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Theologie in Polen – eine Bestandsaufnahme

Theologie in Polen – eine Bestandsaufnahme

Auf dem ersten Blick bietet die Theologie in Polen ein eindrucksvolles Bild. Während in der kommunistischen Zeit, von der theologischen Ausbildung in Priesterseminaren abgesehen, die Möglichkeit, Theologie zu studieren, auf die Lubliner Katholische Universität sowie auf die Warschauer Kardinal-Stefan Wyszyński-Universität beschränkt blieb, kam es nach der europäischen Wende der Jahre 1989/90 zu einem Ausbau theologischer Zentren und Fakultäten. Neben der in Krakau gegründeten, Johannes Paul II. gewidmeten Universität und den eigenständigen theologischen Abteilungen in Breslau und Warschau gelang es, an sechs staatlichen Universitäten theologische Fakultäten zu installieren, u. a. in Oppeln, wo, von Bischof Alfons Nossol initiiert und gefördert, seit Jahrzehnten eine enge Kooperation mit der theologischen Fakultät der Universität Münster besteht. Diese insgesamt elf theologischen Einrichtungen verfügen über rund 700 wissenschaftliche Mitarbeiter, unter ihnen immerhin 100 Frauen, allerdings bei einem deutlichen Übergewicht von 530 Klerikern.

Theologie in Polen auf dem Prüfstand

Fragt man jedoch nach Qualität und Bedeutung der Theologie in Polen, dann ergibt sich ein wenig erfreuliches Bild. Artur Sporniak, Leiter der für Glaubensfragen zuständigen Abteilung des „Tygodnik Powszechny“, benennt in seinem Beitrag(1) ihre Defizite und Krisensymptome. So sei es bezeichnend, dass man im Ausland kaum etwas über die polnische Theologie wisse und es auch keinen namhaften polnischen Theologe gäbe, der international bekannt wäre. Unter Berufung auf eine von Professor Andrzej Napiórkowski erstellte Diagnose vermerkt Sporniak, die polnische Theologie sei in einem „beklagenswerten Zustand. Es mangelt ihr an Selbstständigkeit, an Mut; sie greift keine für die Menschen wichtigen Fragen auf, ist epigonal, redet dem Lehramt nach dem Mund. Sie verweigert sich dem Dialog mit der Kultur, steht mit der Spiritualität in einer nur schwachen Verbindung, beruft sich selten auf die Heilige Schrift und ist klerikalisiert.“(2)

Den polnischen Theologen fehlt es offenbar an der nötigen Risikobereitschaft. Statt dem Magisterium – um ein von Kant gebrauchtes Bild aufzugreifen – mit der Fackel voran zu leuchten, trägt man ihm lieber die Schleppe nach. So bemängelt der Dominikaner Bogusław Kochaniewicz die Vorliebe für eine unkritische Kommentierung päpstlicher Rundschreiben. Dieses Defizit an Originalität zeige sich auch in der Häufung von theologischen Arbeiten unter Bezugnahme auf Texte von Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI., bei denen man vor einer möglichen Beanstandung sicher sein könne. Bei so viel Scheu vor Konflikten verwundert es nicht, dass es kaum einmal unter polnischen Theologen zu einer kontroversen Debatte kommt. Auf Anfrage des „Tygodnik Powszechny“ konnten die befragten Theologen lediglich eine einzige derartige Debatte benennen, und die liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Sie betraf die nicht gerade für die moderne Theologie zentrale Frage nach der Hölle; und dies nicht einmal nach ihrer Existenz, sondern ob sie „leer“, also unbevölkert sein könne.

Strukturelle Defizite

Ohne theologische Kontroversen keine lebendige Theologie. Der Dogmatiker Grzegorz Strzelczyk sieht in der bei Theologen beliebten Absicherung durch das kirchliche Lehramt geradezu die „Erbsünde polnischer Theologie“. Begründet sei sie durch strukturelle Defizite. So fehle es an einem theologischen Austausch zwischen den verschiedenen theologischen Einrichtungen. Diese theologische Selbstbezogenheit habe eine Horizontverengung sowie eine theologische Stagnation zur Folge. Zudem zeige sich eine „strukturelle Schwäche“ darin, „dass die Theologie in Polen im großen Maße auf die Bedürfnisse von Pastoral und Katechese ausgerichtet ist.“ Auch wirke noch die Situation unter der kommunistischen Herrschaft nach, als die Theologie isoliert gewesen sei. „Es wuchsen einige Generationen von Theologen heran, die an einen interdisziplinären Dialog nicht gewöhnt sind.“(3) Professor Strzelczyk beklagt des Weiteren ein aus der kommunistischen Zeit resultierendes Manko – das Bemühen der Bischöfe, alles, auch die Theologie, unter ihrer Kontrolle zu halten. In den Jahrzehnten kommunistischer Unterdrückung, als Partei und Sicherheitsapparat auf verschiedene Wese versuchten, in der Kirche Zweitracht zu säen und sie dadurch zu schwächen, waren beim Episkopat Eigenständigkeit der Theologie und theologische Auseinandersetzungen höchst unerwünscht, weil er befürchtete, dies könne die Einheit und Geschlossenheit der Kirche gefährden und den Kommunisten in die Hände spielen. Primas Wyszyński hat damals, zumal während des zweiten Vatikanums und in den Folgejahren, mehrfach derartige, von ihm als gefährlich eingeschätzte theologische Tendenzen unterbunden. Ein entsprechendes Verhalten, so Strzelczyk, wirke bei den Bischöfen bis heute nach. Daher würden sie auch keine sonderliche Neigung zu einem Dialog mit ihren Theologen zeigen. „Bis heute werden Probleme innerhalb der Kommissionen des Episkopats behandelt und dazu einzelne Experten eingeladen. Offene Diskussionen werden dagegen nicht geführt. Aber auch dazu müssten sich die Theologen als würdig erweisen, indem sie zeigen dass sie nicht nur wiederholen, was das Lehramt sagt“ – was offenbar nicht oder nur selten geschieht. (4)

Wie wenig der polnische Episkopat bereit ist, Anstöße seiner Theologen aufzugreifen und zu vertreten, zeigte sich im Zusammenhang mit dem vorjährigen Kongress polnischer Dogmatiker. Er stand in Hinblick auf die zweite Phase der Römischen Bischofssynode im Zeichen der Familie. Auf ihm waren einige Theologen der Ansicht, dass sich – unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Situation – in manchen Fällen Gläubige nicht im Zustand der schweren Sünde befinden würden, wenn sie in einer nichtsakramentalen Ehe leben. Unter Vermeidung eines Ärgernisses könne ihnen daher durch einen Akt der Buße der Weg zum Empfang der Eucharistie eröffnet werden.

Auf diesem Kongress war der Posener Erzbischof und Vorsitzende der Bischofskonferenz Stanisław Gądecki anwesend, der wenig später die polnische Delegation auf der Bischofssynode anführte. Wer erwartet hatte, dass er den Anstoß seiner heimischen Dogmatiker in Rom zur Sprache bringen würde, sah sich enttäuscht. Wie bekannt, vertrat die polnische Delegation in Rom die harte Linie bisheriger Regelung, wonach, unbeschadet der näheren Umstände, jeder Katholik, der in einer nichtsakramentalen Beziehung lebt, vom Kommunionempfang ausgeschlossen ist.

Die Bedeutung theologischer Diskussion außerhalb des universitären Bereichs

Wenngleich sich im engeren akademischen Raum kaum theologische Diskussionen ausmachen lassen, so bedeutet dies jedoch nicht, dass es diese überhaupt nicht geben würde. Sie finden in katholischen Zeitschriften sowie neuestens im Internet ihren Niederschlag, ein Bereich, der weitgehend bischöflicher Kontrolle entzogen ist. Auf diesem Feld sind die Fronten scharf getrennt.: auf der einen Seite die Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, die Krakauer Monatsschrift „Znak“ und der vierteljährlich erscheinende „Więź“, Organe mit einer theologischen Ausrichtung auf einen offenen, dialogischen Katholizismus; auf der anderen Seite die stark traditionalistisch und nationalkatholisch geprägten Blätter „Christianitas“ und „Teologia Polityczna“, die sich nicht scheuen, selbst Papst Franziskus ins Visier zu nehmen, dem sie vorwerfen, „mit seinen Aussagen, seinem Verhalten und seinen Entscheidungen“ Verwirrung zu stiften. Selbst der ‚polnische‘ Papst Johannes Paul II. erfährt in dieser Medienlandschaft Kritik. So vertrat unlängst die konservative Zeitschrift „Pressje“ die These, sein „Einverständnis mit der liberalen Demokratie“ sei ein Fehler gewesen. (5)

Auf einen Text soll in diesem Zusammenhang näher eingegangen werden. Er liegt ein knappes Vierteljahrhundert zurück, löste eine heftige, sich über einen längeren Zeitraum hinziehende Debatte aus und entstammt der Feder des seiner Zeit sehr einflussreichen Priesters und Philosophen Józef Tischner (1931 – 2000.) Erschienen ist er im Januarheft der Zeitschrift „Znak“ unter dem Titel „Das Ende des thomistischen Christentums“. (6)

Angesichts des damals in der Theologie vorherrschenden Thomismus stellte dieser Beitrag eine Provokation dar und wurde mit Luthers Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche verglichen. Er trug denn auch seinem Verfasser reichlich Widerspruch und Anfeindung ein. Einleitend registriert Tischner den alle Bereiche der modernen Wissenschaft umfassende Konflikt mit dem thomistischen Weltverständnis. Daraus folgert er, „dass sich heute ein Katholizismus, der immer wieder seine Doktrin der ‚Glaubensrechtfertigung‘ mit aus dem Thomismus geschöpften Begriffen verbindet, im Stadium einer inneren Krise befindet.“(7) Tischner erkannte damit deutlich, dass der Thomismus im philosophischen Diskurs marginal geworden war. Während er in früherer Zeit sehr wohl eine Synthese zwischen Wissenschaft, Philosophie und Glaube zuwege gebracht hatte, war er nun der Konfrontation mit der modernen Wissenschaft und Philosophie nicht mehr gewachsen. Um nicht weiter auf verlorenem Posten zu stehen und mit den modernen Geistesströmungen in einen Dialog eintreten zu können, hielt Tischner eine fundamentale Überprüfung des in Polen herrschenden, vom Thomismus geprägten Modells des Christentums für geboten. Anders als die Neothomisten machte er die neuzeitliche Philosophie nicht für die geistige Krise der Zeit verantwortlich und warnte vor der Gefahr einer Nostalgie, bei der man den Verlust eines philosophischen Systems beklagt, das mit Hilfe einiger klarer Grundsätze vorgibt, die Geheimnisse des Glaubens und der menschlichen Existenz erhellen zu können. Dem hielt er in der Schlussbemerkung seines Textes entgegen, dass es sich beim Ende des Thomismus um einen „normalen Vorgang“ handle, weil jede Philosophie, und damit auch der Thomismus, der Zeit und dem geschichtlichen Wandel unterliege. Dagegen würde sich ein System, das für sich Absolutheit beanspruche, über die Zeit erheben und gegen die Geschichtlichkeit jeder Philosophie und jeden Philosophierens verstoßen. Daher sollte „die Trennung des Thomismus vom Christentum keine Verwunderung erwecken“, denn die Offenbarung sei so gewaltig groß, „dass sie nicht mit menschlichen Begriffen, auch nicht mit philosophischen, auszuschöpfen ist.“((8)

Tischner beschließt seine Überlegungen mit Sätzen von bleibender Aktualität: „Wie in jeder Philosophie die Negativität ihrer selbst verborgen liegt, so verbirgt sich im Christentum eine heimliche Negation jeder Philosophie, die seinen Gehalt restlos ausschöpfen möchte. In bestimmten Epochen der Geschichte treten die verborgenen Negationen ans Licht. Dann entsteht der Anschein einer neuen, unerwarteten, beunruhigenden Disharmonie. Im Grunde handelt es sich aber lediglich um den Vorschein von etwas Neuem.“ (9)

Das Erbe von Reformation und Aufklärung

Artur Sporniak beschränkt sich in seinem Beitrag auf eine Zustandsbeschreibung der Theologie in Polen. Er fragt nicht nach den geschichtlich vorgegebenen Bedingtheiten, die ihr heutiges Erscheinungsbild mit bestimmen und die für den deutlichen Unterschied zwischen der deutschen und der polnischen Theologie eine Erklärung bieten können. Als solche geschichtlichen Vorbestimmungen sind Reformation und Aufklärung zu verstehen.

Die Reformation blieb in Polen eine Episode.(10) Getragen wurde sie vor allem vom Landadel, der so genannten Schlachta, die sich von ihr einen größeren politischen Einfluss versprach und nach Erreichen ihrer Ziele zum großen Teil wieder zum alten Glauben zurückkehrte. Natürlich gab es zu jener Zeit auch theologische Auseinandersetzungen und eine starke gegenreformatorische Bewegung, aber sie besaßen längst nicht jenes Gewicht und jene Brisanz wie im Lande Luthers. Vor allem führten sie nicht zu blutigen Konflikten. Während im Westen der Dreißigjährige Krieg herrschte, bei dem sich Katholiken und Protestanten in zwei feindlichen Lagern gegenüber standen und der weite Teile Europas verwüstete, blieb Polen, vom Schwedeneinfall einmal abgesehen, von diesen Schrecknissen verschont. Und während es im Westen bis 1648 dauerte, ehe in Münster mit dem Westfälischen Frieden diese für beide Konfessionen leidvolle Zeit ein Ende fand, war in Polen bereits 1573 mit der Konföderation von Warschau die Gleichberechtigung aller religiösen Bekenntnisse beschlossen worden.

Von nicht geringer Bedeutung für diesen friedlichen Verlauf war das zu jener Zeit alles andere als selbstverständliche vorreformatorische Erbe religiöser Toleranz, das es beispielsweise ermöglichte, dass jene, die – wie Juden und Böhmische Brüder – in ihrer Heimat um ihres Glaubens willen verfolgt wurden, in Polen Zuflucht fanden.

Mit diesen vorreformatorischen und reformatorischen Gegebenheiten war in Polen zugleich eine gegenüber dem westlichen Europa grundsätzlich andere Ausgangslage für die Aufklärung verbunden. Im Unterschied zur westlichen Aufklärung, die u. a. als Protest der Vernunft gegen eine durch den Dreißigjährigen Glaubenskrieg verschuldete leidvolle Geschichte war und als Konsequenz eine nicht mehr auf der „christianitas“, sondern auf den Prinzipien der Vernunft basierende, von Religionskritik begleitete gesellschaftliche Neuordnung einforderte, erwies sich die polnische Aufklärung als Versuch einer durchaus mit dem christlichen Glauben in Einklang stehenden politisch-moralischen Aufrüstung der Nation unmittelbar vor der langen Phase der Aufteilung des Landes durch fremde Mächte.

Die Folgen dieser hier kurz skizzierten Entwicklung für die Theologie in Polen liegen auf der Hand: Sie stand zu keiner Zeit in einer mit Deutschland vergleichbaren Situation der Herausforderung, sich gegenüber einem protestantischen Glaubensverständnis und dem Rationalismus der Aufklärung und ihrer Religionskritik zu rechtfertigen und zu behaupten. Für sie gab es daher weder einen besonderen Zwang noch einen ausreichenden Anlass für ein selbstkritisches Überdenken eigener theologischer Ansichten. Dies ist einer der Gründe, warum es der Theologie in Polen an der nötigen Dynamik mangelt, was ihre relative Unbeweglichkeit sowie die Tendenz erklärt, auf traditionellen Positionen zu beharren, statt sich neuen geistigen Herausforderungen zu stellen.

Die geschichtliche Relevanz der „Taufe Polens“

Polens Kirche sieht ihren Beginn und – damit verbunden – den der polnischen Nation und des polnischen Staates in der 1050 Jahre zurückliegenden Taufe des Piastenfürsten Mieszko I., und sie versteht diesen Akt zugleich als „Taufe Polens“. Entsprechend wurde dieses Gedenken in Anlehnung an das Millennium des Jahres 1966 feierlich begangen. Damals hatte sich Polens Kirche unter Leitung von Primas Stefan Wyszyński mit einer neunjährigen Novene auf diese Tausendjahrfeier vorbereitet. Eine Kopie des Gnadenbildes der Schwarzen Madonna pilgerte durch das Land, wurde in den Pfarreien festlich empfangen, wo die Gläubigen vor der Ikone das Gelöbnis ablegten, sich „in die Knechtschaft Mariens für die Freiheit der Kirche und des Vaterlandes“ zu geben. Auch während des diesjährigen kleinen Jubiläums zog eine Kopie des Gnadenbildes für kurze Zeit durch Polens Straßen, gab es eine neuntägige Vorbereitung auf ein Gelöbnis, durch das der polnische Episkopat sich selbst, die Kirche im Lande und die Polonia der Gottesmutter anvertraute. Auf diese Weise wurde die Einheit von Kirche und Nation erneut beschworen und die Intention des Millenniums auch für die heutige Zeit bekräftigt. Was dies konkret bedeuten kann, erläutert die Chefredakteurin von „Niedziela“ in ihrem Kommentar zum Jubiläum. Sie ruft zu „einem starken Glauben für ganz Europa“ auf, „besonders in der Situation, in der dem Alten Kontinent die ernste Gefahr einer Überflutung durch den Islam droht und über dem Kontinent das Gespenst des Untergangs lateinischer Zivilisation schwebt.“ Sie erinnert an die polnische Republik vergangener Zeiten, welche „die Rolle einer Vormauer des Christentums erfüllt“ habe, und sieht Polens Aufgabe darin, „auch heute eben diese Mission zu erfüllen.“(11)

Die Problematik einer „Theologie der Nation“

Hinter einem solchen Denken verbirgt sich eine „Theologie der Nation“, die ihre Ausprägung durch den polnischen Messianismus erfahren hat. Sein Hauptvertreter ist Adam Mieckiewicz (1798 – 1855), Polens bedeutendste Dichtergestalt. Der „satanischen Trinität“ der damaligen Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich begegnet er unmittelbar nach dem verlorenen Novemberaufstand (1830/31) mit einer sinnstiftenden theologische Deutung des leidvollen Schicksals seines Volkes: „Die polnische Nation wurde gemartert und ins Grab gelegt, worauf die Könige riefen:: ‚Getötet und bestattet haben wir die Freiheit.‘ Doch ihr Rufen war Dummheit. Mit ihrem letzten Verbrechen ward das Maß ihrer Untaten voll, und ihre Macht endete, da ihr Jubel am größten. Denn die polnische Nation starb nicht. Zwar liegt ihr Leib im Grab, doch ihre Seele erstand von der Erde, das heißt, sie entwich aus dem öffentlichen Leben, hin in den Abgrund, in das verborgene Leben der unter Unfreiheit leidenden Völker in der Heimat und außerhalb ihrer – um ihre Leiden zu schauen. Doch am dritten Tag kehrt die Seele in den Leib zurück und die Nation ersteht von den Toten und befreit alle Völker Europas aus der Knechtschaft.“ (12)

Diese in der Zeit der Teilungen grundgelegte Denkweise verfestigte sich durch die im Zweiten Weltkrieg erfahrenen schrecklichen Leiden, diente als Deutungsmuster des gescheiterten Warschauer Aufstandes, stärkte Widerstandskraft und Hoffnung in den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft. Auch heute ist diese „Theologie der Nation“ spürbar und gewinnt durch die nationalkonservative, von der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) total dominierten Regierung neuen Auftrieb. Dies zeigt sich beispielsweise an der von ihr betriebene Sinnstiftung der Flugzeugkatastrohe von Smolensk, bei der an die hundert politisch und gesellschaftlich hochrangige Persönlichkeiten ums Leben kamen, unter ihnen Präsident Lech Kaczyński. Dieser tragische Unfall erfährt eine Deutung als ein durch fremde Mächte herbeigeführtes Attentat und nationales Martyrium sowie – im Sinne einer Auferstehung eines neuen Polen - als Gründungsmythos der von PiS angestrebten IV., sich gegen das Vierteljahrhundert „postkommunistischer Ära“ abhebenden Republik.

Wir haben es bei der „Theologie der Nation“ um ein Phänomen gänzlich außerhalb des akademischen Bereiches zu tun. Es handelt sich hier vielmehr um einen Traditionsstrom, dessen Quellgründe überwiegend in der polnischen Kultur, in literarischen und philosophischen Texten, zumal der polnischen Romantik, liegen. Angesichts dieser vorgegebenen Tradition sieht sich Polens Kirche einer nationalen Erwartung ausgesetzt, der sie denn auch durch ihre stark national getönte Verkündigung zu entsprechen sucht.

Zu fragen ist allerdings nach der Vertretbarkeit dieser aus dem polnischen Messianismus resultierenden „Theologie der Nation“ und ihrer Neigung zu einer heilsgeschichtlichen Interpretation nationaler Geschichte. Die Theologie in Polen steht hier eigentlich vor der Herausforderung, sich in Wahrung der unaufhebbaren Differenz von christlicher Heils- und säkularer Weltgeschichte kritisch gegen die mit einer „Theologie der Nation“ verbundenen Gefahr einer Sakralisierung der eigenen Nation und ihrer schicksalhaften Erfahrungen zu wenden, zumal diese Sakralisierung einen gegenwärtig virulenten, stark fremdenfeindlichen Nationalismus fördert. Diese kritische Funktion wird jedoch von polnischen Theologen nur vereinzelt wahrgenommen, und wenn, dann sehen sie sich häufig dem Vorwurf konfrontiert, an Polen Verrat zu üben.

Erstveröffentlichung: imprimatur 4/2016

(1) A. Sporniak, Kościelny ból głowy (Kirchlicher Kopfschmerz), Tygodnik Powszechny v. 05. 06. 2016, S. 32-34. Der etwas seltsame Titel erklärt sich auf dem Hintergrund einer vorangegangenen Serie über charismatische und meditative innerkirchliche Gruppierungen, die mehr vom „Herz“, weniger vom „Kopf“ her bestimmt sind.

(2) Ebd., S. 33.

(3) Ebd., S. 34

(4) Ebd.

(5) Ebd.

(6) Józef Tischner, Schyłek chrześciaństwa tomisticznego, Znak Nr. 187 – 1/1970.

(7) Ebd., S. 2.

(8) Ebd., S. 19.

(9) Ebd., S. 20.

(10) Theo Mechtenberg, Toleranz – ein Erbe der Reformation; in: Orientierung, Nr. 8 vom 30. 04. 1977.

(11) Lidia Dudkiewicz, W kolebce naszego życia na wieki (In der Wiege unseres Lebens für alle Zeit), Niedziela Nr. 17 v. 24. 04. 2016, S. 3.

(12) Adam Mieckiewicz, Księgi naordu polskiego i pielgrzymstwa polskiego (Bücher der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft) , Werke Bd. VI, S. 17.

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