Gekreuzigt hätten sie nicht
Gekreuzigt hätten sie nicht
sie hätten mit Knüppeln erschlagen
ins Wasser geworfen wie einen Stein
und keiner hätte gewußt ob er auferstand
wäre er geboren in Polen
Henryk Grynberg
Das Gedicht wurde in seiner polnischen Fassung 1994 in der Märznummer von „Nowe Książki“ von einem polnischen Interviewer zitiert, der - unter Hinweis auf die dritte Zeile - den Bezug zu dem von polnischen Sicherheitsoffizieren ermordeten Priester Jerzy Popiełuszko (1947-1984) betonte. Es sei - so sein Kommentar - „eines der grausamsten Gedichte über Polen. [...], ein Text, dem gegenüber man nicht gleichgültig sein könne.“
In seiner Erwiderung bestreitet Grynberg, dass man sein Gedicht „grausam“ nennen könne: „Vielleicht ist die Wahrheit grausam, doch sie ist eine objektive Botschaft, wie sie aus dem Mord an Popiełuszko folgert. Was ich geschrieben habe, in diesem Gedicht und all die Jahre hindurch, ist mein Zeugnis.“
Der Text verlangt ein sehr behutsames Abwägen der Worte und erscheint dann als ein Angebot zu einem jüdisch-polnischen und jüdisch-christlichen Dialog.
Henryk Grynberg ist polnischer Jude. Er wurde 1936 in Warschau geboren.1942 konnte sich die Familie mit falschen Papieren vor der Deportation nach Treblinka retten. Doch außer ihm überlebte nur seine Mutter. Sein Bruder kam durch eine Denunziation ums Leben, der Vater wurde 1944 das Opfer eines Raubüberfalls. Grynberg wuchs in Polen auf, studierte in den fünfziger Jahren Journalistik und war Schauspieler am jüdischen Theater. Als Autor debütierte er 1963 mit einem Erzählband, in dem er u. a. eines seiner zentralen Themen, die Suche nach dem Grab des Vaters, literarisch gestaltete.
Die 1967/68 einsetzende antisemitische Kampagne bewog Grynberg, während einer mehrwöchigen Tournee in den Vereinigten Staaten um Asyl zu bitten. In der Londoner Exilzeitschrift „Wiadomości“ begründete er seine Entscheidung wie folgt: „Das für mich allerbeste Leben bedeutete: in Polen zu sein, polnisch zu reden, polnisch zu schreiben, auf polnisch gelesen zu werden - ein polnischer Schriftsteller zu sein.“ Er bittet um Verständnis, dass es ihm Stolz und Würde unmöglich machten, länger in Polen zu bleiben; doch er versichert: „Ich bleibe ein polnischer Schriftsteller und ich bleibe Pole, und das mit meinem seltsamen Namen, den ich um nichts in der Welt ändern werde.“ Unmittelbar nach seiner Emigration entfesselte die kommunistische Partei gegen ihn eine Kampagne und schwieg ihn dann in seiner Heimat zwei Jahrzehnte lang tot.
Henryk Grynberg hat sein Versprechen gehalten. Er hat weiter geschrieben und in Exilverlagen und -zeitschriften publiziert. 1987 machte die Krakauer Zeitschrift „Znak“ den in Polen fast vergessenen Autor neu bekannt. Seitdem finden seine Lyrik und Prosa auf dem polnischen Buchmarkt ein wachsendes Interesse. Grynberg ist jenen polnischen Autoren jüdischer Herkunft zuzurechnen, die ihr Denken und Fühlen in die polnische Sprache übersetzen und damit die polnische Literatur auf eigene Weise bereichern. Der Hintergrund der konfliktreichen polnisch-jüdischen Symbiose macht dies zu einer schwierigen Mission. „Gekreuzigt hätten sie nicht“ ist dafür ein Beleg.
Die drei ersten Verse dieses Fünfzeilers bilden einen Spannungsbogen. Das Gedicht ist von der konjunktivischen Form bestimmt. Doch die einleitende Zeile hebt sich in ihrer Verneinung deutlich gegenüber den beiden folgenden ab. Die Täter bleiben durchgehend unbestimmt: Sie hätten zwar nicht gekreuzigt, wohl aber erschlagen und ertränkt. Von grausamen Todesarten ist die Rede, wobei die Kreuzigung den christlichen Bezug verrät. Bei Grynberg steht im Hintergrund der Tod seines erschlagenen Vaters, eine Tat, die, anders als die Kreuzigung, die Öffentlichkeit flieht. Der Kreuzigung ging ein Prozess voraus, und das Kreuz wurde vor aller Welt sichtbar errichtet, während das Erschlagen eine heimtückische Tat darstellt, ohne Zeugen. Sie erfährt mit der dritten Zeile noch eine Steigerung - die Beseitigung des Opfers. Wie ein Stein im Wasser versenkt zu werden, bedeutet im Unterschied zur Kreuzigung, die Tat aus der Welt zu schaffen, sie mit ewigem Schweigen zuzudecken, dem Opfer das Grab zu verweigern. Die Assoziation an den von Sicherheitsoffizieren ermordeten und anschließend versenkten Priester Popiełuszko führt - isoliert betrachtet - in die Irre. Die beiden Zeilen gleichen einer Falle, in die ein in seinem polnischen Denken befangener Leser leicht hineintappen könnte, indem er übersieht, dass dieser Märtyrer der Solidarność mit seinem Tod auf das Schicksal von Grynbergs Vater verweist. Statt einseitig zum polnischen Nationalheiligen stilisiert zu werden, könnte Popiełuszko ein Zeichen für die Solidarität mit dem Schicksal der ermordeten Juden sein. Doch Popiełuszko hat schließlich sein Grab gefunden - Millionen ermordeter Juden nicht. Sie wurden in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau verbrannt, ihre Asche auf Felder verstreut und in Teiche versenkt und Grynbergs Vater von seinen Mördern verscharrt. Jahrzehnte später brach der Sohn, von einem Filmteam begleitet, nach Polen auf, um die Stelle zu suchen, an der sein Vater ermordet wurde. Es entstand ein Dokumentarfilm über die Gespräche mit den Bauern vor Ort und deren Erinnerungen an Krieg und Okkupation. Dem Film folgte ein Buch, „Dziedzictwo“ (Vermächtnis), 1993 im Londoner Anneks-Verlag erschienen. Darin dokumentiert Grynberg seine Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach dem Grab des Vaters.
Grynbergs Fünfzeiler erschließt sich, wenn man ihn im Wissen um die Bedeutung des Grabes liest. Zwar ist in den Versen nicht direkt vom Grab die Rede, doch wer den Text nach seinem Sinn befragt, wird kaum den Stellenwert des Grabes im jüdischen wie christlichen Denken außer acht lassen können: Denn die Kreuzigung fand nicht nur in aller Öffentlichkeit statt. Der Gekreuzigte erhielt auch sein Grab. Und dies in Voraussetzung seiner Auferstehung, auf welche die vierte Zeile anspielt. Nicht von ungefähr betont das christliche Glaubensbekenntnis die Trias von Kreuzestod, Grablegung und Auferstehung. Damit hat das Bekenntnis in der jüdischen Tradition seine Wurzel, in der es des Grabes um der Auferstehung willen bedarf.
Damit ist die Pointe dieses Kurzgedichtes erreicht: Die heimlichen Täter, die ihre Opfer dem Vergessen anheimgeben und ohne Grab lassen, möchten damit die Auferstehung fraglich machen. Dies ist die Schlussfolgerung der zwei Schlusszeilen aus dem Spannungsfeld des ersten Gedichtteils. Doch an wen richtet sich diese Botschaft? Die Adressaten bleiben unbestimmt, der Ort des Geschehens ist genannt - Polen. Mit der Nennung des für Christen und Juden gemeinsamen Geburtsortes schließt der Text. Die konjunktivische Form gibt den Aussagen etwas Schwebendes, als würde ein - durchaus ernsthafter - Gedanke durchgespielt; ein Nachdenken ganz im Sinne eines Angebots zu einem jüdisch-christlichen Gespräch. Es geht um ein Aufbrechen falscher Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen, um die Berührungspunkte jüdischer und christlicher Tradition, um den Heilszusammenhang von Tod und Auferstehung, um ein kritisches Bedenken einer in Polen verbreiteten nationalen Theologie, um ein Ernstnehmen der Shoa im Glauben der Christen. Henryk Grynberg wählte für diesen Text die Verbform des Imperfekts. Er ist gegenwartsnah und zukunftsträchtig durch Erinnern. Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe in Polen die Zeit für eine ‘erinnerte Vergangenheit’ im jüdisch-christlichen Dialog reif war. Und die Erinnerungen waren schmerzlich genug. Doch um der Wahrheit willen bedarf es zuweilen auch des Schmerzes.