Anmerkung zu Putins Propagandakrieg
„Im Krieg stirbt als erstes die Wahrheit.“ Dies gilt auch für Russlands Position im Ukrainekonflikt. Doch diese uralte Einsicht bedarf einer Ergänzung durch die „Schaffung einer Parallelwirklichkeit“. Dies zumindest ist die Grundthese eines Textes des Journalisten Dariusz Rosiak im „Tygodnik Powszechny“ vom 12. Oktober 2014 unter dem Titel „Die russische andere Welt“. Einleitend schreibt er, dass Ende Juli im ersten Kanal des russischen Fernsehens ein Beitrag aus einem Lager für ukrainische Flüchtlinge gesendet wurde. Eine Frau aus Slawinsk sei zu Wort gekommen und habe von einem grausamen Mord ukrainischer Soldaten bei der Eroberung der Stadt berichtet. Einer Mutter sei ihr Baby entrissen und „wie Jesus“ gekreuzigt worden. Die Frau selbst habe man anschließend von einem Panzer um den zentralen Platz geschleift. Der Kommentar des Moderators: „Menschliches Denkvermögen ist nicht imstande zu begreifen, wie so etwas heute mitten in Europa geschehen kann, und menschliche Herzen können nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist.“ Das Echo im Internet blieb nicht aus. Es meldeten sich zahlreiche Stimmen voller Hass gegen die „ukrainischen Faschisten“.
Die Moskauer „Nowaja Gazieta“ habe auf diese Sendung hin einen ihrer Reporter nach Slawinsk geschickt, um die Aussage der ukrainischen Flüchtlingsfrau zu überprüfen. Doch niemand in der Stadt hatte diese grausame Tat gesehen oder von ihr gehört.
Der später auf die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte angesprochene und für die Medien zuständige Vizeminister Aleksiej Wolin habe betont, es komme nicht auf die Glaubwürdigkeit an, sondern entscheidend sei die Einschaltquote. Diese habe seit Beginn der Ukrainekrise um das Doppelte zugenommen.
Rosiak sieht in der Geschichte von der angeblichen Kreuzigung eines Babys nur eine von vielen „Manipulationen“ russischer Propaganda. Doch das entscheidende solcher „Manipulationen“ sei die „Schaffung einer Parallelwirklichkeit“. Als weitere Beispiele führt er die russische Informationspolitik bezüglich des Absturzes der malaysischen Passagiermaschine MH 17 mit 298 Opfern sowie die Art und Weise der Leugnung der Präsenz von russischen Truppen auf ukrainischem Territorium an. In beiden Fällen beschränke man sich nicht auf die bloße Leugnung der Fakten, vielmehr werde an ihrer Stelle eine, wenn auch abstruse, Parallelwirklichkeit geschaffen und medial verbreitet. „Diese Parallelwirklichkeit – die uns vielleicht als totaler Unsinn erscheint – wird für Russen zu einem Gegenstand kollektiver Halluzination, die der Kreml zu einer wirksamen Politik umformt, wirksam auch gegenüber dem Westen. Die Halluzination hat Bestand, denn das Volk wird ausschließlich mit Propaganda gefüttert.“
Dieser russischen Propaganda würden auch westliche Politiker erliegen, und sei es nur, weil ihnen solche Parallelwirklichkeiten politisch gelegen kommen. Wie wirksam die „Schaffung von Parallelwirklichkeiten“ auch sonst sei, zeige etwa die praktische Tatenlosigkeit der Niederlande gegenüber dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine mit 298 vor allem holländischen Opfern sowie die Klage eines die deutschen Opfer vertretenen Anwalts auf Schadenersatz, die dieser nicht an die russische, sondern an die ukrainische Regierung gerichtet habe. Damit stimme er mit der Aussage des russischen Verteidigungsministers überein, der geäußert habe, „die ganze Verantwortung für die ‚Katastrophe‘ fällt auf die Ukraine, denn würde sie ihre inneren Probleme ohne Waffengewalt gelöst haben, dann wäre es zu der Tragödie nicht gekommen.“
Welche Wirkkraft die russische Propaganda auf die westliche Ukrainepolitik ausübt, sei zudem ersichtlich an „der kürzlichen Aufschiebung – auf über ein Jahr – des Inkrafttretens des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Das ist in der Geschichte der Union das erste Einverständnis dazu, dass ein Drittland die Bedingungen ihrer Verständigung mit einem äußeren Partner diktierte.“
Angesichts der Tatsache, dass Putin die Opposition im eigenen Land weitgehend zum Schweigen gebracht hat und er eine totale Macht über die Medien anstrebt, steuere Russland auf eine Situation zu, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben habe. „Wenn keine Wahrheit existiert, dann ist alles möglich – und alles ist Wirklichkeit. Schon nicht mehr eine parallele, sondern eine gewöhnliche. Denn eine andere als in den Medien gibt es nicht.“