Die polnische Version einer „Theologie der Nation“
Den Beitrag „Theologie in Polen – eine Bestandsaufnahme“ hatte ich mit einigen Bemerkungen zu einer „Theologie der Nation“ beendet. Damals schrieb ich: „Wir haben es bei der „Theologie der Nation“ mit einem Phänomen gänzlich außerhalb des akademischen Bereiches zu tun. Es handelt sich hier vielmehr um einen Traditionsstrom, dessen Quellgründe überwiegend in der polnischen Kultur, in literarischen und philosophischen Texten, zumal der polnischen Romantik, liegen. Angesichts dieser vorgegebenen Tradition sieht sich Polens Kirche einer nationalen Erwartung ausgesetzt, der sie denn auch durch ihre stark national getönte Verkündigung zu entsprechen sucht.“ (1)
In der Frage „nach der Vertretbarkeit dieser aus dem polnischen Messianismus resultierenden ‚Theologie der Nation‘ und ihrer Neigung zu einer heilsgeschichtlichen Interpretation nationaler Geschichte“ hatte ich kritisch auf die mit ihr „verbundene Gefahr einer Sakralisierung der eigenen Nation und ihrer schicksalhaften Erfahrungen“ verwiesen, wobei diese „einen gegenwärtig virulenten, stark fremdenfeindlichen Nationalismus“ fördere.
Anschließend an diese Überlegungen soll im Folgenden die „Theologie der Nation“ thematisiert und kritisch untersucht werden, wie sie sich in der polnischen akademischen Diskussion darstellt.
Czesław Stanisław Bartnik – „Prophet der Nation“ (2)
Angesichts der geschichtlichen Erfahrungen der polnischen Nation und ihrer quasi-heilsgeschichtlichen Interpretation ist eine eigene polnische Theologie der Nation keine Überraschung. Ihr Begründer ist er Priester und Professor Czesław Stanisław Bartnik. (3) Der sein halbes Leben an der Katholischen Universität Lublin (KUL) lehrende Bartnik gilt im Bereich der Dogmatik und des katholischen Personalismus als anerkannte Autorität. Sein Publikationsverzeichnis umfasst an die 3500 Aufsätze und über 100 Bücher. Der 88jährige Bartnik beendete 2004 aus Altersgründen seine Lehrtätigkeit, ist aber weiter aktiv. Von 2006-2013 lehrte er an der von Pater Tadeusz Rydzyk gegründeten kirchlichen Hochschule für Sozial- und Medienkultur. Auch sonst ist er ihm als Mitarbeiter von „Radio Maryja“ und der Kirchenzeitung „Nasz Dziennik“ eng verbunden; Pater Rydzyk hat ihm seinerseits wegen seiner Bemühungen um eine „Theologie der Nation“ den Titel „Prophet der Nation“ verliehen.
Wenn man sich vor Augen hält, dass Professor Bartnik eine Unzahl von Magisterarbeiten und Promotionen betreut hat und 10 seiner Schüler Bischöfe wurden, einer Kardinal, dann gewinnt man einen Eindruck von seinem innerkirchlichen Einfluss. Dieser zeigt sich u. a. darin, dass seine 1988 erschienene „Polnische Theologie der Nation“ breit rezipiert wurde. Dies belegt der von ihm redigierte, eine Vielzahl von Texten unterschiedlicher Autoren umfassende, 1999 erschienene Band „Theologie der Nation“. Darin heißt es einleitend, „dass unsere Versuche einer Theologie der Nation die ersten ihrer Art in der Welt sind. Sie schaffen nichts weniger als eine neue theologische Disziplin. Doch eine neue Disziplin birgt auch noch eine große Unklarheit, Ungewissheit und Fehler in sich.“ Wie zutreffend dieses Eingeständnis ist, werden die folgenden Überlegungen zeigen.
Subjektive Faktoren als Bedingung der Möglichkeit einer „polnischen Theologie der Nation“
Die von Prof. Bartnik entworfene Konzeption einer „polnischen Theologie der Nation“ ist an sein persönliches Nationalverständnis rückgebunden und ohne dieses kaum erklärbar. Nachdem er in den 1970er Jahren die Entstehung einer Opposition begrüßt, auf die 1980 gegründete „Solidarność“ enthusiastisch reagiert und in der Besetzung der Leninwerft mit den Gottesdiensten auf dem Werkgelände, den Bildern der Schwarzen Madonna und des „polnischen“ Papstes am geschlossenen Werktor Zeichen der vom katholischen Glauben geprägten Nation gesehen hatte, änderte sich nach der politischen Wende der Jahre 1989/90 seine Einstellung. Als nun ein Prozess gesellschaftlicher Pluralisierung einsetzte, Persönlichkeiten jüdischer Herkunft wie Außenminister Bronisław Geremek und Adam Michnik, Chefredakteur der wohl bedeutendsten Tageszeitung „Gazeta Wyborza“, ihren Anteil an der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung Polens hatten und sich ein von Jerzy Turowicz, Chefredakteur des „Tygodnik Powszechny“, und von Tadeusz Mazowiecki, erster Ministerpräsidenten des freien Polens, vertretener offener, dialogbereiter, nicht nationalistisch geprägter Katholizismus zu Wort meldete, da kommentierte er diese Entwicklung wie folgt: „Mich beunruhigte, wie ich an der KUL wahrnahm, dass überwiegend polnisch-jüdische Kräfte die Kandidaten für gesellschafts-politische Ämter bestimmten“, wobei er in diesem Zusammenhang die vier genannten Persönlichkeiten namentlich anführte. Und als im Laufe der 1990er Jahre Polens Kirche erfahren musste, dass ihre Wahlempfehlungen nicht beherzigt wurden und sich ihre Moralvorstellungen – wie im Falle der Abtreibungsfrage – nicht einfach in Gesetze umgießen ließen, notierte Bartnik enttäuscht: „Die ganze unbeschreibliche Hoffnung und Freude verfinsterten neue Fehler, Sünden und Kämpfe um Macht und Geld. Mit einem Male kam es zu scharfen Attacken von Juden gegen Polen und die polnische Kirche.“(4) Diese Aussagen vermitteln ein verzerrtes, unwahres Bild jener Jahre, belegen eine nationalistische Grundeinstellung von Bartnik und lassen seine Konzeption einer „polnischen Theologie der Nation“ gleichsam als Gegenentwurf zu der nach der politischen Wende geschaffenen III. Republik eines freien und demokratischen Polens erscheinen.
Das Konstrukt einer „Theologie der Nation“
Professor Bartnik geht von der – kaum begründbaren – Prämisse aus, dass in Analogie zu Israel des Alten Bundes jede Nation von Gott erwählt ist und ihr eine besondere Mission zukommt. Dabei versteht er „Nation“ nicht als eine sich durch Abstammung, Sprache und Kultur im Laufe der Geschichte heraus bildende kollektive Einheit, sondern – essenziell theologisch – als von Gott geschaffen. Zudem spricht er ihr personale Charakteristika zu: „Die Nation besitzt eine Subjektsphäre, die von einer Gemeinschaft menschlicher Natur in eine Gemeinschaft von Personen übergeht als höchste Form kollektiver Existenz. Dieser Subjektcharakter ist keine ‚Person‘ im Sinne des Individuums, aber er besitzt etwas von einer Persönlichkeit in der Weise, dass der Nation gleichsam ein personaler Charakter eigen ist. Sie besitzt Denken, Herz, Willen, Handeln, Gefühl, Psyche. Daher sprechen wir auch in gewisser Übertragung, nicht aber fiktiv, von der ‚Seele der Nation‘, von einer ‚polnischen Seele‘‘ oder von einem ‚polnischen Geist‘. Diese Personalität der Nation ist ihre wesentlichste Gestalt, und sie entscheidet darüber, dass eine gegebene menschliche Gemeinschaft eine Nation ist und zwar eine konkrete Nation, von anderen unterschieden.“(5) Durch diese enge Verknüpfung der Nation mit der menschlichen Personalität ist für Bartnik „die Nation nach Individuum und Familie die dritte notwendige Gestalt der Anthropogenese“. Daraus resultiere, dass sich das Individuum, wolle es sich als Mensch voll entfalten, mit der Nation identifizieren müsse. „Das Individuum ist eine in der Nation, dank der Nation und durch die Nation lebende Person.“(6)
Wenn, wie Bartnik postuliert, die Nation den für jeden einzelnen Menschen wichtigen Lebenssinn und die seine Humanität bestimmenden Werte in sich birgt, dann kann er ihr gegenüber nicht gleichgültig sein. Er steht vielmehr unter dem Druck, sich mit der Nation zu identifizieren. Verweigert er sich dieser nationalen Forderung wie „Kosmopoliten, Postmodernisten und Liberale“, denen Bartnik allesamt einen Mangel an Nationalbewusstsein und Patriotismus unterstellt, dann würden sich diese als Feinde der Nation und Verächter wahren Menschseins erweisen.
Doch die Nation ist auf Vermittlung der ihr zugeschrieben Charakteristika angewiesen. Daher ist zu fragen, wer denn im Namen der Nation ihr Denken zum Ausdruck bringt und ihren Willen vollzieht. Im Unterschied zu einer durch Pluralität der Denkweisen, Willensbekundungen und Handlungsziele bestimmten Gesellschaft, deren Entscheidungen ein Prozess demokratischer Meinungsbildung vorausgeht, verlangt das Bartnik eigene Verständnis der Nation ihre Propheten und Führer als Verkündiger und Vollstrecker ihres Willens. Damit ist dieser Entwurf prinzipiell undemokratisch und zeigt eine Nähe zu einem autoritären, wenn nicht gar diktatorischen System.
Theologisch-kritische Einwände
Die von Professor Bartnik offerierte Version einer „Theologie der Nation“ blieb in Polen nicht ohne theologischen Widerspruch. Mit ihr setzte sich insbesondere der Kattowitzer Dogmatiker Grzegorz Strzelczyk auseinander. Anders als Bartnik sieht er in ihr eine mögliche Form der Befreiungstheologie, eine Sichtweise, die in Anbetracht eines jahrhundertelangen Kampfes der polnischen Nation gegen die Aufteilung ihres Landes sowie gegen anhaltende Unterdrückung und Knechtung durchaus vertretbar ist. Eine „polnische“ Theologie der Nation würde sich dann allein auf diese spezielle, zeitlich begrenzte geschichtliche Situation beziehen und nicht – wie bei Bartnik – aufgrund ontologischer und theologischer Bestimmung der Nation uneingeschränkt für jede geschichtliche Situation gelten.
Für Bartnik sei – wie Strzelczyk ausführt - die „allerwichtigste Quelle“ für die Gestaltung einer Theologie der Nation ihre konkrete und volle Existenz. Ihr komme aufgrund der Offenbarung eine theologische Wertigkeit zu. Dabei greife Bartnik zur Begründung allerdings äußerst selektiv auf die Offenbarung zurück indem er sich vor allem auf das Alte Testament berufe und zwar auf jene Texte, die von der Auserwählung Israels handeln. Dies führe zu einer „Verkehrung“, nämlich „zu einem Rückgriff auf die Offenbarung im Lichte der von Bartnik konstruierten Theologie der Nation, an Stelle eines Rückgriffs auf die Wirklichkeit im Lichte der Offenbarung.“(7) Anders gesagt: Bartnik „geht es nicht um eine integrale Lehre christlicher Offenbarung, sondern um eine selektive – er greift das auf, was er für die Interpretation der Erfahrung für nützlich erachtet.“(8)
Abgesehen davon, dass Bartniks Übertragung göttlicher Auserwählung auf jede Nation durch nichts begründet ist, stützt das Alte Testament keineswegs die von ihm betriebene theologische Überhöhung der Nation. So lässt sich beispielsweise aus der Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gn 11, 1-9) Gottes ursprüngliche Absicht einer Einheit der Menschheit erschließen, die durch menschlichen Größenwahn zerstört wurde, als dessen Folge sich die Menschheit in unterschiedliche Sprachen und Nationen spaltete. Doch Jahwe hält heilsgeschichtlich an der künftigen alle Völker umfassenden Einheit fest. Nach dem Propheten Jesaja ist die besondere Erwählung Israels auf eben diese eschatologische Einheit ausgerichtet (Jes 2, 1.4.) Dieser Universalismus findet im Neuen Testament seine Bestätigung und Weiterführung. So lässt sich die pfingstliche Geistsendung als verheißungsvoller Gegenentwurf zum Turmbau zu Babel verstehen (Apg 2, 1-13). Auch die Überwindung der Trennung zwischen Juden und Griechen erweist sich durch die „Katholizität“ der paulinischen Gemeinden als Vorschein jener gottgewollten Einheit aller Sprachen und Nationen (Kol 3,11). Die Heilige Schrift, auf die sich Bartnik zur Begründung seiner „Theologie der Nation“ beruft, kann somit nicht für seine Thesen in Anspruch genommen werden. Sie legt vielmehr in Hinblick auf die künftige „Aufhebung“ aller Nationen statt einer theologischen Überhöhung ihre Relativierung nahe.
Theologie der Nation oder nationale Ideologie?
Die Vermutung liegt nahe, dass die von Prof. Bartnik entworfene „Theologie der Nation“ in Wahrheit ideologischen Zwecken dient, um eine den Forderungen der Kirche entsprechende nationalistische Politik zu rechtfertigen und durchzusetzen. Dieser Verdacht findet seine Bestätigung, wenn man die vornehmlich im „Nasz Dziennik“ publizierten Beiträge von Bartnik in den Blick nimmt. So begrüßte er geradezu hymnisch die von der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ mit absoluter Mehrheit im Herbst 2015 gewonnene Wahl: „Und mit einem Male erscheint hier ein Polen wie der Erzengel Michael mit Gott im Herzen, ein Verteidiger der Kirche, das Schwert gegen Satan gerichtet. […] Es erwacht eine von Gott und dem Christentum inspirierte Kultur, der geniale polnische Geist gewinnt an Leben, ein Bewusstsein von Würde und Ehre erfüllt die Nation, die Freude der Gotteskindschaft verleiht den Menschen Flügel der Hoffnung zu einem zeitlichen und ewigen Leben. […] Der Präsident und der Präses der siegreichen Partei gehen zur heiligen Kommunion. […] (9) Frau Ministerpräsidentin ist wie die wahre Polnische Mutter aus polnischen Epen. […] Kaum zu glauben, dass dieses allerhöchste Gut von Menschen bösen Willens am allermeisten gehasst werden kann.“(10)
Und als Beleg noch ein weiteres Zitat. Den „schwarzen Marsch“ der Frauen als Protest gegen die von der PiS-Regierung beabsichtigte Aufkündigung des bewährten Kompromisses in der Abtreibungsfrage und gegen die ihn ersetzende Gesetzesvorlage eines totalen Abtreibungsverbots kommentierte Bartnik wie folgt: „So etwas war nicht zu erwarten, dass es gewisse gesellschaftliche Gruppierungen gibt, so „schwarz“, so unverantwortlich, marktschreierisch, brutal, in der Gestalt eines ‚schwarzen‘ Protestes, der darauf abzielt, unser polnisches Haus nicht nur materiell, sondern auch geistig, moralisch und religiös zu zerstören.“(13) Die Autoren des Textes „Prophet der Nation“ sehen in dieser Art Publizistik „die beste Falsifizierung des wissenschaftlichen Werks der Konzeption einer Theologie der Nation.“ (14) Mit dieser Sakralisierung der Politik der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die kaum zufällig ihren Namen der Heiligen Schrift (Jer 9, 23; Psl 32,5; 88,13: 96,2) mit dem Anspruch entlehnt hat, Gottes Verheißung zu erfüllen, die aber unter Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien das demokratische System in ein autoritäres Regime verwandelt, die sich einer aggressiven Sprache bedient, unter Benutzung von Verschwörungstheorien ihre politischen Gegner zu nationalen Feinden abstempelt und entsprechend bekämpft, die sich in der Flüchtlingsproblematik dem Gebot der Barmherzigkeit widersetzt, erweist sich letztendlich die von Prof. Bartnik entworfene „Theologie der Nation“ als Ideologie im Dienste politischer Macht.
Erstveröffentlichung: imprimatur 1/2017
(1) Vgl. imprimatur 3/2016.
(2) Czeslaw Stanislaw Bartnik, Polska Teologia Narodu, Towrzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubielskiego, Lublin 1988. Drs. (Hrsg), Teologia Narodu, Czestchowa 1999.
(3) Mariusz Sepiolo/Artur Sporniak, Prorok Narodu (Prophet der Nation“), Tygodnik Powszechny v. 13. 11. 2016, S. 12. In meinen Ausführungen stütze ich mich vornehmlich auf diesen Beitrag.
(4) HIer zitiert nach Adam Boniecki, Kłopoty z polską teologią narodu (Schwierigkeiten mit einer polnischen Theologie der Nation), Tygodnik Poszechny v. 28. 08. 2016, S. 3.
(5) Mariusz Sepiolo/Artur Sporniak, Prorok Narodu, aaO., S. 12.
(6) Ebd.
(7) Grzegorz Strzelczyk, Kłoppoty z teologią narodu (Schwierikkeiten mit einer Theologie der Nation), Więź 1/2016, S. 34-43.
(8) Mariusz Sepiolo/Artur Sporniak, Prorok Narodu, aaO., S. 13
(10) Ebd.
(11) Ebd., S. 13.
(14) Ebd., S. 14.