Polens Kirche im Zeichen des neuen Papstes
„Würde einer von uns im ‚Tygodnik‘ schreiben: ‚ Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist‘; würde er sagen: ‚Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist‘; oder: ‚Ich hoffe, dass mehr als die Furcht einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet‘ – die ‚wahren Katholiken‘ würden sagen: ‚Verräter‘, und sie würden fragen: ‚Über was für eine Kirche schreiben die?‘“
Mit diesen und weiteren Zitaten aus „Evangelii gaudium“, dem Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus (49), charakterisiert Adam Boniecki, langjähriger Chefredakteur des „Tygodnik Powszechny“, die in Polen herrschende enorme Spannweite innerkirchlicher Probleme. „Verschlossenheit“, bedacht auf „eigene Sicherheit“, stets und überall den „Mittelpunkt“ bilden, „fixen Ideen“ zugetan, in „Streitigkeiten verstrickt“, Vertrauen auf den „falschen Schutz“ der „Strukturen“, „unnachsichtige Richter“ - diese Stichpunkte umreißen das Bild einer Kirche, dem sich die „wahren“ Katholiken verpflichtet wissen und das von P. Tadeusz Rydzyk und seinem Medienimperium verbreitet wird. Dem steht ein „offener Katholizismus“ gegenüber, wie er neben anderen Organen vom „Tygodnik Powszechny“ vertreten wird – weltoffen, dialogbereit, kirchlich loyal, doch ohne Scheu, bei Kritik an kritikwürdigen Zuständen als Nestbeschmutzer diffamiert zu werden. Dieser „offene Katholizismus“ kann sich nun durch das programmatische Schreiben des Papstes bestätigt fühlen, das denn auch mit reichlichem Lob bedacht wird. Doch bei aller Begeisterung über den Reformwillen des Papstes, warnt Boniecki zugleich vor übertriebenen Erwartungen. Er zitiert „Evangelii gaudium“ , wo Papst Franziskus auf die „tief in der Geschichte verwurzelten Bräuche“ Bezug nimmt und dazu auffordert, „keine Angst“ zu haben, „sie zu revidieren!“ Das Gleiche gelte für „kirchliche Normen oder Vorschriften“.“ (43) Doch was besagt dies? Der Papst „provoziert, sagt aber nichts Konkretes. Er hört zu, verleiht den Gläubigen eine Stimme […] und ändert an den Strukturen nichts Wesentliches. […] Der Zölibat bleibt, Frauen werden nicht zu Priestern geweiht.“ (TP 2/2014, S. 2) Mit vagen Äußerungen will sich Boniecki nicht zufrieden geben. So erwartet er beispielsweise in der Frage der Zulassung Geschiedener zu den Sakramenten eine deutliche Klarstellung, sonst bleibe alles beim Alten.
Kirchliche Basisinitiativen im Geiste von „Evangelii gaudium“
Es würde ein verzerrtes Bild der „polnischen“ Kirche abgeben, wollte man nur die angesprochene Diskrepanz zu „Evangelii gaudium“ in den Blick nehmen. Es gibt durchaus positive Erscheinungen, die eine Affinität zu der von Papst Franziskus angestrebten Reform aufweisen. Dies gilt insbesondere für die vom Papst vehement geforderte Option für die Armen, für die es in Polen reichlich Beispiele gibt: Hospize für sterbenskranke Menschen, Obdachlosenheime, Frauenhäuser, Behindertenwerkstätten, Babyklappen. So unterhält die Ordensschwester Małgorzata Chmielewski mit ihrer Stiftung zahlreiche solcher Einrichtungen. Ihre Maxime: Erst muss den Armen geholfen werden, „erst dann kann ich ihnen in der Kirche die Hand zum Friedensgruß reichen.“ (TP 49/2013, S. 19)
Papst Franziskus fordert einen „Aufbruch“, um „alle Randgebiete zu erreichen.“ (EG 220) Dem entspricht u. a. der Dominikaner Jan Góra, der jährlich tausende zumeist kirchlich abständige Jugendliche auf den Feldern von Lednicka versammelt, um ihnen lebensnah den Glauben zu vermitteln. Auf andere Weise ist der Krakauer Weihbischof Grzegorz Ryś bemüht, mit seinen Aktionen einer Neuevangelisation bei Randchristen den Glauben neu zu wecken. Zudem organisiert er Foren, auf denen Gläubige und Nichtglaubende im Dialog über brennende Fragen unserer Zeit einander begegnen.
Unternehmungen der polnischen Bischofskonferenz
Am 9. Oktober 2013 verabschiedeten Polens Bischöfe verbindliche Richtlinien zur Regelung von Missbrauchsfällen. Wie in anderen Ländern, so war auch in Polen die Praxis verbreitet, sexuelle Skandale von Priestern nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, um – wie man meinte – dem guten Ruf der Kirche nicht zu schaden. Damit soll nun Schluss sein. Die Richtlinien sind von der Sorge um die Opfer bestimmt, denen Gerechtigkeit widerfahren soll und therapeutische Hilfe zugesagt wird. Allerdings schließt die Kirche Entschädigungszahlungen an die Opfer ebenso aus wie eine Anzeige bei erwiesenem Missbrauch. Diese sei von den Opfern zu stellen wie sie allein auch zuständig seien, eventuelle Entschädigungsforderungen gegenüber den Tätern einzuklagen.
Positiv zu erwähnen sind auch die Bemühungen der „polnischen“ Kirche um eine Versöhnung mit der Orthodoxie, die am 17. August 2012 mit der vom Moskauer Patriarch Kyrill I. und Erzbischof Józef Michalik unterzeichneten „Gemeinsamen Botschaft an die Völker Polens und Russlands“ zu einem ersten Erfolg führten. Dass dieser Weg weiter beschritten wird, zeigt die polnisch-russische Konferenz vom November 2013, die einer Vertiefung der Versöhnung sowie der christlichen Herausforderung im säkularisierten Europa gewidmet war. In diesem Zusammenhang verdient auch der in ukrainischer Sprache verfasste Brief der Polnischen Bischofskonferenz vom 23. Januar 2014 an die griechisch-katholische Schwesternkirche in der Ukraine Erwähnung, in dem Polens Bischöfe ihre Solidarität mit den um ihre Rechte und ihre Zugehörigkeit zu Europa demonstrierenden Ukrainern bekunden, auf den Erzbischof Światosław Szewczuk vier Tage später mit einem Dankesschreiben antwortete. Im Geiste dieser Solidarität sammelten polnische Gläubige Hilfsgüter, um die in der Winterkälte auf dem Kiewer Majdan ausharrenden Demonstranten zu unterstützen.
Des Weiteren ist an den „Tag des Judaismus“ zu erinnern, den Polens Kirche am 16. Januar zum siebzehnten Mal beging, eingeleitet mit einer ausführlichen, ganz im Geist vom „Nostra aetate“ abgefassten Erklärung der für den Dialog mit dem Judaismus zuständigen Kommission der Bischofskonferenz. Von besonderer Bedeutung aber ist, dass für den diesjährigen Tag Sandomierz für die zentralen Feierlichkeiten ausgewählt wurde, ein Ort, der bis in die Gegenwart hinein das Stigma des polnischen Antijudaismus trägt. Grund ist das aus dem 18. Jahrhundert stammende, in der dortigen Kathedrale hängende Gemälde von Karol de Prevot, das einen angeblich von Juden an einem christlichen Kind verübten Ritualmord darstellt. Seit zwei Jahrzehnten bemühte sich der Polnische Rat von Christen und Juden vergeblich darum, dass dieses Anstoß erregende Bild entweder entfernt oder mit einer Erläuterung versehen wird. Doch die Kurie in Sandomierz konnte sich weder für das eine, noch für das andere entscheiden. Unter dem Druck der Proteste verhüllte sie 2006 das Bild und entzog es damit dem Betrachter. Nun wurde es wieder enthüllt und mit einer Tafel versehen, auf der ausführlich begründet wird, warum die Darstellung mit der historischen Wahrheit nichts gemein hat und der angebliche Ritualmord als Vorwand zur Judenverfolgung diente.
Kirche als bedrohte Festung
Fragt man nach den Gründen der für Polens Kirche charakteristischen defensiven Festungsmentalität, dann weiß man sich auf die Zeiten der Fremdherrschaft und nationaler Bedrohung verwiesen, in denen sich Polens Kirche als Hort und Anwalt der Nation in der Pflicht wusste. Aber lässt sich diese traditionelle Rolle auf das demokratische und pluralistische Polen der Gegenwart übertragen? Zu welchen Konsequenzen eine solche Übertragung führt, ist an der medialen Wirksamkeit von Pater Tadeusz Rydzyk ersichtlich. Der Dominikaner Ludwig Wiśniewski, der sich wiederholt gegen die von den Bischöfen geduldeten, teilweise unterstützten und seiner Meinung nach höchst schädlichen Aktivitäten von Pater Rydzyk gewandt hat, charakterisiert diese wie folgt: „P. Tadeusz verkündet, dass das Ende des freien Polen nahe ist, und der einzige Verteidiger seien er und seine Medien, in denen sich der gesunde Patriotismus verkörpere. Dass es einen skrupulös realisierten Plan der Vernichtung Polens, der polnischen Nation und der polnischen Kirche gibt. Dass Polen gegenwärtig von „finsteren Kräften“ regiert wird, die auf betrügerischem Wege zur Macht gelangten, dass sich wahrlich seit dem Jahr 1980 nichts geändert hat, ja, dass es sogar schlimmer geworden ist.“ (TP 9/2013, S. 5)
Der bedrohte Glaube
Dass der christliche Glaube stets bedroht ist, gehört zum Glaubensverständnis als solchem und bedarf keiner Diskussion. Dass diese Bedrohung umso sichtbarer wird, je mehr äußere Sicherungen wie die eines volkskirchlichen Milieus wegbrechen, ist gleichfalls unstrittig. Ebenso unstrittig ist aber auch, dass das von P. Rydzyk beschworene Bedrohungsszenarium ein Phantom ist. Es fragt sich zudem, ob überhaupt durch eine Beschwörung wirklicher oder bloß vermeintlicher Gefahren der Glaube gefestigt werden kann. Sind nicht die Stärkung persönlicher Entscheidungsfreiheit sowie eine Verkündigung, die keine Ängste erzeugt, sondern die Herzen mit der „Freude des Evangeliums“ erfüllt (EG 1), der bessere Weg? Diese Frage jedenfalls kann an den Hirtenbrief der polnischen Bischöfe „Über Bedrohungen unseres Glaubens“ vom 5. März 2013 gestellt werden. Darin geht es um Gefährdungen durch Sekten jeglicher Art. Und die Bischöfe sehen diese nicht nur im religiösen Gewand: „Die von ihnen verkündeten Parolen besitzen ein reichlich weites, nicht nur religiöses Spektrum; von satanischen Parolen über esoterisch-okkultische bis zu therapeutischen, ökologischen, karitativen und anderen.“ Doch damit nicht genug. Gewarnt wird des Weiteren vor „Yoga, Zentren unkonventioneller Medizin.“ In der Aufzählung fehlen nicht „Magie, Wahrsagerei, Zauberei, Astrologie und Hellseherei, spiritistische Sitzungen, der Glaube an die Wirkung von Amuletten und Talismane, Vertrauen auf Vorhersagen und Horoskope.“ Derlei Praktiken seien keine „harmlosen Spielereien“. Sie könnten „böse Geister“ wecken, „zur Unfreiheit verleiten, ja selbst zur Besessenheit führen, die in Polen systematisch zunimmt, wie dies die Exorzisten bekunden.“
Fragwürdige Praktiken von Exorzisten
Dieser Hirtenbrief dürfte eher Ängste wecken als dass er zur Glaubensstärkung beiträgt. Er entspricht ganz einer kirchlichen Festungsmentalität, die suggeriert, dass überall Gefahren lauern, sobald man aus dem sicheren Kirchenraum in die Welt hinaustritt. Doch die eigentliche Tragweite dieses Dokuments wird erst durch den Hinweis auf die wachsende Zahl an Exorzisten deutlich. Gab es Ende der 1990er Jahre gerade einmal vier von ihren Ortsbischöfen beauftragte Exorzisten, so gibt es heute über 200. Tendenz steigend. Sie verfügen mit dem „Exorzysta“ zudem über ein eigenes Organ. Die Redaktion versteht sich als Teil der „Ecclesia militans“ und weiß sich „dem Kampf mit dem Bösen“ verpflichtet. Selbst Kinder hat sie im Visier. Ihre fröhlichen Kinderfeste mit Verkleidungen und Zaubertricks seien Einfallstore böser Mächte. Vor derlei Gefahren – so die Autoren – „sollen die Kinder gemeinsam mit den Exorzisten bewahrt werden.“
Über die große Zahl an Exorzisten wundert man sich nicht, denn sie sehen ihre Aufgabe nicht allein darin, den kirchlichen Ritus des Exorzismus in Fällen von vermeintlicher Besessenheit anzuwenden. Sie verstehen sich auch als geistliche Psychiater, indem sie sich für zuständig halten, Menschen von Persönlichkeitsstörungen zu heilen, die ihrer Meinung nach auf die Einwirkung böser Geister zurückzuführen sind. Doch der größte Teil ihrer Aktivitäten umfasst präventive Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Menschen überhaupt in den Bannkreis von „Dämonen“ geraten. Damit ist im Verständnis der Exorzisten praktisch jeder Mensch der Gefahr ausgesetzt, dem Einfluss böser Geister zu erliegen. Angesichts solch totaler Gefährdung fühlen sich Polens Exorzisten verständlicherweise überlastet und bedrängen die Bischöfe zu immer weiteren Beauftragungen. Sie seien – wie sie von sich sagen – Tag und Nacht angefragt, um Menschen zu helfen.
Als Orientierung ihrer Arbeit dient ihnen die zweibändige „Enzyklopädie geistiger Bedrohungen“ des Jesuiten Aleksander Posacki, eines Professors für Dämonologie. Die Liste der darin aufgeführten Bedrohungen zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit dem erwähnten Hirtenbrief „Über Bedrohungen unseres Glaubens“, was die Vermutung nahe legt, dass bei seiner Abfassung offenbar Exorzisten den Bischöfen die Feder geführt haben.
Der wachsende Einfluss der Exorzisten hat aber auch Gegenkräfte auf den Plan gerufen. Grundsätzlich kritisiert wird das von den Exorzisten vermittelte dämonologisch geprägte Weltbild. Damit trete praktisch an die Stelle der befreienden Botschaft Jesu das Schüren von Ängsten. Beanstandet wird auch, dass die Exorzisten für sich in Anspruch nehmen, Menschen zu heilen, die im Grunde einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung bedürfen. Auf derlei Einwände reagieren die Exorzisten mit einer gehörigen Portion Arroganz, indem sie behaupten, die Patienten würden eben lieber bei ihnen Hilfe suchen, statt sich an die Damen und Herren im weißen Kittel zu wenden und noch dazu für langwierige Behandlungen viel Geld auszugeben. Auch dürfe die Diagnose, ob tatsächlich ein Fall von „Besessenheit“ vorliegt, nicht den Exorzisten und ihrem subjektiven Urteil überlassen bleiben. Vielmehr sei hier die Zusammenarbeit mit Psychiatern erforderlich, an der es allerdings nach allem, was man weiß, mangelt.
Diese kritischen Stimmen fanden offenbar Gehör. Inzwischen ist seitens seines Ordens Pater Posacki, dem Guru der Exorzisten, jede publizistische Äußerung untersagt worden. Und wenige Monate nach ihrem Hirtenbrief „Über Bedrohungen unseres Glaubens“ nahmen Polens Oberhirten am 26. August 2013 zu den Aktivitäten der Exorzisten Stellung. Das knapp gehaltene Kommuniqué lautet: „Die Bischöfe befassten sich mit dem Dienst der Exorzisten in Polens Kirche. Sie dankten für die Mühe dieser verantwortungsvollen Mission. Sie äußersten sich zudem zu manchen mit diesem Dienst verbundenen Gefährdungen. Sie drängten darauf, bei Einführung von Gebeten um Gesundung innerhalb der Messfeier große Vorsicht walten zu lassen. Sie beriefen außerdem ein Gremium zur Erstellung von Richtlinien für die Arbeit der Exorzisten.“ Unverkennbar spricht aus diesem Kommuniqué die Sorge über eine Entwicklung, die aus dem Ruder zu laufen droht.
Für dieses Kirchenverständnis einer bedrohten Festung lassen sich weitere Beispiele anführen. So etwa der Hirtenbrief vom 29. Dezember 2013, in dem Polens Bischöfe eindringlich vor der „Gender-Ideologie“ warnen, die „ohne Wissen der Gesellschaft und ohne Zustimmung der Polen seit vielen Monaten in verschiedene Strukturen des sozialen Lebens eingeführt wird.“ Sie sei der Effekt eines „stark im Marxismus und Neomarxismus verwurzelten Kulturwandels, gefördert von manchen feministischen Bewegungen und einer sexuellen Revolution.“ Die Bischöfe versäumen es allerdings, „gender“ als einen in der Wissenschaft verorteten Begriff klar gegenüber seiner Ideologisierung zu abzugrenzen. Dadurch kann leicht der Eindruck entstehen, „gender“ sei ein Sammelbegriff für Pädophilie, Homosexualität, Prostitution und sexuelle Manie, wie dies insbesondere aus Vorträgen des Geistlichen und Professors Dariusz Oko hervorgeht, die er landauf, landab hält, kürzlich sogar auf Einladung einer PiS nahestehenden Parlamentariergruppe „Gegen eine Atheisierung“ im Sejm. „Gender-mainstream – so die Quintessenz dieses Vortrags – dringt massenhaft und brutal in alle Lebensbereiche der Polen ein und bildet eine gewaltige Bedrohung für die Zukunft des Landes, aber auch der anderer Nationen in Europa und der Welt.“
Bedrohungsszenarien als Bumerang
Die ständige Beschwörung äußerer Bedrohung wirkt indes als Bumerang auf die Kirche zurück. Nicht nur dass durch sie die Feindseligkeit gegen Polens Kirche in der Gesellschaft wächst, auch viele Gläubige fühlen sich durch die Bedrohungsszenarien irritiert, beklagen die Undifferenziertheit kirchlicher Aussagen und halten sie bezüglich der eigentlichen Probleme der Kirche für wenig relevant; sie vermissen bei so viel Negativität eine konstruktive Auseinandersetzung mit den wirklich drängenden gesellschaftlichen und kirchlichen Fragen und wünschen sich eine offene, dialogbereite Kirche. Doch derlei Reaktionen scheinen die kirchliche Festungsmentalität eher noch zu verstärken. Angesichts solcher Fehlentwicklung bedarf Polens Kirche ganz im Geist von Papst Franzskus einer pastoralen Neuausrichtung.
In Erwartung pastoraler Reformen
Papst Franziskus hat mit „Evangelii gaudium“ keinen Zweifel daran gelassen, dass er gewillt ist, die Kirche zu reformieren. Er will keine Kirche „einer abgeschotteten Geisteshaltung“, in der es „keinen Raum mehr für andere“ gibt, zumal für „die Armen“. (2) Er sehnt sich nach einer Kirche, in welcher der Glaube „in Liebe wirksam ist, die sich der „Barmherzigkeit“ verpflichtet weiß. (39) Dazu sei eine Überprüfung tradierter „Normen oder Vorschriften“ erforderlich, die heute „ihre Kraft als Richtlinien des Lebens“ verloren haben. (43). Kirchliche Vorschriften seien „mit Maß einzufordern“, damit sich „unsere Religion nicht in eine Sklaverei“ verwandelt, wo sie doch durch „die Barmherzigkeit Gottes“ dazu berufen ist, „dass sie frei sei.“ (43) Solche Sätze wecken Hoffnungen.
Es versteht sich, dass eine derartige Neuausrichtung der Kirche nicht von heute auf morgen Wirklichkeit werden kann. Dazu bedarf es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Ein erster Schritt ist mit einer vom Papst veranlassten Umfrage bereits getan. In Vorbereitung auf die Bischofssynode, die sich im kommenden Oktober und 2015 unter pastoralem Aspekt mit Ehe- und Familienproblemen befassen wird, hat Papst Franziskus den Bischofskonferenzen, und damit auch den polnischen Bischöfen, eine Liste von 39 Fragen zukommen lassen. Diese sollten den Gläubigen zugänglich gemacht werden. Die Ergebnisse der Diskussion waren dem Sekretariat der Synode zu übermitteln. Ein in der Kirchengeschichte präzedenzloser Vorgang. Man kann in diesem Vorgehen eine Abkehr vom Klerikalismus mit seiner monologischen Struktur kurialer Anweisungen sehen, wie er in Polen besonders ausgeprägt ist.
Der Fragebogen spart keines der für die Kirche heiklen Probleme aus. Auf der Liste finden sich: das sexuelle Zusammenleben „ad experimentum“, nichtsakramentale Lebensgemeinschaften, Wiederverheiratung Geschiedener, gleichgeschlechtliche Verbindungen, mit der Geburtenregelung und der Empfängnisverhütung verbundene Probleme. Gefragt wird jeweils in der Intention, für diese schwierigen Situationen pastorale Lösungen zu finden.
Im Unterschied zu Polens Bischöfe, die den Weg der Behandlung der Fragen über interne kirchliche Strukturen und Organisationen wählten, machte der „Tygodnik Powszechny“ diese öffentlich und lud zu ihrer Beantwortung in seinem Internet-Forum ein. Als eines der besonders bewegenden Probleme erwies sich der Umgang mit der von der Kirche gebotenen Geburtenregelung aufgrund natürlicher Methoden, die jede Art von künstlicher Empfängnisverhütung ausschließt. Aufgrund einer Untersuchung durch das kirchliche Statistischen Instituts aus dem Jahr 2012 wusste man ohnehin, dass sich 46,4 % der befragten Ehepaare bei ihrer Empfängnisverhütung nicht nach der kirchlichen Morallehre richten, ein Dissens, der auch für andere Bereiche katholischer Sexuallehre ermittelt wurde. Dieser Befund fand denn auch im Internet-Forum seine Bestätigung. Doch von weit größerer Bedeutung als die bloße Bestätigung sind die erschütternden Aussagen von Eheleuten, die sich an das kirchliche Gebot halten und bei denen sich die Anwendung natürlicher Methoden als nicht praktikabel erweist: „Wir sind Jahrzehnte verheiratet. Wir haben immer nur natürliche Methoden angewandt. Doch bei meiner Frau und später auch bei mir wuchs die Angst vor einer weiteren Empfängnis. Wir haben drei Kinder – praktisch führt zu 100% ein Verkehr an fruchtbaren Tagen zur Empfängnis. Ich weiß, wie schwer meine Frau gebiert, ich weiß auch, wie schwer es sein wird, für die älteren Kinder Geduld aufzubringen. So oder so – im besten Falle gelingt es uns, alle drei oder vier Monate zusammen zu sein, aber es gibt auch Pausen von zwei bis drei Jahren. Das ist nicht leicht. Das eine ist eine bewusste Enthaltsamkeit, das andere sind Unsicherheiten, Spannungen. […] Langsam schwindet die Hoffnung, dass wir irgendwann einmal ein Leben haben, so normal, wie ich glaubte. […] Wir wurden einander immer fremder. Ich lehnte mich gegen die kirchliche Lehre auf, dann wurde ich gleichgültig, dann tauchte der Gedanke an eine andere Frau auf, und wenngleich ich meine Frau physisch nicht betrogen habe, so war mir doch eine gewisse Zeit eine andere psychisch nahe. Nun spüre ich, dass mich auf dieser Welt nicht mehr viel Gutes erwartet.“ (TP 1/2014, S. 18) Derlei Aussagen gibt es mehrere.
Die Redaktion des „Tygodnik Powszechny“ hat sich zudem gemeinsam mit der von „Znak“ und „Więź“ sowie mit Vertretern der Klubs Katholischer Intelligenz am 17.-19. Januar 2014 unter der Moderation von Bischof Grzegorz Ryś mit dem Fragenkatalog befasst und das Ergebnis der Beratungen dem Sekretariat der Bischofssynode zugeleitet. ( TP 6/2014, S. 20) Grundsätzlich beanstandet wird, dass die Ehe- und Familienpastoral im Wesentlichen aus einer Sammlung von Geboten und Verboten besteht. Das führe zu einem schablonenhaften Verhalten, ohne eine tiefere Glaubensfundamentierung, die eine selbständige Gewissensbildung ermöglichen würde. Kritisiert wurde auch eine äußerst verengte, vornehmlich auf die Verbote künstlicher Befruchtung und Bewahrung vorehelicher Keuschheit konzentrierte Sexualmoral, wodurch die Probleme von Gewalt in der Familie sowie die massenhafte Erwerbsemigration kaum in den Blick geraten würden. In Fragen der Wiederverheiratung Geschiedener wird auf einen ungelösten theologischen Widerspruch verwiesen: Einerseits werde ihnen gesagt, dass sie in ihrer Lage durchaus ihren Glauben vertiefen und das Gebet pflegen können, anderseits bleiben sie weiterhin von den Sakramenten und damit von der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. In der Homosexualität schließlich sehen die Teilnehmer der Beratung eine der gegenwärtig dringendsten Herausforderungen der Kirche: Homosexuelle Gläubige könnten aufgrund der geltenden Morallehre Gott nicht dafür danken, dass sie so geschaffen sind, wie sie sind. Zudem würden homosexuelle Beziehungen unterschiedslos verurteilt, egal ob es sich um wechselnde Partnerschaften oder um eine dauerhafte, von Vertrauen und gemeinsamer Sorge getragene Verbindung handelt.
Mit der weltweiten Befragung der Gläubigen in Vorbereitung der Bischofssynode ist die Kirche ein hohes Risiko eingegangen. Die Erwartungen, dass ihre Stimmen Gehör finden und sich ihre Aussagen am Ende in den Beschlüssen der Synode niederschlagen, sind enorm; und die Gefahr einer Enttäuschung ist beträchtlich. Auch ist mit dem Widerstand konservativer, beharrender Kräfte zu rechnen, die an der Unverrückbarkeit der „wahren“ Lehre festhalten, die pastoral ohne Abstriche umzusetzen sei, koste es, was es wolle. Ob sich die Bischofssynode gegen derlei Widerstände durchzusetzen vermag, dürfte für die Ernsthaftigkeit der von Papst Franziskus angestrebten Reformen entscheidend sein. Die innerkirchlichen Spannungen, die zumal in Polen ausgesprochen stark sind, werden wohl auf diesem Hintergrund in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Hinzu kommt, dass für die nahe Zukunft in Polen Bischofsernennungen anstehen, gehen doch insgesamt elf Bischöfe in den Ruhestand, darunter der Vorsitzende der Bischofskonferenz sowie Ordinarien wichtiger Metropolen. Man wird gespannt sein dürfen, ob die von Benedikt XVI praktizierte Ernennung vorwiegend konservativer Bischöfe eine Fortsetzung findet oder zur Stärkung der Reformkräfte mit der Berufung einem „offenen Katholizismus“ nahestehender Bischöfe ein Paradigmenwechsel erfolgt.