorgegangenen Staaten akzeptiert hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Den mit dem Ende der Sowjetunion verbundenen Zerfall des Imperiums empfand er vielmehr, ähnlich wie Putin, als persönliche Kränkung. Als sich die Ukraine 1991 für unabhängig erklärte, reagierte Brodsky darauf voller Wut mit dem Schmähgedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“. Der Text sprüht förmlich von Hass. Das Gedicht ist eine einzige Schimpfkanonade. Die Ukrainer werden zu einem primitiven Volk herabgewürdigt. Von „Drecksäcken“ ist die Rede, von „Fritzen“ und „Pollacken“, die den Ukrainern die Ärsche aufreißen sollen, sowie vom Verrat an Russland.

Bezeichnend ist, dass dieser obszöne, von Verunglimpfungen strotzende Text 2014 nach der Annexion der Krim in Russland zum Gedicht des Jahres erklärt wurde. Und es ist ein Stichwortgeber für die bösartige antikukrainische Propaganda, die die Russen tagtäglich im Fernsehen und in den sonstigen staatlichen Medien serviert bekommen.

Das Beispiel Brodsky zeigt zudem, dass selbst in der westlichen Welt geschätzte russische Persönlichkeiten, die aus der Ablehnung des sowjetischen Systems sowie der Alleinherrschaft Putins kein Hehl machen, von der Vorstellung eines die Ukraine integrierenden russischen Großreiches nicht frei sind. Dies gilt u. a. für Solschenizyn[7] und Nawalny, der 2014 die Annexion der Krim ausdrücklich begrüßt hat und auch sonst durch nationalistische Äußerungen aufgefallen ist. „Wir nehmen nicht wahr, dass weder der Märtyrertod im Lager noch die Auflehnung gegen die Autokratie in welcher Form auch immer keine Garantie dafür ist, dass ein russischer Schriftsteller oder Aktivist diesen imperialistischen Rassismus nicht in sich hat.“[8]

Doch weder von Dostojewskis religiös-orthodox geprägtem Imperialismus, noch von Brodskys Schmähgedicht und auch nicht von Solschenizyns Träumen von einem russischen Großreich führt ein direkter Weg zu den Gräueln in Butscha. Andererseits wäre ohne sie ihre Instrumentalisierung nicht möglich, wie sie jahrelang durchaus erfolgreich von Putin betrieben wurde und weiter betrieben wird, um seinen zerstörerischen Krieg beginnen und rechtfertigen zu können. So haben denn, um ein Beispiel zu wählen, die Russen nach Einnahme von Cherson ein überlebensgroßes Porträt von Alexander Puschkin aufgehängt in Erinnerung daran, dass er einmal diese Stadt besucht hat. Wobei anzumerken ist, dass auch dieser bedeutende russische Poet antiukrainische Ideen vertreten hat. In seinem Langgedicht Poltawa erinnert Puschkin an die dortige Schlacht (1709), in der die Kosaken auf Seiten der Schweden gegen die Russen kämpften, die am Ende den Sieg davontrugen. Und die Träume der Ukrainer auf Unabhängigkeit von Russland erfüllten sich nicht.

Auch Brodsky beginnt sein Schmähgedicht mit dem Hinweis auf den schwedischen König Karl XII. und Poltawa. An beiden Beispielen wird deutlich, wie weit der ukrainisch-russische Konflikt in die Geschichte zurückreicht, wie stark und wie gegensätzlich er, durch die Kultur vermittelt, das historische Bewusstsein von Russen und Ukrainern prägt, wie leicht er ins Heute abrufbar ist und wie folgenschwer seine aktuellen Auswirkungen sein können.

[1] Renata Lis, Rosja Putina to tyrania ze znów Ordo Iuris, Ziobry I Jędraszewski (Putins Russland, eine Tyrannei nach den Träumen von Ordo Iuris, Ziobro und Jędraszewski) Gazeta Wyborcza v. 06. 07. 2022 (Internet). [2]Lektionen aus einem grossen Bluff – der Weg zum Massaker von Butscha führt auch über die russische Literatur, Die Zeit v. 28. 04. 2022 (Internet) [3] Janusz Anderman, Karac za wojne rosyjska kulture? (Soll man die russische Kultur für den Krieg bestrafen?), Gazeta Wyborcza v. 01. 10. 2022 (Internet) [4] Jewhen Zacharow, Ukraina zamierza usunąć z bibliotek 100 mln rosyjskich książek. Z korzyścią dla agresora (Die Ukraine beabsichtigt, 100 Millionen russische Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Zum Nutzen des Aggressors), Gazeta Wyborcza v. 01. 10. 2022 (Internet) [5] Stefan Chwin, Dlaczego Dostojewski podoba się Putinowi? (Warum findet Putin Gefallen an Dostojewski?), Gazeta Wyborcza v. 15. 07. 2022 (Internet) [6] Ebd [7] Solschenizyn (1918-2008), Nobelpreisträger für Literatur, dachte autoritär. Im amerikanischen Exil äußerte er sich sehr kritisch zur Demokratie. 1990 erschien von ihm eine politische Denkschrift, die sich als „Russlands Weg aus der Krise“ übersetzen lässt. Darin spricht er der Ukraine eine eigene Nationalität ab und vertritt ein alle Slawen umfassendes russisches Großreich. Solschenizyn erwies sich nach seiner Rückkehr nach Russland als Repräsentant eines konservativen christlich-orthodox geprägten Weltbildes. Mit dieser Auffassung spielte er Putin in die Karten, der ihn denn auch 2007 in seiner Wohnung aufsuchte, um ihm für die Auszeichnung mit dem Staatspreis der Russischen Föderation zu gratulieren. [8] Renate Lis, a.a.O.

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