Die Ikone der Schwarzen Madonna - kulturelle Verwurzelung und nationale Bedeutung
- Theo Mechtenberg
- 1. Mai 2017
- 15 Min. Lesezeit
Es war eine Art Schlüsselerlebnis, das mir 1962 auf meiner ersten Reise nach Polen zuteil wurde. Am Vormittag hatte ich das ehemalige KZ Auschwitz besucht, hatte das Tor mit der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei“ durchschritten, hatte die Unmengen namengezeichneter Koffer, die Berge von Schuhwerk, Brillen und Haarbüschel gesehen - letzte Zeugen der ermordeten Opfer. Ich hatte mich in die ausgelegten Dokumente vertieft und war von der menschenverachtenden Sprache der „Herrenmenschen“ zutiefst betroffen. Ich war nach Birkenau zur Rampe und zu den gesprengten Gaskammern und Krematorien hinausgefahren. Nach Stunden verließ ich das Lager mit der quälenden Frage, wie im deutschen Volk ein solcher rassistischer Vernichtungswille die Oberhand gewinnen und Auschwitz ermöglichen konnte.
Anschließend fuhr ich auf direktem Wege nach Tschenstochau, wo ich am 25. August, am Vorabend des Festes der Schwarzen Madonna, eintraf. Ich war beeindruckt von den vielen Pilgergruppen, die nach tagelangen Fußmärschen betend und singend vor der festungsgleichen Klosteranlage eintrafen. Ich erlebte das Gedränge in der Gnadenkapelle, stand zum ersten Mal vor der Ikone. Ich hörte die Predigt des Primas am folgenden Tag, die mir mein polnischer Begleiter übersetzte und in der nicht vom Glauben der Kirche, sondern zu meiner Überraschung vom Glauben der Nation die Rede war. Mich verwirrten die Gemälde von Schlachten unter dem Schutz der Madonna und die Fahnen aus Kriegen und Aufständen, die über Jahrhunderte der Madonna als Votivgaben verehrt worden waren. Dieses Ineinander von religiösen und nationalen Motiven war für mich faszinierend und befremdend zugleich.
Dieser Tag, der Auschwitz und Tschenstochau verband, hatte mich nachdenklich gemacht, und ich fragte mich: Wäre Auschwitz möglich gewesen, hätte es in unserem Volk eine Tschenstochau vergleichbare Symbiose von Religion und Nation gegeben?
Die Anfänge der Verehrung der Madonna von Tschenstochau
Die Ikone kam in einer Zeit nach Polen, als das Land nach dem Ende der Piastendynastie (1370) für sechzehn Jahre eng mit dem ungarischen Imperium unter Ludwig I. aus dem Hause Anjou (1326-1382) verbunden war, ehe 1386 durch die Verheiratung seiner Tochter Jadwiga (1374-1399) mit Władysław II. (1362-1434) die knapp zweihundertjährige Herrschaft der Jagiellonen ihren Anfang nahm. In dieser Zwischenzeit gründeten die Pauliner von Ungarn aus auf der Jasna Góra, dem Hellen Berg, ihr Kloster, dem Ladislaus von Oppeln (1326/32-1401), einst Statthalter von Ruthenien, 1382 die von dort stammende Ikone übergab.
Ihr Urbild, das bei der Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453) zerstört wurde, befand sich seit Beginn des 5. Jahrhunderts in Byzanz, und zwar im Stadtteil ton hedegon. Daher nannte man es „Hodegetria“, also Wegführerin, eine sowohl für das theologische Verständnis als auch für die nationale Bedeutung der Tschenstochauer Madonna durchaus passende Bezeichnung: Maria mit ihrem auf ihrem linken Arm thronenden Sohn, wobei ihre rechte Hand auf ihn verweist. Und - in nationaler Deutung - Maria als Wegführerin durch die Geschichte des polnischen Volkes.
Die erste Beschreibung der Schwarzen Madonna verdanken wir Jan Długosz (1412-1480). In seinem Liber beneficiorum betont er die „Kunstfertigkeit“ des Bildes und den „sanften Gesichtsausdruck“ der Madonna. Wer immer das Bild in Andacht anschaue, werde „von einer besonderen Frömmigkeit durchdrungen, gleichsam als betrachte er eine lebende Person.“(1)
Ein besonders eindrucksvolles, die Stimmung des Betrachters und die nationale Bedeutung der Ikone wiedergebendes Gedicht mit dem Titel „Nachts, wenn ich das Bild betrachte“ stammt aus der Feder des 1993 verstorbenen Priesters, Kunsthistorikers und Dichters Janusz St. Pasierb (1929-1993):
Wenn ich Dich schaue im blendenden Glanz kalt flammender Brillanten
- wie warm Dein gebräuntes Gesicht und die Hände
- Du bist dunkel und schön
Dein Gesicht Weizenfeld und Krustenbrot
nicht Weihrauchduft nur Harz und Honig
von Deinem Thron genommen sieht man Kerben und Schatten im seitlichen Licht
kriegverwüstetes Land zeitgezeichnet
Schild der die Schläge auf sich zog
- von fern und nah betrachtet ein Erinnern an das Vaterland
ultraviolett leuchtest Du wie grüne Wintersaat
einer Frühlingswiese gleich
freudenreiches schmerzhaftes glorreiches Geheimnis
unser Heute und Gestern
Byzanz Anjou Oppeln Jagiellonen Polen
im Frieden in Kriegen
in Ost und West wie die Sonne
gedunkelt von unseren Gebeten
ruhig
und geduldig Dein Hören
unermüdlich Dein Weg durch Heimat und Zerstreuung
Ursache unserer Treue
Morgenstern
letztes Licht
Land das den Himmel gebiert
die Frucht
Deines Leibes
unser LEBEN
Jesus (2)
Die Jasna Góra entwickelte sich bald zu einem europäischen Wallfahrtsort. In einem lateinisch abgefassten Gedicht erwähnt Gregor von Sambor (1525-1573) Pilger aus nicht weniger als 20 Völkern und Volksstämmen, neben Polen und Litauern auch Moskauer, Slowenen, Ungarn und Deutsche:
Es eilt das Volk von überall, aus allen Winden,
Welch’ große Macht will es an diesem Orte finden?
Soweit das Auge reicht, der Blick zu welchen Seiten,
Das Volk steigt hoch den Berg zu allen Zeiten!
Man sieht sie dicht bei dicht die große Pilgermenge,
Gleich einem Bienenschwarm des Volkes arg Gedränge.
Mit Betern angefüllt das heilige Gebäude,
Und wer im Jammer kam - der kehret heim in Freude.
Der Text zeigt noch nichts von der nationalen Bedeutung der Ikone. Diese hat sich erst in späterer Zeit aus der Erfahrung nationaler Bedrohung herausgebildet. Zwei Ereignisse waren es, die diese Entwicklung förderten: Der Überfall auf das Kloster mit der Schändung des Bildes im Jahr 1430 sowie - und dies vor allem - der Schwedeneinfall und die Belagerung des Klosters 1655.
Die Wangenwunde
Bei dem Raubüberfall auf das Kloster wurde die Ikone zerschlagen und musste gründlich restauriert werden. Dazu wurde sie an den Krakauer Königshof gebracht. Die dortigen Restauratoren setzten die Teilstücke wieder zusammen, doch an den Schnittstellen zerfloss ihnen immer wieder die Farbe. Als sie nach vielen Fehlversuchen endlich eine Methode zur Haftung der Farben gefunden hatten, machten sie die Schändung des Bildes durch zwei lang gezogene Striche auf der rechten Wange der Madonna kenntlich und veränderten damit die Ikonographie. Das ursprünglich in vollkommener Schönheit gemalte Antlitz bot nun mit der „Wangenwunde“ die Möglichkeit, sich in seinem persönlichen Schmerz sowie im Leiden der Nation mit der Madonna zu identifizieren. In der ihr gewidmeten Lyrik begegnet daher immer wieder das Motiv der Wangenwunde. So auch bei Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1891-1945) in ihrem Gedicht „Schwarzes Porträt“:
Ebenholzfarbene Madonna, mit zwei Striemen langen!
Zu schön Dein Oval unbestritten.
Für uns, Allschöne, glühen Deine Wangen,
hassvoll zerschnitten ---
Rettung aus der Sintflut
Wie unterschiedlich die Schicksale der Nationen auch sein mögen, kein Volk entgeht in seiner Geschichte Zeiten der Erschütterung und des Niedergangs. Wie der Untergang mancher Kulturen zeigt, ist das Bleiben in der Geschichte keine Selbstverständlichkeit. So halten die Völker in ihrer Misere Ausschau nach Rettung. Für das polnische Volk liegt sie, der Erfahrung Israels ähnlich, in der Einheit von Glaube und Nation. Nur auf diesem Hintergrund wird die Bedeutung des Nationalheiligtums der Schwarzen Madonna auf der Jasna Góra verständlich.
Mitte des 17. Jahrhunderts geriet die Adelsrepublik in arge Bedrängnis. Durch verlustreiche Kämpfe mit Russen und Kosaken ohnehin geschwächt, brach der Widerstand schnell zusammen, als der Schwedenkönig Karl X. Gustav (1622-1660) in Polen einfiel. Nur die Klosterfeste auf der Jasna Góra hielt unter dem heldenmütigen Prior Augustyn Kordecki (1603-1673) dem Ansturm der Schweden und ihrer Belagerung stand. Am Heiligabend 1655 zogen sie schließlich ab, und durch das Beispiel der Klostermönche und der kleinen Schar ihrer Mitstreiter ermutigt, erhob man sich allenthalben im Land und rettete Polen aus dieser „Sintflut“, wie Henryk Sienkiewicz (1846-1916) zwei Jahrhunderte später seinen dem Schwedeneinfall gewidmeten Roman betitelte.
Die erfolgreiche Verteidigung des Klosters schrieb man dem Schutz der Madonna zu. Die Legende besagt, sie habe die Geschosse der schwedischen Kanonen fehlgeleitet. Wie dem auch gewesen sein mag - Jan Kazimierz, der damalige König der polnischen Krone, rief am 1. April 1656, verbunden mit sozialen Gelübden, die in der Ikone präsente Madonna zur Königin Polens aus. Dieser Akt war mehr als eine fromme Floskel. Durch ihn wurde Maria vielmehr zur obersten Autorität Polens erklärt. So heißt es etwa in der Konstitution des Sejm aus dem Jahr 1764: „Die Republik ist ihrer Heiligsten Königin, der Jungfrau Maria, in dem durch Wunder berühmten Bild von Tschenstochau für immer ergeben...“ Wer auch in Polen das Sagen haben mag, eigene oder fremde Herrscher, kommunistische oder demokratische Regierungen, sie alle stehen unter dem Zepter der Königin Polens. Das mag für das aufgeklärte westliche Denken unverständlich sein, in Polen ist dies indes eine auf geschichtlicher Erfahrung basierende Realität.
Die Zeit der Teilungen und der Romantik
Die Ereignisse von 1655/56 begründeten die nationale Funktion des Nationalheiligtums der Schwarzen Madonna: Rettung in der Misere, Widerstand gegen äußere und innere Feinde, Verteidigung der religiösen und nationalen Werte. Damit wurde ein in der Stunde der Not abrufbarer religiös-nationaler Typus geschaffen. So besann man sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesichts der wachsenden Gefahr, von fremden Mächten unterjocht zu werden, auf das rettende Wunder in der Zeit der „Sintflut“. Unter Führung des späteren Helden der amerikanischen Befreiungskriege, Kazimierz Puławski (1745-1779), kämpfte die Konföderation von Bar gegen die Übermacht der zaristischen Truppen. Ihren Kampf weihte sie ihrer Königin:
Preis sei Dir Herrin, dieses Landes Mantel,
Der Republik in ihrer bitt’ren Schmach!
Hab’ acht auf Deiner Diener Weg und Wandel,
Die für Dich leiden Tod und Ungemach.
1771 zogen sich die Konföderierten, auf eine Wiederholung des Wunders von 1655 hoffend, in die Klosterfest auf der Jasna Góra zurück. Doch das Wunder von einst wiederholte sich nicht. Sie mussten kapitulieren.
Gebrochen war der Widerstand der Waffen, doch nicht der der Herzen. Mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit in der langen Phase der polnischen Teilungen (1795-1918) kam es zu einer intensiven Identifikation der unter Fremdherrschaft leidenden Nation mit ihrer Königin. Die Jasna Góra wurde zum Symbol Überlebenswillens der Nation, ihrer Befreiung, der Bewahrung ihrer Werte sowie ihrer inneren Einheit bei äußerer Zerrissenheit. Aus allen drei Teilungsgebieten strömten die Pilger herbei und beteten um ein Ende der Unfreiheit. Die Teilungsmächte wussten um diese Kraft und wirkten ihr entgegen. 1792 wurde von preußischen Truppen ein ganzer Pilgerzug niedergemacht. Und der Zar befahl, das Bild der Schwarzen Madonna, der „ersten Revolutionärin“, aus den Häusern zu entfernen, weil es die Idee der Unabhängigkeit Polens beschwöre.
Paradoxerweise verband sich mit dieser Zeit politischen Niedergangs die Hochblüte polnischer Kultur. Die Romantik brachte mit Cyprian Norwid (1809-1849), Juliusz Słowacki (1909-1849) und Adam Mickiewicz (1798-1855) drei Dichter von Weltrang hervor, die in der Verbindung von Glaube und Freiheit ihren Beitrag für die für Polen typische Symbiose von Religion und Nation leisteten. Jeder von ihnen bereicherte auf seine Weise eine auf Polens Königin bezogene, das Schicksal der Nation deutende Marienlyrik. So endet beispielsweise Norwids mehrstrophige Litanei „Zur allerseligsten Jungfrau“ mit den Worten:
Land, dem Leibrock Deines Sohnes gleich verteilt,
Zerrissen, in alle Winde enteilt,
Volk, geboren in tränenloser Zeit,
Mit Un-Mündigen schon beginnt dein Leid,
Qual ohne Ende, über die Maßen:
„Warum, mein Gott, hast du mich verlassen!“
Volk - einst war ein großes Reich dein eigen,
nun ohne Grab, wo die Adler weinen...
Mutter gute, du Polens Königin,
Bitte für uns...
Zwar haben die Polen unter der Fahne mit dem Bild der Madonna, wenn auch vergeblich, in zwei Aufständen gegen die russische Unterdrückung um ihre Freiheit gekämpft, doch entscheidend dafür, dass nach 120 Jahren der Teilungen des Landes 1918 die Eigenstaatlichkeit zurückgewonnen werden konnte, war das Faktum, dass die Nation diese Zeit – im Ganzen gesehen - in ihrer geistig-moralischen Substanz überstanden hatte. Dafür spricht auch die überraschende Entdeckung, dass in der der Madonna gewidmeten patriotischen Dichtung trotz aller erfahrenen Leiden Motive von Hass und Feindschaft gänzlich fehlen. So bittet Zygmunt Kraśiński (1812-1859), der Verfasser der „Ungöttlichen Komödie“, in seinem als „Gebet“ betitelten Gedicht „Inmitten der Stürme von Jammer und Leid / ... nicht in Bitterkeit / dass unsere Feinde in Unheil fallen“, sondern lediglich darum, „einen stillen Hafen“ zu finden, „weit von ihnen fort.“
Nationale Identifikation mit dem Bild der Madonna über Konfessionsgrenzen hinaus
Als König Jan Kazimierz (1609-1672) am 1. April 1656 Maria in ihrem Tschenstochauer Gnadenbild zur Königin der polnischen Krone ausrief, war die Nation keineswegs religiös homogen. Zwischen Ost und West gelegen, war Polen ein Zwischenland zweier Kulturen - der römischen und der byzantinischen. Katholiken und Orthodoxe lebten neben- und miteinander. Jede Seite wahrte ihre Traditionen, wobei man bemüht war, die Wertschätzung des Eigenen mit dem Respekt gegenüber dem Anderen zu verbinden. Und die Offenheit füreinander förderte eine wechselseitige Befruchtung.
Nur auf diesem kulturellen Hintergrund konnte die Schwarze Madonna als Königin der polnischen Krone Akzeptanz finden. Die Ikone ist schließlich selbst ein Symbol der Verbundenheit beider Traditionen. Byzantinischen Ursprungs, stand sie den Orthodoxen nahe, und die slawischen Katholiken übernahmen das sich vom westlichen Denken abhebende östliche Ikonenverständnis, wonach das heilige Bild die dargestellte Person präsentiert und der betende Betrachter am göttlichen Mysterium teilhat.
Die Romantik hat die vorgegebene kulturelle Verwurzelung der Ikone noch verstärkt. So wundert es nicht, dass selbst Dichter, die sonst der Kirche fern standen, mit ihrer Poesie die Marienlyrik bereichert und dadurch der Madonna ihren Respekt erwiesen haben. Einige spätere Texte sprechen sogar von einer Verbundenheit der Nichtglaubenden mit Polens Königin. So findet sich in einem Gedicht von Jan Lechoń (1899-1956) die Zeile:
An Dich glauben selbst jene, die sonst an nichts glauben.
Und die zeitweise Sekretärin von Józef Piłsudski (1867-1935), Kazimierza Iłłakowiczówna (1892-1983), dichtet in ihrem „Lied zur kämpfenden Gottesmutter“:
In Deinem Namen sind wir beisammen,
die Glauben - und die keinen haben.
Zweiter Weltkrieg und Okkupation
Mit der langen Epoche der Teilungen des Landes war der geschichtliche Leidensweg des polnischen Volkes noch nicht zuende. Nach einer zwanzigjährigen Friedenszeit begann im September 1939 mit dem Überfall deutscher Truppen und dem Einmarsch der Roten Armee eine jahrelange Schreckenszeit deutscher und sowjetischer Okkupation.
Aus diesen Jahren gibt es zahlreiche lyrische Texte, in denen sich die Dichter in ihrer eigenen Not und der ihres Volkes an die Madonna mit der Wangenwunde wenden und aus ihrer Ergebenheit an Polens Königin Kraft und Trost schöpfen. In dem bereits erwähnten „Lied zur kämpfenden Gottesmutter“ macht sich Kazimierza Iłłakowiczówna zum Sprachrohr derer, die „aus Kerkern“ ihr „Leidgedicht“ hinausschreien „aus Sibiriens Sklavenland“, und sie schaut, wie sich „tief über der Toten Hand“ das „pulverschwarze Gesicht“ niederbeugt. Weiter heißt es:
Es beten die Wunden der Soldaten
zu Deines Antlitzes Schrammen.
Kugelgefesselt, säbelzerschlagen
stehen die tapferen Mannen
vor Dir im Glanz Deiner Wunden Licht
und fürchten sich nicht.
Das Lied endet mit der Bitte:
Und ihnen allen, Du Herrin verletzt
gib den Himmel zuletzt.
Konstanty Ildefons Gałczyński (1905-1953), der selbst Jahre in einem deutschen Kriegsgefangenenlager verbracht hat, beschreibt diese Situation in seinem Gedicht „Muttergottes der Lager“. Es ist die Muttergottes selbst, der er seine Sprache verleiht, die nächstens durchs Lager geht, den Häftlingen die Hände auflegt, ihnen „zärtlich und stark“ Mut zuspricht, um ihre Sorgen weiß und sie vor den Thron ihres Sohnes trägt:
Ich weiß um all die Schmerzen - bin bei euch bis zum guten Ende,
ein Leuchten über Verzweiflung, eine Spur in Frost und Schnee.
Aber auch Palme und Kreuz - für jene, die tapfer leiden! -
Wie ein Regen auf Blumen - fallen meine Hände auf euch ...
Der 1910 in Wilna geborene Zdzisław Broncel (1909-1998) geht in seiner strophenreichen „Lauretanischen Litanei“ von einer Idylle voller Bilder von Vogelgesang, Morgentau, Hirtenflöte und Erntekranz aus, um sie dann mit der grausamen Realität zu konfrontieren:
Königin toten Gebeins, der Verbrannten,
Durch Rauch geschickt zu den himmlischen Bergen,
Königin aller in Waggons Verbannten,
Einem Kohlenzug gleich mit schwarzen Särgen,
Gnade der Gehenkten, Trost der Entmannten,
Oh Scham aller Frauen, entblößt von Schergen,
Des Mannes Begehren euch nicht mehr berührt
- Du Königin aller Frauen unverführt,
- Bitte für uns!
Auch diese Verse, in welch grausamen Bildern sie auch die in den Kriegsjahren erfahrene Entwürdigung der Opfer beschreiben, sind frei von jedem Anklang an Hass auf die Täter.
Intensivierung des Marienkults in der Zeit kommunistischer Herrschaft
Die Schreckensjahre des Krieges und der Okkupation waren von der Hoffnung erfüllt, dass - wie es in dem „Gebet“ von Kraśiński heißt - das Herz „kein Zittern und Zagen“ mehr kennt, „kein stilles Fragen / Wann die wilden, plötzlichen Gäste kommen, / Die sich ihr Recht auf das Unrecht genommen!“
Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs brach für Polen eine Zeit erneuter Unterdrückung an. Das Land geriet unter die Hegemonie der Sowjetunion und erhielt ein im Widerspruch zur nationalen Tradition stehendes politisch-ideologisches System. Wie in der Epoche der Teilungen und der Okkupation wurde die Kirche wiederum zum schützenden Hort nationaler Identität. Und erneut wurde die Jasna Góra, der Thronsitz der Madonna, zum Fels in der Brandung.
Um die Freiheit der Kirche vor staatlicher Unterwerfung zu bewahren, hatte Primas Stefan Wyszyński (1901-1981) sein non possumus gesprochen und war dafür 1953 verhaftet worden. In geschichtlicher Rückbesinnung auf den Schwedeneinfall im 17. Jahrhundert deutete er die für die Kirche und die Nation entstandene bedrohliche Situation als neuerliche „Sintflut“. Wie damals, so galt es auch jetzt, sich aus ihr mit Hilfe der Madonna zu retten. Also erarbeitete der Primas ein auf die Jasna Góra orientiertes Pastoralprogramm. Dieses sah für den 26. August 1956, dem Fest der Madonna von Tschenstochau, vor, die 300 Jahre zuvor abgelegten nationalen Gelübde zu erneuern. Dann sollte im darauf folgenden Jahr das Millennium der Taufe Polens durch eine Große Novene vorbereitet werden. Neun Jahre lang sollte eine Kopie der Ikone jede einzelne Pfarrei im Lande besuchen und das Versprechen der Gläubigen entgegen nehmen, sich für die Freiheit der Kirche und des Vaterlandes der Herrschaft Mariens zu unterwerfen.
Am 26. August 1956 versammelten sich im Nationalheiligtum auf der Jasna Góra rund eine Million Pilger und erneuerten vor dem Gnadenbild und dem leeren Stuhl des sich in Haft befindlichen Primas die Gelübde der Nation: „Königin von Polen! ... Wir versprechen alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit Polen dein wirkliches Königreich und das deines Sohnes wird, in unserem persönlichen, beruflichen und sozialen Leben völlig deiner Herrschaft unterworfen...“
Zwei Monate später kam Primas Wyszyński im Zusammenhang mit dem „Polnischen Oktober“ wieder frei. Bald darauf machte er sich auf den Weg nach Rom, um seinen Kardinalshut in Empfang zu nehmen und bei dieser Gelegenheit die für den Besuch der Pfarreien vorgesehene Kopie der Ikone vom Papst weihen zu lassen. Mit der Eröffnung der Großen Novene am 26. August 1957 begann dann die Pilgerschaft der Madonna durch ganz Polen:
Rastlos pilgernd von Ort zu Ort
Ist Dein Kommen heute, Königin.
Dir gebührt dafür mit Herz und Sinn
unser Dankeswort.
Ohne Krone, ohne kostbares Gewand,
Ohne Zepter in Deiner Hand,
ganz menschlich willst Du uns erscheinen,
ganz nah bei uns verweilen.
Nach verschiedentlichen behördlichen Störungen wurde die Ikone am 2. September 1966, schon im Jahr des Millenniums, auf dem Weg in die Diözese Kattowitz förmlich verhaftet und, von einer Polizeieskorte begleitet, ins Paulinerkloster zurückgebracht. Nunmehr setzte Polens Königin ihren Weg in einem leeren Rahmen fort. Diese neun Jahre und das anschließende Millennium waren eine religiöse Manifestation, die das kommunistische System zu erschüttern drohte.
Noch ein weiteres Mal bedienten sich Polens Bischöfe des Instruments einer auf die Jasna Góra ausgerichteten Massenpastoral. 1976 riefen sie in einem Hirtenwort (3) zu einer sechsjährigen Vorbereitung auf den 600. Jahrestag der Präsenz des Gnadenbildes im Jahr 1982 auf. In diese Zeit fiel die Wahl des „polnischen“ Papstes. Acht Monate nach seiner Wahl begab sich Johannes Paul II. (1920-2005) auf seine erste Pilgerreise in seine Heimat. Am 2. Pfingsttag des Jahres 1979 betonte der Papst in seiner Predigt in Tschenstochau die enge Verbundenheit der polnischen Geschichte mit der Gottesmutter auf der Jasna Góra: „Wollen wir erfahren, wie diese Geschichte in den Herzen der Polen widerhallt, dann müssen wir hierher kommen. Dann müssen wir das Ohr an diesen Ort halten. Dann müssen wir auf das Echo des gesamten Lebens der Nation im Herzen ihrer Mutter und Königin lauschen!“ In Erinnerung an diese Pilgerfahrt dichtete der 1907 geborene Jerzy Zagórski (1907-1984) geradezu prophetisch in Anrufung der Madonna:
Weite die Herzen - nicht um Grenzen zu weiten,
Weite die Herzen - um Hände zu reichen,
Wecke uns aus dem Schlaf der Geschichte.
Gib den Litauern, Russen, Ukrainern einen freien Atem,
Den Weißrussen Würde, den Völkern des Kaukasus
Hochgemuten Geist, den Tschechen - Vaterschaft im Glauben,
Unserem Volk - Geist des Gebets und Sorge um die Brüder,
Den Slowaken eine reiche Zukunft, den Ungarn
Festigung der Freundschaft ... und allen Ungenannten
Des Segens Überfülle in der Kraft Deines Bildes.
Solidarność im Zeichen der Madonna
Als die in der Danziger Leninwerft streikenden Arbeiter im August 1980 die Gewerkschaft Solidarność gründeten, hing wie selbstverständlich neben dem Bild Johannes Pauls II. auch das der Schwarzen Madonna am geschlossenen Werktor. Und als der Primas am 26. August eine Predigt hielt, die im Fernsehen durch Auslassungen in entstellter Form gesendet wurde und die von den Arbeitern als Aufforderung zur Beendigung ihres Streiks verstanden wurde, antworteten sie durch ein Spruchband mit der Aufschrift „Die Madonna streikt!“ Damit beriefen sie sich auf die noch über dem Primas stehende Autorität der Königin Polens.
Nach Anerkennung der Gewerkschaft begab sich Lech Wałęsa mit einer Delegation zur Jasna Góra, um die Solidarność der Gottesmutter zu weihen und diese gewerkschaftliche Freiheitsbewegung unter ihren Schutz zu stellen.
Auch die sechzehn Monate Solidarność fanden ihren lyrischen Niederschlag. So beschreibt der junge Paulinermöch Jan Pach am 1. September 1980 in seinem „Gebet zur Mutter des Erwachens“ die vor aller Welt offenbar gewordene „Wandlung der Herzen“ der Madonna zu, sieht in Maria gleichsam einen „Schwamm“, der das geschichtliche „Los“ des polnischen Volkes aufsaugt, sowie die „Wiege für Leben und Freiheit“. Er ruft sie an als
Schwester der Enterbten
der gegen den Strom Schwimmenden
der Gestrandeten mit dem Mut zu einem Neubeginn.
Und er sieht sie
wandernd durch Werften Fabriken und Städte
mit dem Siegel der Wunden.
Das „Gebet“ endet mit der Bitte:
Dunkelwangige Hüterin der Würde
rette uns vor gesichtslosen Freunden
und vor uns selbst.
Dysfunktionalität des tradierten Deutungsmusters nach erreichter Freiheit?
Die letzte Bitte aus dem „Gebet“ von Jan Pach hat mit dem Ende kommunistischer Herrschaft, der demokratischen Entwicklung und der mit ihr verbundenen Herausbildung einer pluralistischen Gesellschaft eine vom Autor nicht vorhersehbare und von ihm selbst offensichtlich nicht geteilte Aktualität gewonnen. Der langjährige im Zeichen Mariens geführte Kampf um die Freiheit von Glaube und Nation hatte nunmehr sein Ziel erreicht. Doch wie sollte man jetzt mit dem tradierten religiös-nationalen Deutungsmuster der Ikone der Schwarzen Madonna umgehen? War es nicht aufgrund der veränderten Situation dysfunktional geworden? Oder blieb es vielmehr angesichts sich neu abzeichnender vermeintlicher und wirklicher Gefahren eines westlichen, die nationale Identität bedrohenden Säkularismus weiterhin aktuell? Während ein sich herausbildender offener Katholizismus die nach 1989 eingetretene Entwicklung weniger als Gefährdung, sondern mehr als eine chancenreiche Herausforderung wertete, sahen in ihr Kreise eines geschlossenen Katholizismus gleichsam eine neue „Sintflut“, der mit dem gleichen tradierten Deutungsmuster zu begegnen sei. Anstelle der einstigen Feinde von Glaube und Nation - der Fremdherrschaft unter den drei Teilungsmächten, der NS-Schreckensherrschaft während der fast fünfjährigen Okkupation sowie des über vierzig Jahre andauernden Kirchenkampfes mit dem atheistischen System kommunistischer Prägung - gerieten nun innergesellschaftliche und innerkirchliche Feinde ins Visier. Vor allem Radio Maryja und einige mit dem Sender eng verbundene Kirchenzeitungen waren in deutlicher Anknüpfung an die Nationaldemokraten der Zwischenkriegszeit bestrebt, das Modell einer Einheit von katholischem Glauben und polnischer Nation unter Berufung auf Maria, Polens Königin, auf die weltanschaulich, ethnisch und politisch plurale Gesellschaft zu übertragen. Die Folge waren eine bedenkliche Politisierung polnischer Mariologie sowie eine Verschärfung der innerkirchlichen Auseinandersetzung, in der die national-katholischen Gruppierungen in scharfer Form gegen die Vertreter eines offenen Katholizismus polemisierten und ihnen ihr Katholischsein förmlich absprachen. Es ließen sich manche Zitate aus auf Jasna Góra gehaltenen Wallfahrtspredigten, auch solche von Bischöfen, anführen, in denen im Namen Mariens gegen vermeintliche Feinde der Kirche, gegen den sogenannten Liberalismus und gegen eine die nationale Identität Polens angeblich gefährdende Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu Felde gezogen wurde. So sah beispielsweise der erwähnte Paulinermönch Jan Pach, nunmehr als Walfahrtsprediger, in den Parlamentswahlen von 1991 keine bloße Abstimmung über politische Programme und Reformrichtungen, sondern er verstand diese Wahl geradezu „als Entscheidung entweder für Christus und seine, die polnische Geschichte gestaltende Wahrheit oder für die Diener Satans, die sich zu einer Welt ohne Gott bekennen, fern jeder christlichen Moral.“(4) Und Parlamentarier segnete er während ihrer Wallfahrt am Fest Mariä Lichtmess mit den Worten: „Maria, die Mutter und Königin, schütze euch mit ihrem Mantel und einer Weihekerze vor dem Rudel der Wölfe - besonders vor denen im Schafspelz, die sich für fortschrittliche Katholiken halten.“(5) Die mit derlei Interpretationsmustern geführte Auseinandersetzung hält bis heute an. Angesichts dieser Situation scheint die Bitte um Rettung „vor uns selbst“ höchst dringlich, will man nicht Gefahr laufen, dass die Jasna Góra, statt weiterhin der Einheit zu dienen, zu einem Ort der Zwietracht wird. Um dieser Gefahr wirksam zu begegnen, bedarf es einer der veränderten Situation angemessenen Pastoral und Verkündigung und dies auch in Bezug auf „Polens Königin“. So könnte in Analogie zu dem zitierten Text von Gregor von Sambor die Jasna Góra zu einem Wallfahrtsort von europäischer Dimension werden und über eine nationale Fixierung hinaus eine stärkere universale Ausrichtung finden. Und als noch uneingelöstes Pfand der Versöhnung könnte - eingedenk der ostkirchlichen Herkunft der Ikone - Tschenstochau zu einem ökumenischen Zentrum werden, das sich der Einheit mit den Ostkirchen verpflichtet weiß.
(1) Janusz St. Pasierb, Jan Zamek, Kazimierz Szafraniec, Die Kunstschätze des Klosters Jasna Góra, Leipzig 1977, S. 6.
(2) Die in diesem Aufsatz verzeichneten lyrischen Texte wurden von mir aus dem Polnischen übersetzt.
(3) Vgl. den Abdruck dieses Hirtenbriefes in Orientierung 13/1976, S. 140-143.
(4) Jan Pach, Wybrać Jezusa, nie Barabasza (Jesus wählen, nicht Barabbas), Niedziela v. 13. 10. 1991.
(5) Drs., Wierni Maryi (Treu zu Maria), ebd. v. 14. 02. 1993.
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