Der Bruder unseres Gottes - Wegzeichen der Barmherzigkeit
Evangelii Gaudium, das Apostolische Schreiben von Papst Franziskus, traf nicht nur auf Zustimmung. Kritisiert wurden vor allem seine Äußerungen zu einer autonomen, den freien Marktkräften überlassenen Wirtschaft sowie zu den riskanten Finanzspekulationen, deren krisenhafte Erschütterungen wir in den vergangenen Jahren schmerzhaft zu spüren bekamen.
Dem Papst wurde unterstellt, mit dem Aufweis dieser die Welt bedrohenden Missstände das kapitalistische System als solches verurteilt zu haben. Entsprechend kommt etwa Rainer Hank in seinem am 1. Dezember 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Beitrag „Die Kirche verachtet die Reichen“ zu dem Schluss: „Weil Papst Franziskus die theologisch begründeten Ressentiments des Christentums gegenüber den Reichen teilt, hat er den Armen nur Barmherzigkeit und Almosen anzubieten.“
Abgesehen davon, dass Papst Franziskus keineswegs die Marktwirtschaft als solche verurteilt, weckt Hank beim Leser mit dem Begriffspaar „Barmherzigkeit und Almosen“ eine eher altertümliche Vorstellung der Bekämpfung von Armut, die durch die „Wachstumserfolge der kapitalistischen Wirtschaft“ überholt sei.
Gegenüber solcher Geringschätzung der Barmherzigkeit misst ihr Franziskus einen hohen Stellenwert bei, was er in den wenigen Monaten seines Pontifikats nicht nur durch Worte, sondern auch mit zahlreichen Aufsehen erregenden Gesten unter Beweis gestellt hat. Mit Thomas von Aquin sieht er in der Barmherzigkeit „die größte aller Tugenden.“ (EG 37) Dabei bedeutet dieser Primat nicht, wie er an anderer Stelle betont, dass sie lediglich „am Anfang“ eines Tugendkataloges steht, sondern dass sie „die ‚erste‘ im qualitativen Sinn“ ist, durch nichts anderes ersetzbar. (EG 164)
Der Bruder unseres Gottes – ein Drama der Barmherzigkeit (1)
Im Folgenden soll anhand eines literarischen Textes der Vielschichtigkeit von Barmherzigkeit nachgespürt werden. Verfasst hat ihn der junge Priester Karol Wojtyła. Fünf Jahre (1945 – 1950) hat er in der Zeit des Stalinismus und eines harten Kirchenkampfes an diesem Drama mit dem Titel „Brat naszego Boga“ (Bruder unseres Gottes) gearbeitet. An eine Veröffentlichung war zu jener Zeit kommunistischer Zensur nicht zu denken. Erst nachdem der Autor 1979 zum Papst gewählt worden war, konnte das Werk ein Jahr später bei „Znak“, einem katholischen Krakauer Verlag, erscheinen.
Protagonist des Dramas ist Adam Chmielowski (1848 – 1916), eine historische Gestalt, polnischer Freiheitskämpfer, bedeutender Maler, Gründer des Ordens der Albertiner, als Bruder Albert 1989 von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen. Die spannungsvolle Wandlung vom Künstler zum Bruder der Armen bildet den Inhalt dieses Dreiakters. Doch dieses Werk ist mehr als eine dramatisierte Biografie. Es geht dem Autor – wie er in der Einleitung ausführt – um das „transhistorische Element“ dieser historischen Gestalt, um die Teilhabe an einer sich stufenweise entfaltenden Barmherzigkeit.
Die Logik der Gleichgültigkeit
Barmherzigkeit ist keine Selbstverständlichkeit. Man kann sich ihr auf verschiedene Weise entziehen und dies durchaus rational begründen. So wie Adams Freunde, die sich in seinem Atelier versammelt haben und – über seine Mildtätigkeit irritiert – ihre Vorstellungen zur Armut diskutieren. Einer aus der Runde leugnet rundweg jede Verantwortung für die Armen. Jeder Mensch sei dazu berufen, sich seiner Fähigkeiten entsprechend zu verwirklichen und auf diese Weise die Gesellschaft zu bereichern. Verweigere sich jemand dieser Aufgabe, dann habe er die Konsequenzen zu tragen. Aus dieser individualistischen Grundeinstellung bewertet er selbst die von der städtischen Behörde den Bettlern und Obdachlosen zur Verfügung gestellte „Wärmehalle“ kritisch. Er sieht in derlei Einrichtungen „asoziale Erscheinungen“, die „Arbeitsscheue und Aussteiger geradezu anziehen.“ (33) Andererseits würden sie zum Glück die soziale Lage beruhigen, während jene, die sich angesichts dieses Elends „von Ungeduld leiten lassen, […] mit ihrem Edelmut die Umstürze geradezu“ herbeirufen. (35) Und an Adam gewandt bedauert er, dass er durch seine Mildtätigkeit seinen Beruf als Künstler vernachlässige und Gefahr laufe, seiner eigentlichen Verantwortung untreu zu werden.
Diese Logik der Gleichgültigkeit gibt es auch heute. Wozu braucht es noch, so ist zu fragen, die eigene Barmherzigkeit, wenn die Gesellschaft zur Bekämpfung des menschlichen Elends doch über die dazu erforderlichen Strukturen und Ämter verfügt? Ein weites Netz von Arbeitsagenturen und Sozialämtern, von ambulanter Kranken- und Altenpflege, von kirchlichen Diensten und Hilfswerken sowie ein vielgliedriges Gesundheitssystem tragen Sorge um jene, die von einem unglücklichen Schicksal betroffen werden. Man kann darin durchaus eine institutionalisierte Barmherzigkeit sehen, ermöglicht durch die Solidarität der Steuerzahler, und dies unabhängig davon, ob jemand der Armut und den Armen gleichgültig gegenüber steht oder nicht. Aber können wir uns damit zufrieden geben? Die Klagen mehren sich, dass in unseren Sozialsystemen aufgrund zunehmender Ökonomisierung der konkrete Mensch mit seinen Leiden aus dem Blick gerät; dass es in diesen Institutionen an Barmherzigkeit mangelt, die – wie das Wort sagt – das Erbarmen mit dem Notleidenden zu einer Herzenssache macht. So stehen unsere Sozialsysteme nicht nur für den Versuch, das menschliche Elend zu überwinden oder wenigstens zu lindern, sie machen vor allem das Ausmaß des Elends offenbar. Barmherzigkeit wird durch sie keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil. Sie verlangen nach ihr, damit sie nicht zu einem seelenlosen Funktionsmechanismus entarten.
So fragt es sich, ob unsere Sozialsysteme auf Dauer tragfähig bleiben, wenn es am Geist der Barmherzigkeit mangelt; in der Gesellschaft insgesamt sowie – und dies vor allem – bei denen, die in ihren verschiedenen Einrichtungen tätig sind.
Die Konfrontation mit dem menschlichen Elend
Selten liegt das menschliche Elend offen zutage. Wer in einer gesicherten, bürgerlichen Welt lebt, bekommt es nicht unbedingt zu Gesicht. Auch Adam Chmielowski und seine Freunde begegnen eher zufällig der Kehrseite ihres gut gesicherten Lebens. An einem kalten, regennassen Tag suchen sie Schutz in einem Torbogen und befinden sich unversehens in einer städtischen Aufwärmhalle, überfüllt mit Bettlern und Obdachlosen. Während seine Freunde eher sachlich auf diese für sie ungewohnte Szene reagieren, geht Adam zwischen den Pritschen umher „wie ein Verirrter. […] Im schwachen Schein der Öllichter schien sein Gesicht wie von grünem Wachs überflossen. In den weit aufgerissenen Augen stand das Entsetzen.“ (23) Und einer aus der Runde erahnt die Tragweite des Geschehens: „Eines ist sicher: seit diesem Erlebnis gehört er nicht mehr sich selbst, nicht mehr seiner Kunst.“ (24)
Eine außergewöhnliche Begegnung mit dem Elend muss nicht, kann aber einen inneren, die Gleichgültigkeit überwindenden Wandel herbeiführen. Doch eine derartige Erfahrung, wie sie Adam und seinen Freunden widerfuhr, ist in unserer Gesellschaft kaum mehr denkbar. Was wir an menschlichen Katastrophen erfahren, beruht nur in Ausnahmefällen auf einer plötzlichen, persönlichen Konfrontation, ist vielmehr in der Regel durch die Medien vermittelt. Und wer Tag für Tag mit derlei Meldungen bedacht wird, stumpft eher ab, als dass er sich zur Barmherzigkeit motivieren ließe. Es sei denn, in den Medien wird werbewirksam zu Spenden aufgerufen, die dann auch reichlich fließen. Momentane, zeitlich begrenzte Aktionen, oft zur Beruhigung des eigenen Gewissens, selten persönlich von nachhaltiger Wirkung. Ein Gefühl der Ratlosigkeit macht sich breit; ein Gefühl, angesichts des globalen Elends als einzelner letztendlich doch hilflos zu sein.
Soziales Engagement
Während sich Adams Freunde noch alleine in seinem Atelier aufhalten, betritt ein Stadtbote den Raum und überreicht ein an Adam adressiertes Schreiben des Armenpflegers. Wenig später kommt Adam selbst, begrüßt die Gäste und reißt eilig den Briefumschlag auf. Und reagiert äußerst empört. In Händen hält er die Antwort auf seine Eingabe nach mehr Fürsorge für die Ärmsten der Armen. Der Bescheid ist negativ: Außer dieser einen Aufwärmhalle könne die Stadt leider für Obdachlose nicht mehr tun. Adams Kommentar: „Wir verstecken uns, entfliehen auf kleine Inseln des Luxus, der sogenannten feinen Gesellschaft, des sogenannten sozialen Systems und fühlen uns bei all dem auch noch sicher. Doch – nein. Diese Sicherheit ist ein einziger Lug und Trug.“ (31)
Soziales Engagement, ob im Geheimen oder öffentlichkeitswirksam, sind ein Ausdruck von Barmherzigkeit. Ein solcher Einsatz ist in unserer Gesellschaft so selten nicht: Nachbarschaftshilfe, Besuchsdienst bei kranken und alten Menschen, Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge und Asylanten, Protestaktionen gegen Fremdendfeindlichkeit, wo rechtextreme Gruppen gegen Immigranten zu Felde ziehen, Bürgerinitiativen gegen Missstände im Sozialbereich und zur Verbesserung der Situation sozial benachteiligter Mitmenschen. Ähnlich wie in „Der Bruder unseres Gottes“ führen derlei Bemühungen nicht immer zum Ziel. Wer sich sozial engagiert, dem bleiben Frustrationen nicht erspart. Sie müssen ausgehalten werden und sind kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Beharrlichkeit ist gefragt.
Die Logik des Revolutionärs
Im weiteren Verlauf spitzt sich die Dramatik zu. Sie betrifft das Verhältnis von Revolution und Barmherzigkeit. Der Sitz im Leben ist unschwer in der Auseinandersetzung des jungen Priesters Karol Wojtyła mit dem Marxismus-Leninismus zu erkennen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum ideologischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprinzip Volkspolens wurde – und damit zu einer ernsten Herausforderung für den christlichen Glauben. Diese Auseinandersetzung findet in den Gesprächen zwischen Adam und dem Unbekannten, einem Prototyp des Revolutionärs, ihren Ausdruck. Dieser hatte sich gleichfalls in Adams Atelier eingefundene und den Gesprächen zugehört, doch ohne sich einzumischen. Erst als die Gäste den Raum verlassen hatten, sucht er das Gespräch mit Adam. In ihm sieht der Unbekannte einen möglichen Verbündeten, der – anders als seine Freunde – der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber nicht gleichgültig zu sein scheint, sondern - wie er selbst – von einem inneren Zorn ergriffen. Er spürt, dass Adam nach Wegen sucht, mit diesem Zorn umzugehen, dass er die Möglichkeit erwägt, ihm in seiner Kunst Ausdruck zu verleihen. Doch das sei, wie der Unbekannte Adam wissen lässt, der falsche Weg. Es komme vielmehr darauf an „daß er endlich losbricht.“ (45) Und als Adam einige Bettler, die bei ihm anklopfen, bei sich aufnimmt, tadelt der Unbekannte diesen Akt der Barmherzigkeit als „Kraftvergeudung“ sowie als eine verderbliche „Zügelung des Bewußtseins“, die den Ausbruch des Zorns blockiere: „Aha, Barmherzigkeit. Hier ein paar Groschen, dort ein paar Groschen, für das Recht, seine Millionen in aller Ruhe zu besitzen.[…] Und dazu zehn, zwölf, sechzehn Stunden übermenschlicher Schufterei für ein paar lumpige Pfennige, für weniger als das Recht auf Leben, für die Hoffnung eines zweifelhaften Trostes drüben – die nicht das geringste ändert, die nur seit Jahrhunderten den gewaltigen, herrlichen Ausbruch menschlichen Zorns aufhält – eines menschlichen, schöpferischen Zorns.“ (47f) Es ist dies die marxistische These von der Religion als Opium des Volkes, einer Religion, die mit ihrer Vertröstung einer Welt frei von Ausbeutung und menschlicher Entfremdung im Wege stehe.
Auch die Revolution hat ihre Ratio, ihre unbestreitbare Logik. Sie besitzt im „großen Zorn“, der sich an den Ungerechtigkeiten dieser Welt entzündet, ihren objektiven Grund. Keines der revolutionären Argumente wird von Adam polemisch bestritten, auch nicht der religionskritische Einwand, die Mildtätigkeit stabilisiere nur ein ungerechtes System. Erst mit dem Gewicht ihrer Argumente wird die Revolution zu einer Herausforderung der Barmherzigkeit.
„Arme habt ihr immer…“
Wie reagiert Adam auf diesen Aufruf zur Revolution? Nicht indem er die Argumente des Unbekannten polemisch zurückweist, sondern mit einer erneuten inneren Erschütterung; indem er „mit tonloser Stimme und tiefer Traurigkeit“ den Redefluss des Unbekannten unterbricht: „…Arme habt ihr immer bei euch…“ „… doch mich habt ihr nicht immer…“; indem er sein Gesicht in beide Hände birgt und zur Bank taumelt. „… Arme habt ihr immer… - mich nicht… - - -- Wie furchtbar das alles, mein Herr!“ Damit endet der erste Akt.
Es ist die Schlüsselszene des Dramas. Der Fremde hat Adam das ganze, auf einen revolutionären Wandel drängende menschliche Elend vor Augen geführt. Ihm ist der Ernst der Situation durchaus bewusst; er weicht ihm nicht aus, antwortet darauf aber mit dem Jesuwort aus der bei den Synoptikern und Johannes überlieferten Salbung in Bethanien. „Arme habt ihr immer bei euch“ – in jedem politischen System. Keine Revolution wird eine Welt ohne Armut schaffen können. Eine ebenso nüchterne wie schockierende Erkenntnis. Und sie wird noch verschärft durch den Nachsatz: „Doch mich habt ihr nicht immer…“ Eine Welt der Armen ohne den, der um ihretwillen in die Welt kam?
Wer die biblische Szene von der Salbung in Bethanien unvoreingenommen liest, wird sie wohl kaum so verstehen, wie Adam sie begreift. Sie liest sich zwar als eine Zurechtweisung der Jünger, die mit Unmut auf die verschwenderische Salbung reagieren, hätte man doch mit der dafür aufgebrachten Summe vielen Armen helfen können. Für Adam werden diese Worte aber zu einem Augenblick plötzlicher Hellsichtigkeit. „Arme habt ihr immer bei euch…“ Er findet in ihnen die Bestätigung für das vom Unbekannten vor ihm ausgebreitete Elend, doch er erfasst sie nicht aus der Perspektive des Revolutionärs, sondern - verbunden mit dem zweiten Satzglied „doch mich habt ihr nicht immer…“ - als Anspruch, an Stelle von Jesus und in seinem Geist den Armen zu dienen. Es ist eine Erkenntnis, die einer Offenbarung gleichkommt und eine innere Wandlung bewirkt, einen tiefgreifenden Einschnitt, der das bisherige Leben in Frage stellt und eine neue Existenzform verlangt. Adam erlebt in diesem Augenblick seine Bekehrung zu wahrer Barmherzigkeit.
Derlei Bekehrungen sind ein gnadenhaftes Geschehen, das man zwar annehmen, nicht aber von sich aus herbeizaubern kann. Der heilige Franziskus, Mutter Teresa und manch anderer Heiliger haben diese Erfahrung gemacht. Auch wenn wir sie nicht einfach nachvollziehen können, als wegweisende Orientierung hat sie auch für uns ihre Gültigkeit.
Eine Phase innerer Kämpfe
Der Moment der Erleuchtung ist der Beginn eines mühseligen Weges zu neuer Selbstfindung. Adam erreicht sie nur um den Preis innerer Kämpfe, mit denen die erfahrenen Erschütterungen verarbeitet werden und sich die innere Zerrissenheit zu einer neuen Ganzheit fügt. Damit bildet dieser Prozess das Zentrum der von Adam durchlebten dramatischen Spannung. Sie nimmt denn auch die Mitte dieses Dreiakters ein. Dabei geht es um die Lösung des Widerstreits zwischen Vernunft und Liebe. So bekennt Adam in der Beichte: „Meine größte Versuchung ist der Gedanke, man könne mit der bloßen Vernunft lieben. Allein mit ihr. Daß dies genüge.“ (67)
Den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe trägt Adam in dreifacher Hinsicht aus: Im Verhältnis zu den Bettlern und Obdachlosen, in Auseinandersetzung mit seiner Kunst sowie – letztlich und entscheidend – in Überbietung der Logik der Revolution durch BARMHERZIGKEIT.
Das Ungenügen bloßer Mildtätigkeit
Die Erfahrung, die Adam in der Aufwärmhalle macht, ist sehr widersprüchlich: Er findet nicht nur Dankbarkeit für die Kleidung und Nahrung, die er den Armen bringt. Einige der Bettler und Obdachlosen sind gewaltbereit und möchten am liebsten „dem Stadtpräsidenten und all diesen Herren von der Armenpflege die Scheiben“ einschmeißen. (51) Andere haben sich resignierend mit ihrem Schicksal abgefunden. Kommt Adam mit seinen Spenden, dann streiten sie regelmäßig heftig um die besten Sachen und gieren nach mehr. Ja, er erregt als „Wohltäter“ sogar Anstoß, wird abgewiesen: „Dieses Gesindel sitzt in den Palästen, hat’s mollig warm, tanzt, scherzt und kippt von Zeit zu Zeit ein Likörchen. Und wenn diesen Leuten hin und wieder die Idee zu einem solchen Ausflug in den Kopf kommt, dann werfen sie dir ein paar Knochen vor. […] Und du verbeugst dich brav, nennst sie Wohltäter und küßt ihre Hand.“ (57) Derlei Ausbrüche zeigen, dass sich die Armen in ihrem Stolz verletzt fühlen. Sie als „Arme“ und „Bettler“ zu bezeichnen, hieße, sie „ins Gesicht spucken. Wir sind, mein Herr, keine berufsmäßigen Bettler. Wir sind Opfer einer Ordnung, eines Systems – wie Sie wollen.“ (73)
Angesichts solcher Reaktionen ist Adam zunächst ratlos. Doch ausgerechnet die Worte der Abweisung helfen ihm weiter, indem sie seinen Selbstbetrug entlarven: „Denn ich – das ist wahr – wollte mich freikaufen … Hier einen Mantel, dort einen Laib Brot, hier jemand für ein Nachtlager … Doch das alles bedeutet nichts … Arme Teufel, Bettler, Landstreicher bleiben sie ohnehin …“ (76) Insofern stimmt Adam mit dem Unbekannten überein: Bloße Mildtätigkeit ändert an der Situation der Armen rein gar nicht; sie bleiben, was sie sind. Nicht anders der Wohltäter. An Adam gewandt sagt der Unbekannte: „Du bist der geblieben, der du warst. Ein Patron der Bettler an den Straßenecken und vor den Kirchtüren. Du bist nicht über den Bannkreis deines Ichs hinausgekommen, nicht zum Vorbild freier Menschen gereift.“ (87) Nur die Konsequenz, die Adam daraus zieht, ist gegenüber dem Revolutionär eine andere.
Das Ungenügen der Kunst
Normalerweise verarbeiten wir uns belastende Erfahrungen im Rahmen unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten. So hat denn auch Adam seinen Erlebnissen in der Aufwärmhalle in dem Gemälde „Ecce Homo“ Ausdruck verliehen. Ein Bild des leidenden Christus-Menschen, in seiner Seele gereift als „Vision der Verlassenen“ (64). Doch in innerer Zwiesprache vor seiner Leinwand spürt Adam ein Unbehagen. Seine Erfahrung mit den Ärmsten der Armen, die sich im Bildnis des „Ecce Homo“ spiegelt, verlangt mehr als nur nach einem künstlerischen Ausdruck. Adam durchlebt eine tiefe Krise: „Ich kann nicht mehr. Kann nicht. Außerdem brauchen sie mich nicht. Ganz gewiß. Sag, wo ist mein Weg? […] Sag mir, was wird aus mir, wozu bin ich noch nütze, wenn du mein Bild verwirfst, und sie verwerfen mich?“ (65) In der Beichte bekennt er die Not seines inneren Zwiespalt zwischen seiner Berufung als Künstler und dem Anspruch der Armen: „Ich kann schließlich nicht beides gleichzeitig lieben, denn lieben kann ich nicht nur halb. Für mich ist dies wie der Sog zweier Abgründe.“ (69) Darauf hat der Priester die eine Antwort: „Überlaß dich der formenden Kraft der Liebe.“ (70)
Zwischen den Lebensschicksalen von Adam Chmielowski und Karol Wojtyła gibt es eine innere Verwandtschaft. Auch der Autor dieses Dramas ist Künstler. Zwar kein Maler, wohl aber Literat und Schauspieler. Als Student der Polonistik hatte Karol Wojtyła bereits zwei Dramen verfasst und in einem Untergrundtheater mitgewirkt. Ähnlich wie Adams Freunde waren auch die seinen irritiert, als sie von der Entscheidung ihres Kollegen erfuhren, Priester zu werden. So wie jener hatte auch er sich durch innere Kämpfe zu seiner geistlichen Berufung durchringen müssen. Damit trägt dieser Teil des Dramas nicht nur biografische, sondern zudem autobiografische Züge.
Das Ungenügen der Revolution
Der Unbekannte ist nicht nur Adams Gegenspieler. Er hat ihn auch zur Erkenntnis verholfen, dass bloße Mildtätigkeit nicht genügt. Und für diese „Offenbarung“ ist Adam ihm dankbar. Doch sie ist zugleich der Punkt, an dem sich beider Wege scheiden in den des „großen allgemeinen Zorns“ (100) und in den der „BARMHERZIGKEIT“. (101) Die Revolution scheitert an ihrem Anspruch, den Menschen „kraft eigenen Zorns“ nicht nur zu vielen, sondern „zu allen Gütern“ zu erheben. (100) Dieser Anspruch verlangt nicht nur, er rechtfertigt auch den „großen Zorn“, die gewaltsame Umwälzung aller Verhältnisse, durch die Ausbeutung und menschliche Entfremdung ihr Ende finden sollen; sozusagen die Verheißung eines Paradieses auf Erden. Und was ihr entgegensteht, muss beseitigt werden; auch die Barmherzigkeit. „Sucht keine Barmherzigkeit. Barmherzigkeit erniedrigt euch. Ihr habt sie nicht nötig. […] Nichts aus Gnade. Barmherzigkeit ist der Grauschleier, hinter dem der geheimnisvolle, unbegreifliche Reiche sein wahres Gesicht verbergen möchte […]. Hütet euch vor den Aposteln der Barmherzigkeit. Sie sind eure Feinde.“ (94f) Viele, auch Intellektuelle, sind dieser Verheißung erlegen und mussten bitter erfahren, dass Revolution, die keine Barmherzigkeit kennt, zu einem erbarmungslosen System führt.
Das Ungenügen der Revolution wird daran deutlich, dass sie den Menschen eben nicht zu allen Gütern erheben kann. Denn „das Elend des Menschen ist größer als alle Güter zusammen. […] Ist größer als all das, zu dem sich der Mensch kraft seines Zorns erheben kann.“ Dabei hält Adam fest, dass sich der Mensch „zu allen Gütern erheben soll. Zu allen. Auch zu den größten.“ Aber „hier ist BARMHERZIGKEIT nötig.“ (100f)
Mit der Entscheidung, in den Dienst dieser BARMHERZIGKEIT zu treten, hat Adam den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe für sich gelöst. Der zweite Akt endet damit, dass der Unbekannte die Bettler und Obdachlosen, die seinen Worten keinen Glauben schenken, als „Spreu der Revolution“ (98) ihrem Schicksal überlässt. Adam aber bleibt bei ihnen; doch nicht, um lediglich ihr Schicksal zu teilen, sondern um in einem anderen Sinn ihren „Zorn zu erziehen, ihn zu wägen, damit er reift und sich als schöpferische Kraft erweist“ - im Gegensatz zu denen, die „diesen Zorn ausbeuten“ und „mißbrauchen.“ (101)
Den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe erlebt jeder auf die eine oder andere Weise in seinem Leben. Dem Ruf der Liebe zu folgen, erscheint oftmals als höchst unvernünftig. Beispiele gibt es in den klassischen Liebesgeschichten zur Genüge – sowohl in dem Sinn, dass sich jemand gegen alle Vernunft für die Liebe entscheidet und dafür oftmals einen hohen Preis zahlt, als auch in den Fällen, wo einer sich aus Vernunftgründen dem Anspruch der Liebe verweigert. Ähnliches gilt für den Ruf der Barmherzigkeit. Wie oft gehen wir achtlos an der ausgestreckten Hand einer Bettlerin vorbei – aus purer Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit, weil wir uns einreden, sie sei für ihren Clan auf die Straße geschickt worden, und der Tagesertrag fließe in die Taschen der reichen Bosse; oder weil wir uns damit beruhigen, dass schließlich die Sozialämter zuständig sind und es daher der Bettelei gar nicht bedarf. Gründe lassen sich immer finden. Und auch das Ungenügen am eigenen Beruf ist gar nicht so selten. Nicht weil es an der nötigen Leistung fehlen und sich aus diesem Grund das Gefühl von Unzufriedenheit einstellen würde, sondern aus dem Gespür, dass Leistung allein, mag sie noch so gut sein, keine letztliche Erfüllung verbürgt. Berufliche Befriedung ist auch von dem mit dem Beruf gegebenen menschlichen Umgang abhängig, und da gibt es reichliche Möglichkeiten, anderen und sich selbst gegenüber barmherzig zu sein.
Eine Bruderschaft der Armen für die Armen
Adam Chmielowski legte 1888 als Bruder Albert die Gelübde der Armut und Enthaltsamkeit ab und nahm in Krakau unter der Devise „jedem Hungernden Brot, jedem Obdachlosen eine Bleibe, jedem Nackten Kleidung“ eine karitative Tätigkeit auf. Aus diesen Anfängen erwuchs eine bis heute fortwirkende Ordensgemeinschaft mit männlichem und weiblichem Zweig. Diesen Stoff greift Karol Wojtyła im letzten Akt seines Dramas auf und gestaltet einen der letzten Tage im Leben des 1916 verstorbenen Bruders der Armen. Dabei kommen keine neuen Aspekte zur Sprache, sondern dieser eine Tag erscheint „als Widerhall früherer Kämpfe; er beschließt das Drama nicht eigentlich, sondern erschließt es noch einmal in seiner tiefen, unter dem Lauf der Ereignisse beruhigten Gestalt.“ (105)
So ist es die Intention des Autors, den unter der Spannung zwischen der von der Vernunft gebotenen Selbstbewahrung und der sich preisgebenden Liebe stehenden Prozess menschlicher Selbstfindung und geistlicher Berufung nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als etwas zum „festen Bestand des Lebens“ Gehörendes zu verdeutlichen.
Aus den Bettlern und Obdachlosen ist eine Gemeinschaft von Brüdern geworden. Karol Wojtyła zeichnet nicht das Bild einer Idylle, sondern einer durch Krisen angefochtenen Gemeinschaft: „Bruder Albert, was ist das für ein Los, das Ihr uns zuteilt? Warum gebietet Ihr uns Armut und Bettel?“ (121) Vernünftige Fragen, deren Antwort aber jenseits der Vernunft liegt. Albert verweist darauf, dass sich in ihnen und durch ihr Gelübde der frühere Hass auf die Armut in Liebe zu ihr gewandelt habe. Doch letztlich hilft allein der Blick auf „das dunkle Kreuz in der Mitte des Raumes.“ (124)
Auch das Motiv der Spannung zwischen Kunst und Barmherzigkeit wird erneut aufgegriffen. Hubert, Künstler wie Adam, doch Literat und Komponist, begehrt Aufnahme in die Gemeinschaft der Brüder. Es entspinnt sich ein längeres Gespräch, an dessen Ende der junge Mann von Bruder Albert abgewiesen wird - zu weiterer Suche nach seinem Weg.
Schließich begegnet auch das Thema des „großen Zorns“ wiederum. Diesmal in Form seines Ausbruchs, denn in Krakau kommt es zu Unruhen der Arbeiter, gleichsam ein Vorschein der 1918 ausbrechenden Oktoberrevolution. Für Bruder Albert ist dies keine Überraschung: „Ich habe seit langem davon gewußt. Es mußte kommen.“ (126). Dieser Zorn hält an, „denn er ist berechtigt.“ (127) Dies ist der vorletzte Satz des Dramas. Ihm folgt als Schlusssatz: „Eines jedoch weiß ich sicher: Ich wählte die größere Freiheit.“ (127)
Barmherzigkeit ist eine zeugnishafte Warnung vor dem Ausbruch von Gewalt; verhindern kann sie diese nicht. Das bringt auch Papst Franzskus in seinem Apostolischen Schreiben zum Ausdruck: „Solange die Ausschließung und die soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen.“ (EG 59) Überhaupt zeigt Evangelii Gaudium eine Nähe zu dem Drama seines Vorvorgängers. Gleich einleitend heißt es: „Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr […].“ (EG 2) Liebe und Barmherzigkeit verlangen, „aus sich selbst“ herauszugehen, „um das Wohl aller zu sichern.“ Und Franziskus fordert dieses Aus-sich-herausgehen für die Kirche insgesamt. Versagt sie sich diesem Anspruch, dann „riskiert das moralische Gebäude der Kirche, ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsere größte Gefahr.“ (EG 39) Daher ist dem Papst eine „‘verbeulte’ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit […] krank ist.“ (EG 49) Und in Zusammenhang mit seiner Anklage einer Wirtschaft, die in Folge sozialer Ungleichheit einem Teil der Gesellschaft den Wohlstand sichert, während der andere Teil davon ausgeschlossen wird, heißt es: „Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, […] hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, […] als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht.“ (EG 54)
(1) Der Bruder unseres Gottes, in: Karol Wojtyła, Der Bruder unseres Gottes. Strahlung des Vaters. Zwei Dramen. Übertragung ins Deutsche von Theo Mechtenberg, Herder 1981, S. 9-127.