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Ethik der Solidarität

Zur Aktualität von Józef Tischners „Etika Solidarności“

Am Ende seiner 19 Betrachtungen zur „Ethik der Solidarität“ (ET) notiert der 2000 verstorbene Philosoph und Priester Józef Tischner: „Der Text entstand in einer drängenden Zeit und war eine spontane Antwort auf das, was geschieht.“ (140) Diese Aussage hat Konsequenzen für unsere Frage nach der Aktualität von Tischners 1980/81 verfassten Schrift. Sie steht in einem unmittelbaren Bezug zur damaligen Zeit mit ihren spezifischen Problemen. Das bedeutet, dass sich ihre Aussagen mehr als dreißig Jahre danach nicht eins zu eins auf unsere anders geartete Situation einer demokratischen, kapitalistischen und zugleich globalisierten Gesellschaft übertragen lassen. Zudem kann nur aktualisiert werden, was zuvor verstanden wird. Daher gilt es in einem ersten Schritt, sich jener „drängenden Zeit“ zu erinnern.

Als sich Józef Tischner im Anschluss an seine vor einer Delegation von Solidarność in der Krakauer Wawel-Kathedrale am 19. Oktober 1980 gehaltenen Predigt daran machte, den in ihr enthaltenen Grundgedanken einer solidarischen Ethik im einzelnen auszuführen, war das Scheitern des polnischen sozialistischen Experiments offenkundig. Jeder spürte dies am eigenen Leib, der in einer Schlange stundenlang in der Hoffnung ausgeharrt hatte, ein Stück Schinken zu erwerben, um damit in einem unwürdigen Glücksgefühl nach Hause zurückzukehren. Am Abend konnte er dann vor dem Fernseher erleben, wie die auf Kredit im Westen erworbenen Investitionsgüter unter freiem Himmel verrotteten, weil nach den undurchsichtigen Gesetzen der Planwirtschaft das dazu erforderliche Fabrikgebäude nicht einmal im Rohbau fertig war. Oder er begab sich in eines der Filmtheater, um sich Wajdas „Der Mann aus Marmor“ anzusehen, ein Film, der die Besucher immer wieder zu bitteren Lachsalven verleitete, wenn der damalige Propagandaslogan „Polak potrafi“, der Pole kann's, mit der wirtschaftlichen Misere in einem deutlichen Kontrast stand.

Andererseits erlebte Polen zu jener Zeit mit der Papstwahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyła am 16. Oktober 1978 und seiner ersten Pilgerfahrt in seine Heimat im Jahr darauf eine die gesamte Nation erfassende Solidarisierung, die der im August 1980 gegründeten Solidarność nicht nur voraus ging, sondern die sie im Grunde erst ermöglicht hat. Auf diese ebenso spannungsreiche wie widersprüchliche Situation gibt Tischner mit seiner „Ethik der Solidarität“ eine, wie er schreibt, „spontane“ Antwort.

Tischners Auseinandersetzung mit dem Marxismus

Diese Antwort hat neben der Bedingtheit durch die kurz skizzierten äußeren Umstände noch eine, gleichsam innere Voraussetzung: Tischners intensive Auseinandersetzung mit dem Marxismus und seiner Ausprägung in dem in Polen herrschenden Sozialismus. Das Ergebnis seiner in den Jahren 1977-1980 erarbeiteten Kritik veröffentlichte er 1981 in Paris unter dem Titel „Polski kształt dialogu“, wörtlich übersetzt „Die polnische Form des Dialogs“. Der Band erschien 1982 in deutscher Übersetzung unter dem Eindruck des von General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 verhängten Kriegsrechts unter dem abgeänderten Titel „Der unmögliche Dialog“ (UD).

Es überrascht schon, dass sich Józef Tischner zu einer Zeit mit dem Marxismus kritisch auseinandersetzt, als das sozialistische System bei der Bevölkerung jeglichen Kredit eingebüßt hatte. Anders als jene, die auf den abgewirtschafteten Sozialismus keinen weiteren Gedanken verschwenden wollten, hielt Tischner die Antwort auf die seiner Meinung nach ungelöste Frage „Was ist eigentlich Marxismus, was Sozialismus?“ (UD 14) für dringlich. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen war Tischner davon überzeugt, dass der Sozialismus trotz aller Ablehnung in manchen seiner Grundauffassungen den Menschen „in Fleisch und Blut“ übergegangen sei. So fragt er: „Kann man durch einen Nebel tappen, ohne naß zu werden? Alle wurden wir ein wenig feucht, die einen mehr, die anderen weniger, die einen mit, die anderen ohne Vergnügen.“ (UD 13) Diese Infizierung in der Breite der Gesellschaft verlange nach Klärung. Noch wichtiger war ihm ein zweiter Grund: Tischner scheut sich nicht, den Sozialismus für Polen „eine Notwendigkeit“ zu nennen, an dessen „Zerstörung“ der Kirche nicht gelegen sein könne. Vielmehr gehe es darum, das dem Sozialismus immanente und von ihm verratene Ethos zu retten. „Hat sich – so fragt er – die Idee einer Solidarität der arbeitenden Menschen im Namen der Befreiung von der Last der Ausbeutung spurlos verloren?“ (UD 17) Um die Rettung dieses Ethos ging es Tischner letztlich in seiner Schrift „Der unmögliche Dialog“. Er appelliert an die „in Polen Verantwortlichen“, sich die „Kernfrage“ bewusst zu machen: „Der Sozialismus wird entweder ein ethischer Sozialismus sein, oder er wird überhaupt nicht sein.“ (UD 18) Ihn beseelte damals noch die Hoffnung, Marxisten und Christen könnten über diese „Kernfrage“ einen Dialog führen, nachdem bislang diese „beiden die Beglückung des Menschen erstrebenden Richtungen“ immer nur miteinander in Streit gelegen hatten. „Es ist – so sagt er – ein tragisches Paradox, daß die Begegnung dieser beiden Richtungen das menschliche Unglück vergrößerte, statt es zu verringern. Vielleicht ist die Zeit gekommen, dieses tragische Paradox umzukehren? Und vielleicht sind gerade wir das Land, in dem die Praxis solcher Umkehrung tragischer Paradoxe der Theorie vorausgeht.“ (UD 19)

Die marxistische Philosophie der Arbeit

Tischner sieht den Kern des Marxismus in dessen Philosophie der Arbeit. Aus dem ihr zugrunde liegendem Ethos beziehe er seine Faszination: „Dieses Ethos war – wie Tischner schreibt – vom Imperativ eines konsequenten Kampfes um die Befreiung menschlicher Arbeit vom Joch der Ausbeutung bestimmt.“ Es „war diese besondere Art ethischer Sensibilität für die Fragen der Arbeit, aus der der Marxismus erwuchs und womit er bei seinen Adressaten ein Echo fand.“ (UD 31f.) Konkret besteht das marxistische Ethos in der Aufhebung der durch Gewinnmaximierung der Kapitalisten bedingten Ausbeutung, wobei die Sozialisierung der Produktionsmittel gleichsam als Stein der Weisen diese Aufhebung bewirken soll.

Doch nach seiner anfänglichen Faszination sieht Tischner im Sozialismus zugleich seine spätere Krise begründet, weil er seinem Anspruch nicht gerecht wurde. Er vermochte es nicht, die Ausbeutung zu beseitigen, sondern verlieh ihr lediglich eine andere Form. Der Sozialismus wurde mit seiner Philosophie der Arbeit geradezu zu ihrer „Quelle“, und zwar weniger einer „ökonomischen“ als vielmehr einer „moralischen“ Ausbeutung. Die neue, sozialistische Form der Ausbeutung ist nach Tischner „eine direkte Manipulation des Menschen als solchen, seiner Beziehung zu anderen wie zu sich selbst. [...] Er vergeudet Kraft und Zeit, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er leidet an einem Übermaß an unnötigen, sinnlosen Tätigkeiten, unter einem ständigen Zeitdruck. Er lebt in einer Welt propagierter Lüge.“ (UD 93f.) Nach der ursprünglichen Faszination wurde diese Erfahrung für viele Marxisten zum Anlass, sich vom Marxismus wieder abzuwenden. „War einst – so Tischner – der Grund für ihren Übertritt ins Lager der Marxisten das ethische Motiv der Ausbeutung der Arbeit, so erweist sich dasselbe Motiv nun als Grund für ihren Bruch.“ (UD 62)

Doch Tischners Kritik zielt noch tiefer. Er sieht den Grundirrtum des Marxismus darin, dass er die Arbeit zum Höchstwert stilisiert. Sie ist es nämlich, die nach marxistischer Auffassung den Menschen erst zum Menschen macht, die ihn allein „vermenschlichen“ bzw. „entmenschlichen“ kann. „Wenn – so schreibt er – der Kampf um die Befreiung der Arbeit die höchste ethische Aufgabe ist, dann muß die politische Einschätzung als ethisches Kriterium gelten.“ Die Konsequenz sei dann, dass jedes Mittel recht ist, das diesem Ziel dient. Daraus resultiere „eine Praxis der Gewalt und der Barbarei“, die im Sozialismus ihre „geschichtliche Legitimierung“ fände. (UD 137) Es verstehe sich daher, dass das marxistische Ethos für einen Christen inakzeptabel sei. Doch trotz dieser radikalen Kritik hält Tischner an der Hoffnung auf eine Welt frei von Ausbeutung fest. Und er fragt, wer für diese Hoffnung die Verantwortung übernimmt: „Wer nimmt das Werk einer ethischen Kritik der bestehenden Welt auf sich [...]?“ (UD 140)

Tischners Ethik der Solidarität

Tischners „Ethik der Solidarität“ ist in gewisser Weise die Antwort auf diese Frage. Dabei haben die in dieser Schrift zusammen gefassten philosophischen Reflexionen „Polski kształt dialogu“ zur Voraussetzung. Und dies in mehrfacher Hinsicht. So ist die für „Polski kształt dialogu“ zentrale Frage nach dem, was Arbeit bedeutet und nicht bedeutet, auch für seine „Ethik der Solidarität“ der bestimmende Leitfaden. Er sieht in ihr die „Achse der Solidarität“, das „Schlüsselproblem“ einer solidarischen Ethik. (ES 26) Die scheinbar in einer losen Folge stehenden Betrachtungen bauen auf der „grundlegenden Idee der Arbeit“ auf, die Tischner als „Gespräch im Dienst des Lebens“ definiert.. Er entfaltet in Analogie zum Dialog die vielfältige kommunikative Struktur der Arbeit in Form einer Solidargemeinschaft arbeitender Menschen, in der sämtliche Mit-Arbeitenden miteinander verbunden sind und sich gleichsam durch ihre Arbeit verständigen. Und so wie die mitmenschliche Verständigung durch die Lüge gefährdet ist, so auch die Arbeit. „Eine Arbeit, die lügt“, nennt Tischner „Ausbeutung“. (ES 31)

Diese hier kurz zusammen gefassten Gedanken zur Arbeit entwickelt Tischner im 3. Kapitel. Voraus gehen die Betrachtungen zur „Gemeinschaft“ und zum „Dialog“. Beide bilden das Fundament für Tischners Arbeitsverständnis – die Gemeinschaft als eine Solidarität der Pro-Existenz, in der das „Für ihn“ Vorrang hat vor dem „Wir“ (ES 20), der Dialog als „Dialog der Solidarität“ und der „wachen Gewissen“, dem „es vor allem um die Wahrheit über das unnötige Leid der arbeitenden Menschen“ geht, ein Leid, das seinen Grund in einer Misswirtschaft hat, durch die die Arbeit um ihren Sinn gebracht wird. Tischner sieht in solcher „moralischen Ausbeutung“ eine „Form des Verrats am Menschen“. (ES 41) und zugleich den legitimen Grund für Streiks. (ES 127)

Mit logischer Stringenz greift Tischner in der Abfolge seiner philosophischen Reflexionen immer wieder auf die „Arbeit“ zurück, ob er nun die „Illusion“ entlarvt, sämtliche Formen der Ausbeutung könnten durch die „'Aufhebung' des Privateigentums an Produktionsmitteln“ beseitigt werden (ES 47) oder ob er die Knechtung der „Wissenschaft“ durch den „Organisator“ kritisiert, der sich zum 'Eigentümer' wissenschaftlicher Arbeit“ macht und dadurch den Wissenschaftler moralisch ausbeutet. (ES 56)

Die „Ethik der Solidarität“ lässt sich zudem als Reinigung grundlegender, vom Sozialismus ideologisch okkupierter und verfälschter Grundbegriffe lesen. Dabei bedient sich Tischner der phänomenologischen Methode, indem er von der Wahrnehmung der unmittelbaren Wirklichkeit ausgeht, sich in Auseinandersetzung mit ihrer ideologischen Vereinnahmung zu ihrem Sinngehalt vortastet und ihren jeweiligen moralischen Anspruch offenlegt. Damit hat Tischner für seine Zeit den Weg gewiesen, anstelle der Lüge in der Wahrheit zu leben. Mit seiner „Ethik der Solidarität“ hat er das mit Solidarność verbundene Ethos als ein auf der Würde des Menschen basierendes Ethos verdeutlicht und so im Gewissen verankert.

Ist Tischners „Ethik der Solidarität“ heute noch aktuell?

Ich habe eingangs gesagt, dass Tischners „Ethik der Solidarität“ nicht eins zu eins für unsere anders geartete gesellschaftspolitische Situation Geltung beanspruchen kann. Diese Einschränkung schließt jedoch nicht aus, dass einzelne Ausführungen durchaus für uns heute bedenkenswert sind. So ist Tischners in Analogie zum Dialog entwickeltes kommunikatives Arbeitsverständnis von bleibender Aktualität. Es erlaubt, die im Arbeitsprozess vielfältig vernetzten Menschen als eine auf Vertrauen und Verlässlichkeit basierende Solidargemeinschaft zu erfassen und die verschiedenen Formen ihrer moralischen Deformierung zu benennen.

Ein weiterer, Allgemeingültigkit beanspruchender Punkt ist Tischners Kritik an Formen der Vergesellschaftung. Er hält es für eine „Illusion“, allein durch Vergesellschaftung privaten Eigentums die Gemeinnützigkeit zu garantieren. Natürlich hat er hier die sozialistische Theorie und Praxis vor Augen, an der er verdeutlicht, wie sich das „radikale 'Ich habe' [...] in ein nicht minder radikales 'Du hast nicht'“ umwandelt. (ES 47) Vergesellschaftung ist damit nach Tischner eine nur illusorische gemeinschaftliche Eigentumsform. Sie sei nicht per se gemeinnützig. Ob Eigentum, privat oder vergesellschaftet, in Wahrheit gemeinnützig ist, entscheidet sich nach Tischner an der Frage, ob es der Gemeinschaft tatsächlich dient.

Nehmen wir ein drittes Beispiel, Tischners Gedanken zur „Revolution“. Ihr voraus gehe „ein Bewußtsein der Erniedrigung der Menschenwürde“, das allerdings in der Gefahr einer vom „Prinzip der Vergeltung“ (ES 84) diktierten Rebellion stehe. Tischner sieht in der Revolution das Ethos einer moralischen Anklage derer, die für diese Erniedrigung verantwortlich sind, wobei die Revolutionäre zugleich „die Verantwortung für die Verwirklichung der Hoffnungen der Unterdrückten“ zu übernehmen hätten. (ES 87) Entscheidend für das Gelingen einer Revolution sei nicht der bloße Machtwechsel, sondern „das Verschwinden des früheren Untertanen“, also ein neuer Mensch, mündig und von Angst befreit. Auch wenn sich Tischner in diesem Zusammenhang nicht expressis verbis für Gewaltfreiheit ausspricht, so vermerkt er doch, dass eine Revolution „umso authentischer (ist), je weniger Blut sie kostet.“ (ES 87)

Tischner erwähnt in seinem der „Revolution“ gewidmeten Kapitel die Solidarność mit keinem Wort, was eigentlich verwundert. Aber das von ihm eingeforderte revolutionäre Ethos ist sicher auch und vor allem an sie adressiert. Und setzt man seine Aussagen zu den Ereignissen des Epochenjahrs 1989 in Bezug, dann erkennt man, dass eben dieses Ethos jenen Ereignissen immanent war, die – von Rumänien einmal abgesehen – zur unblutigen Überwindung der kommunistischen Systeme in Mittel- und Ostmitteleuropa geführt haben.

Um die Aktualität von Tischner „Ethik der Solidarität“ zu ermitteln, reicht es jedoch nicht aus, die einzelnen Kapitel nach Aussagen zu durchforsten, die unabhängig von ihrem spezifischen gesellschaftspolitischen Kontext Gültigkeit beanspruchen. Dazu ist ein weiteres Verfahren erforderlich, das darauf abzielt, nach Art des Tischnerschen Denkens Grundbegriffe unserer Gesellschaft wie Markt, Kapital, globale Finanzströme u. ä. zu hinterfragen, die in „Ethik der Solidarität“ verständlicherweise keine Rolle spielen.

Józef Tischner hat in beeindruckender Weise Leben und Denken in sich vereint. Von ihm stammt die oft wiederholte Selbstaussage „Zuerst bin ich Mensch, dann Philosoph, dann lange, lange nichts, und erst dann Priester.“ Damit ist natürlich nicht die Banalität einer chronologichen Abfolge seiner Lebensstationen gemeint; auch nicht eine Abwertung seines Priestertums, das er durchaus ernst genommen hat. Gemeint ist vielmehr, dass er vor jeder weiteren geschlechtlichen, nationalen oder religiösen Selbstdefinition „Mensch“ ist, was impliziert, dass er das Menschsein mit allen anderen Menschen teilt, unabhängig von allen sonstigen Unterscheidungskriterien. Aus diesem primären Selbstverständnis ergibt sich für Tischner die Frage nach dem, wer und was der Mensch ist, im Guten wie im Bösen. Ihr geht er in seinen philosophischen Erwägungen nach, die dann in seiner Erfahrung als Priester ihre Rückbindung finden.

Eine Aktualisierung seiner „Ethik der Solidarität“ würde im Sinne von Józef Tischner wohl darin bestehen, „das Werk einer ethischen Kritik“ unserer Welt auf uns zu nehmen, wie dies Tischner formuliert, für seine Zeit eingefordert und für seinen Teil auch geleistet hat. Dies gilt sowohl auf nationaler als auch auf europäischer und globaler Ebene.

Unter nationalem Aspekt haben wir uns mit unseren eigenen Verhältnissen zu befassen. Dabei scheint es auf den ersten Blick wenig Anlass zu einer „ethischen Kritik“ zu geben. Schließlich haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Bundesrepublik als verfassungsmäßigen Sozialstaat definiert, und das heißt nichts anderes, als dass unser Gesellschaftssystem und Staatswesen als eine institutionalisierte Form von Solidarität zu verstehen ist. Das bedeutet konkret, dass sich die Gestaltung unserer Gesellschaft am Solidaritätsprinzip ausrichten muss, also kein gesellschaftlicher Bereich, auch nicht die Wirtschaft, um bei diesem Beispiel zu bleiben, von dieser Verpflichtung ausgenommen ist.

Die soziale Verpflichtung der Wirtschaft besteht sowohl darin, die materiellen Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, als auch darin, den Staat in die Lage zu versetzen, seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Ihre Leistungskraft bildet die Grundlage für den Bestand und die Funktionsfähigkeit unserer Sozialsysteme. Damit trägt sie dazu bei, die Lebensrisiken von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter abzusichern. Dabei darf allerdings die Sozialverpflichtung von der Wirtschaft nicht als eine unangenehme Last verstanden werden, der man sich nach Möglichkeit zu entledigen sucht.

Die Wirtschaft bildet zudem eine unabdingbare Voraussetzung für die Verteilungsgerechtigkeit, wie sie durch Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt oder auch von letzteren durch Streiks erstritten wird. Sie ist zudem ein solidarischer Grundpfeiler der Teilhabegerechtigkeit, indem die Wirtschaft Arbeitsplätze schafft und damit die Möglichkeit, dass der einzelne sein Leben aus eigener Kraft gestalten kann. Hier ist allerdings kritisch zu fragen, ob sich die in der Wirtschaft Verantwortlichen dieser solidarischen Verpflichtung genügend bewusst sind. Seit Jahren zeigt sich ein tendenzieller Anstieg eines Arbeitskräfteabbaus durch Rationalisierung und Verlagerung der Produktion in Lohnbilligländer. Nicht immer ist die Begründung überzeugend, dass derlei Maßnahmen notwendig seien, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Oft geht es um bloße Gewinnmaximierung. So hat, um ein Beispiel zu wählen, der finnische Konzern Nokia 2008 gegen massive Proteste und trotz guter Gewinne 2008 das Bochumer Werk geschlossen und die Produktion nach Rumänien verlagert, um für die Aktionäre noch höhere Renditen erwirtschaften zu können. Wer so handelt übt Verrat am wirtschaftlichen Ethos.

„Das Werk einer ethischen Kritik“ unserer Welt betrifft indes nicht nur die Wirtschaft, auch nicht nur die für die gesellschaftliche Gestaltung verantwortlichen Politiker, die über die Höhe von sozialen Transferleistungen zu entscheiden haben. Auch der einzelne Bürger muss sich fragen, inwieweit die Solidarität in seinem Bewusstsein oder, um mit Tischner zu sprechen, in seinem Gewissen verankert ist. Durch ihre Institutionalisierung dürfte sie für manchem in eine abstrakte Ferne gerückt sein, wobei der einzelne dazu noch im konkreten Fall die Solidarität als bürokratischen Akt und kaum einmal als persönliche Zuwendung erfährt.. So könnte es sein, dass die Solidarität durch ihre Institutionalisierung, so notwendig diese auch ist, im Bewusstsein der Bürger kaum mehr präsent ist. Hier tut, auch im Sinne von Tischner, Aufklärung Not, um das unserem Sozialsystem eigene Ethos der Solidarität als Element wahrer Menschlichkeit bewusst zu machen.

„Das Werk einer ethischen Kritik“ unserer Welt gilt des weiteren für die europäische Ebene. Auch hier begegnet uns Solidarität in einer gesetzlichen, institutionalisierten Form. Im Lissaboner Vertrag ist sie mehrfach festgeschrieben. Zudem enthält er eine eigene Solidaritätsklausel, welche die Mitgliedstaaten im Falle von Naturkatastrophen und Terroranschlägen zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet. So gesehen versteht sich auch die Europäische Union, ähnlich wie unser Sozialstaat, als Solidargemeinschaft. Was das konkret bedeuten kann, wird uns derzeit durch die Griechenlandkrise und den Angriff starker Finanzmächte auf den Euro unliebsam vor Augen geführt. In diesem Zusammenhang muss sich nicht allein Griechenland einer „ethischen Kritik“ stellen. Auch die anderen Mitgliedstaaten sind in die krisenhafte Schuldenfalle geraten. Sie alle haben, die einen mehr, die anderen weniger, mit der Verletzung der Stabilitätskriterien im Grunde die Solidarität der Gemeinschaft verletzt.

Der Angriff auf die Stabilität des Euro und die kostspieligen Abwehrmaßnahmen der Gemeinschaft lenken unseren Blick als letztes auf die globale Ebene. Hier erscheint „das Werk einer ethischen Kritik“ am dringlichsten, kann doch, zumal was den Finanzsektor betrifft, von einer Solidarität auf Weltebene kaum die Rede sein. Mit dem Ende der kommunistischen Systeme in Europa schien es manchem, dass nunmehr die Zeit für weltweiten Wohlstand und Frieden gekommen sei. Dies zumindest war die Vision des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama mit seinem 1992 erschienenen Buchtitel „Das Ende der Geschichte“. Mit der Überwindung des Systemwiderspruchs von Sozialismus und Kapitalismus sei nun der Weg frei für weltweite Formen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den entsprechenden positiven Effekten für die Menschheit. Heute wissen wir, dass er sich gehörig geirrt hat. Wenngleich im kalten Krieg der freie Westen den Sieg davon getragen hat, so fehlt doch nun, wie es scheint, der Sozialismus als wirksames Korrektiv zum Kapitalismus. Gleichsam zügellos und unzähmbar treiben die Finanzjongleure ihr Spiel. Da werden faule Kredite zu Paketen geschnürt, mit einem phantasievollen Namen versehen und mit dem Versprechen hoher Renditen auf den Markt geworfen, wobei die Anbieter zugleich darauf wetten, dass sich ihre Ware als Flop erweist. Während sie sich auf doppelte Weise bereichern, treiben sie andere in den Ruin. Ihnen ist es egal, durch ihr Finanzgebaren eine weltweite Krise auszulösen. Welche Konsequenzen dies für unser Land gehabt hat, haben wir schmerzlich erleben müssen und erleben es weiter. Für die Milliardenverluste, die einzelne unserer Banken zu verzeichnen hatten, mussten die Steuerzahler aufkommen – ganz nach dem Motto: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert.

Wir erleben zur Zeit, wie das scheinbar anonyme Kapital unser Schicksal bestimmt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden; dass eine Entwicklung in den USA auf Europa übergreift, bei der die Reallöhne bei steigendem Bruttoinlandprodukt dennoch fallen und die Zahl der „working poor“, der Menschen, die von Ihrer Arbeit nicht leben können, wächst. Angesichts dieser Situation ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich Karl Marx als ein „Wiedergänger der Geschichte“ erweisen könnte. Seine Sätze aus dem „Kapital“ klingen so, als wären sie heute geschrieben: „Man hat gesehen, wie Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, diese aber das Vorhandensein größerer Mengen an Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus.“(1) Wenn an diesen Sätzen etwas nicht als zeitgemäß erscheint, dann ist es „das Vorhandensein größerer Mengen an [...] Arbeitskraft“. Die braucht es nicht einmal mehr, hat sich doch das Kapital längst aus seiner sinnvollen Bindung an die Arbeit gelöst.

Wollen wir nach unseren Erfahrungen mit sozialistischen Systemen eine Wiederkehr von Marx verhindern, dann ist es an der Zeit, die Kapitalflüsse aufgrund einer „ethischen Kritik“ verbindlichen Regelungen zu unterwerfen und Solidarität auf globaler Ebene zu praktizieren. Dieses Postulat ist trotz UNO und Weltwährungsfonds derzeit immer noch eine Utopie, doch birgt die gegenwärtige Krise die Chance, ihre Realisierung voranzutreiben.

(1) Hier zitiert nach Reinhard Marx, Kapital, München 2008, S. 291.

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