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Die Ausgangslage für die Sejmwahlen im Herbst 2023 18.11.2022


In 10 Monaten finden in Polen Parlamentswahlen statt, die darüber entscheiden, ob die nationalkonservative Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit(PiS) zum dritten Mal in Folge die Regierung bilden kann, oder ob sie durch die Opposition unter Führung der Bürgerplattform (PO) und ihres Chefs Donald Tusk abgelöst wird. Die Besonderheit dieser Wahl ist es, dass sie unter dem Schatten gebündelter Krisen steht: Durch den von Putin gegen die Ukraine entfesselten Vernichtungskrieg fühlt sich Polen als unmittelbarer Nachbar des Geschehens selbst bedroht und gibt enorme Mittel für die Ausrüstung der Armee und die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge frei; die Corona-Pandemie ist noch nicht überwunden, spaltet die Gesellschaft in der Impffrage, in der die Impfgegner dem PiS-Lager zuzurechnen sind, und belastet das Gesundheitswesen; als Folge dieser Krisen treibt die Inflation, die in Polen über dem Niveau westlicher Staaten liegt, die Preise und damit die Armutsquote in die Höhe. All dies sind schlechte Voraussetzungen für die regierende PiS, die 2019 die Wahlen nicht zuletzt deswegen gewonnen hat, weil die Regierung ihre Klientel mit finanziellen Wohltaten bedachte. Angesichts der durch die Krisen bedingten prekären Finanzlage des Staatsaushaltes dürfte die PiS-Regierung kaum in der Lage sein, auch diesmal entsprechende Wahlgeschenke zu verteilen, um die Wählerschaft für sich zu gewinnen.

Für die Wählerschaft zeichnet sich auf den ersten Blick eine klare Alternative ab: Wer will, dass PS weiterhin die Geschicke des Landes bestimmt, der wird im Herbst deren Abgeordnete wählen, wer PiS von der Macht verdrängen möchte, gibt seine Stimme der Opposition. Diese Alternative hat vor allem ihren Grund darin, dass sich diese zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber stehen – auf der einen Seite die nationalkonservative PiS, die sich als Vertreterin christlich-nationaler Werte versteht, die durch westeuropäische Einflüsse bedroht seien, denen die Bürgerplattform unterliege und die somit nicht Polen, sondern ausländischen Mächten diene und daher für einen national gesinnten Polen nicht wählbar sei; auf der anderen Seite die von PO angeführte Opposition, die für liberale Werte eintritt und die in PiS zum Schaden Polens einen Hemmschuh zivilisatorischer Entwicklung sieht.

Dieser Gegensatz hat sich im Verlauf der letzten Jahre noch verschärft, denn die Bürgerplattform ist von ihrem früheren Konservatismus deutlich abgerückt, akzeptiert sexuelle Minderheiten, distanziert sich, ohne antikirchlich zu sein, von der kirchlichen Hierarchie und hat aufgehört, von der christlichen Verwurzelung der Nation zu sprechen, ein von PiS und den Bischöfen besetztes Lieblingsthema. Dieser Linksruck entspricht dem gegenwärtigen Mainstream westlicher Gesellschaften.

In den kommenden Wahlen geht es somit nicht nur und nicht einmal in erster Linie um die Lösung konkreter politischer Probleme, sondern um die Auseinandersetzung um unterschiedliche weltanschauliche Einstellungen und Werte, wie dies soziologische Untersuchungen belegen. Die jeweilige Auffassung zur Abtreibung, zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, zur Rolle der Kirche, zu den Verbrechen pädophiler Priester sowie zur Europäischen Union, Themen, die die öffentliche Debatte bestimmen, dürfte wahlentscheidend sein.

Dabei gibt es selbst innerhalb der Opposition in der Abtreibungsfrage Unterschiede. Einig ist man sich darin, dass das von der PiS-Regierung erlassene radikale Abtreibungsverbot korrigiert werden muss. Donald Tusk spricht sich nach westlichem Vorbild für die Freigabe einer Abtreibung bis zum 12. Schwangerschaftsmonat aus. Szymon Hołownia, Gründer und Chef von Polen 2050, der als überzeugter Katholik Abtreibungen grundsätzlich ablehnt, aber als Politiker den sich in der Gesellschaft vollziehenden Wertewandel akzeptiert, möchte die Abtreibungsfrage durch ein Referendum klären. Die Bauernpartei PSL sieht die Lösung in der Rückkehr zum früheren Kompromiss, würde aber auch einem Referendum zustimmen. Die Linke dagegen lehnt diese Vorschläge ab und besteht auf einer völligen Freigabe der Abtreibung. Eine gesetzliche Grundlage soll die Entscheidungsfreiheit der Frau garantieren, ob sie ihre Leibesfrucht austragen oder abtreiben will.

Die Teilungslinie in der Europafrage

Wegen ihrer Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit steht die PiS-Regierung seit Jahren in einem Dauerkonflikt mit der Europäischen Kommission. In seinen Wahlkampfreden wird Jarosław Kaczyński nicht müde zu betonen, seine Partei und ihre Regierung verteidige die nationale Souveränität und Identität gegen unberechtigte Eingriffe der Brüsseler Bürokraten, die unter dem Diktat von Berlin versuchen würden, Polen in ihrem Sinn zu verändern und gefügig zu machen. Dabei sei es in Wahrheit Polen, das die eigentlichen europäischen Werte gegen den westlichen Werteverfall verteidigen würden.

Anders als PiS befürwortet die Opposition die politische, rechtliche und militärische Integration Polens in die Europäische Union. Sie möchte, falls sie im kommenden Herbst als Sieger aus den Wahlen hervorgeht und die Regierung bildet, schnellstmöglich die Konflikte mit der EU-Kommission bereinigen, die ihrer Ansicht nach letztendlich zu einem Polexit führen könnten.

Die Opposition wirft PiS vor, einen enormen Verlust an Vertrauen in die europäischen Institutionen verschuldet zu haben. Seit Jahren untergrabe Kaczyński mit seinen öffentlichen Äußerungen dieses Vertrauen und bediene sich dabei einer gegenüber der EU feindlichen sowie antideutschen Rhetorik.

Die innenpolitische Konsequenz dieser EU-feindlichen und antideutschen Propaganda zeigt sich darin, dass Donald Tusk und seine Bürgerplattform als antipolnisch diffamiert werden; PO sei keine polnische, sondern eine deutsche Partei, wobei insbesondere der Danziger Donald Tusk in den staatlichen Medien als ein in deutschen Diensten stehender Politiker präsentiert wird. Argumente für diese absurde These gibt es natürlich nicht. Allein eine deutschfreundliche Einstellung ist für PiS ausreichend, um diese an Staatsverrat grenzende Behauptung zu untermauern.

Was wird nach den Wahlen?

Sollte PiS, was nach den jetzigen Umfragen eher unwahrscheinlich ist, die Herbstwahlen gewinnen und eine Regierung bilden können, dann bleibt alles so, wie es ist: Die Konflikte mit der EU-Kommission finden kein Ende, und Polen dürfte sich noch weiter in Richtung auf einen Autoritarismus bewegen.

Doch welches Programm für die künftige Gestaltung Polens hat die Bürgerplattform, sollte es ihr gelingen, PiS von der Macht zu verdrängen? Bezeichnend ist, dass Donald Tusk im Februar dieses Jahres auf Anfrage erklärte, er denke im Wahlkampf mit PiS nicht daran, wie Polen nach dem Herbst 2023 zu regieren sei. Offenbar befasst sich lediglich Polen 2050 mit der Zukunft des Landes, doch das ist etwas anderes als ein konkretes Regierungsprogramm. Klar sind bei den Oppositionsparteien ihre – bis auf die Konföderation – gemeinsame positive Einstellung zur EU. Aber auch ihre deutlichen Unterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie zur immer noch einflussreichen katholischen Kirche. Daher versteht es sich, dass es aus der Opposition heraus kein Schattenkabinett geben kann und damit unklar bleibt, welche Politiker nach den Parlamentswahlen die Ministerposten bekleiden werden. Die Bildung einer gemeinsamen Liste der Oppositionsparteien, wie sich dies Tusk gewünscht hat, wäre eine Möglichkeit für ein Schattenkabinett gewesen. Doch dem verweigern sich die kleineren Parteien. Sie befürchten in dem Fall einen Profilverlust und rechnen mit mehr Parlamentssitzen, wenn sie eigenständig zur Wahl antreten. Wahrscheinlich ist allerdings die Bildung einer gemeinsamen Liste von Polen 2050und PSL, weil letztere befürchten muss, an der 5%-Hürde zu scheitern und daher gewillt ist, dieses Bündnis einzugehen. Nach Lage der Dinge wird es somit, sollte die Opposition die Wahlen gewinnen, eine von der Bürgerplattform geführte Koalitionsregierung geben, wobei unklar ist, wer mit der Bürgerplattform koalieren wird. Nach jetzigen Umfragen könnte dies sowohl Polen 2050 als auch die Linke sein. Von einem Regierungsbündnis mit Sicherheit ausgeschlossen ist die wirtschaftspolitisch liberale, ansonsten nationalistische und fremdenfeindliche Konföderation, die gegenwärtig nur knapp über der 5%-Hürde liegt und Gefahr läuft, im künftigen Sejm nicht vertreten zu sein.





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