Hanna Krall im Gespräch
„Vor zwei Jahren, am 20. Juli, wurde die Kiefer, unter der ich alles geschrieben habe, was ich schrieb, vom Blitz getroffen. Ein Zeichen, nicht wahr? Dann nahm er seinen weiteren Verlauf über die metallene Gartenumzäunung, setzte einen Heizkörper in Brand, verschmorte Kabel, suchte meinen Mann umzubringen und erlosch schließlich im Keller. Ein Knall, das ganze Haus erzitterte, Glas zerbarst, denn die Scheiben flogen herum… Wie, mit Verlaub, im Aufstand. Stundenlang hörte ich nichts. Ein seltsames Gefühl.“
Mit diesen Sätzen eröffnet die polnische Schriftstellerin Hanna Krall das Gespräch mit Dorota Wodecka von der „Gazeta Wyborca“. Und mit diesen Worten kündigt die heute 82jährige Hanna Krall das Ende ihrer schriftstellerischen Tätigkeit an. 14 Bücher seien genug. Eine Nachricht, die von ihrer deutschen Leserschaft mit Bedauern zur Kenntnis genommen werden dürfte.
In diesem Gespräch werden Erinnerungen abgerufen, Bezüge zu einigen ihrer Bücher hergestellt, Begegnungen, zumeist mit längst Verstorbenen, beschrieben. Wie sich Hanna Krall als Chronistin des Holocaust einen Namen gemacht hat, so ist auch dieses Gespräch ein Zeugnis wider das Vergessen. Prägnante Details, auch solche des eigenen Erlebens, werden wach und prägen sich dem Gedächtnis ein: Das in „Die Untermieterin“ erzählte Überleben des jungen jüdischen Mädchens, einsam und allein in einem Zimmer versteckt, das zu seiner Sicherheit nicht einmal einen Blick aus dem Fenster werfen darf. Oder der Bericht der Familie eines polnischen Offiziers, der von einem Deutschen geohrfeigt wurde, und für die jene Tat die „schmerzlichste“ und „schrecklichste“ Erfahrung der gesamten Okkupationszeit war – als hätte es in jenen Jahren des Holocaust keine unendlich viel schlimmere Untaten gegeben.
Auch Dinge des Alltags lösen Erinnerungen aus. Das Rosenthaler Teeservice, das während des Gesprächs auf dem Tisch steht, ähnelt dem der Polin in „Weiße Maria“, die sich weigert, bei einer Scheintaufe eines jüdischen Kindes die Patin zu spielen. Solche Scheintaufen gab es in jener Zeit zuweilen, um jüdische Kinder vor der Vernichtung zu retten. Doch diese fromme Frau wollte Gott nicht belügen… Das Rosenthaler Service hatte sie im Übrigen bei einer zur Ausreise genötigten Deutschen gegen Speck eingetauscht, und es sollte einmal die Kosten für den gemeinsamen Grabstein für sie und ihren Mann decken.
Mit ihrer Mutter stand Hanna Krall in einer äußerst innigen Beziehung, die über deren Tod hinaus Bestand hatte, denn – so Hanna Krall – „sie ist die ganze Zeit bei mir.“ Ihr verdanke sie, wie sie sagt, ihre Rettung. Den Warschauer Aufstand hatten beide von der ersten bis zur letzten Stunde in einem Keller überlebt. Einmal sei ihre Mutter zum Wasserholen nach draußen gegangen und mit einem vollen Eimer zurück gekehrt. Und dies, obwohl auf sie geschossen worden war. Getroffen wurde ihr Mantel, den sie über dem Arm trug. Der hatte ein Loch, doch vergossen hatte die Mutter nicht einen Tropfen. Von ihr konnte auch der zum Überleben wichtige Rat stammen, den die Mutter in „Die Untermieterin“ ihrer Tochter erteilt: „Überlass Dich niemals der Traurigkeit. Sie könnte Dich schwächen.“
Aus den von Hanna Krall beschriebenen Begegnungen ragt in besonderer Weise die mit Marek Edelman hervor. Ihm, dem letzten Kommandanten des Ghettoaufstandes, dem Holocaustüberlebenden und späteren hoch angesehenen Lodzer Herzchirurgen ist „Dem Herrgott zuvorkommen“ gewidmet. Die Autorin verstand es, den Überlebenskampf im Ghetto mit dem der Ärzte und Patienten in der Lodzer Herzklinik literarisch zu verknüpfen, hier wie dort dem Sterben der Menschen Würde zu verleihen. Der Leser erfährt, dass das Buch zunächst in Polen nicht erscheinen konnte. Edelman war wegen seiner oppositionellen Haltung bei den Kommunisten in Ungnade gefallen. Als die Zeitschrift „Odra“ 1976 einen Vorabdruck veröffentlichen wollte, beschlagnahmte die Zensur die druckfrischen Fahnen. Doch in späteren Jahren konnte die Autorin erleben, dass „Dem Herrgott zuvorkommen“ zum Abiturstoff wurde.
Welche Wirkung dieses Buch über Polen hinaus gehabt hat, zeigen einige in diesem Gespräch enthaltene Hinweise: Der tschechische Schriftsteller Jáchym Topol hat es in tschechischer Übersetzung in der Untergrundzeitschrift „Revolver Review“ gelesen und bekennt gegenüber Hanna Krall, er sei durch ihre Bücher „erzogen“ worden. Eine positive Reaktion erfuhr sie gleichfalls von Leonard Bernstein, der 1989 zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieg zu einem Konzert nach Warschau angereist war, sowie von einem Journalisten aus New York bei einem gemeinsamen Frühstück im Warschauer Bristol.
Auch persönlich standen sich Hanna Krall und Marek Edelman sehr nahe. Am Gedenktag des Ghettoaufstandes sitzt sie bei ihm im Ärztezimmer der Klinik. Einige Freunde und Bekannte schauen vorbei, verweilen aber nicht aus Angst vor dem Geheimdienst. Einzelne Gruppen der Klinik geben einander mit dem obligatorischen Blumenstrauch und einer Gratulationsfloskel die Klinken in die Hand, während der vom Geheimdienst abgestellte Aufpasser Edelman die begehrten Fleischmarken mit einem Gruß seiner Frau zusteckt.
Für ihr privates Gedenken am Ghetto-Denkmal hatten sich Hanna Krall und Marek Edelman gemeinsam mit Jacek Kuroń, vorausgesetzt der war nicht gerade wieder in Haft, ein eigenes Ritual ausgedacht. Dabei murmelte Edelman einmal vor sich hin: „Mit welchem Recht lebe ich und sie nicht.“ Als Edelman 2009 verstarb, blieb Hanna Krall nur mehr der Weg zu seinem Grab.
Von einem besonderen Wunsch ist Hanna Krall nach ihrem reichen literarischen Schaffen in ihrem hohen Alter beseelt: „Ich möchte, dass der Holocaust Teil des Polentums ist, dass die Polen ihn als Teil ihrer Historie betrachten und nicht als eine fremde, innerjüdische Geschichte.“
Quelle: Dorota Wodecka, Hanna Krall. 14 książek i wystarczy [Rozmowa] (Hanna Krall. 14 Bücher sind genug. Gespräch)., in: Gazeta Wyborcza. Książki. Magazyn do czytania Nr. 8.