Papst Franziskus und das katholische Polen
Aus Anlass des Weltjugendtreffens reiste Papst Franziskus in den letzten Julitagen nach Polen. Doch nicht dieses eindrucksvolle Ereignis, von dem der weltweit ausgestrahlte Abschlussgottesdienst mit geschätzten eineinhalb Millionen Gläubigen in Erinnerung bleibt, ist Gegenstand dieser Überlegung, sondern die Einstellung der polnischen Kirche zu Papst Franziskus und wie auf diesem Hintergrund sein Besuch verlaufen und zu bewerten ist.
Franziskus ist für die Polen – wie es Adam Boniecki, ehemaliger Chefredakteur des Tygodnik Powszechny, formuliert hat – ein „untypischer, unbequemer Papst“. Bereits kurz nach seiner Amtseinführung irritierte er Polens Bischöfe und Priester. Dass er nicht wie seine Vorgänger den Vatikanischen Palast zu seinem Domizil wählte, sondern im Gästehaus Santa Marta Quartier bezog, stieß bei ihnen ebenso wenig auf Verständnis wie seine Kritik an der Erhebung von Gebühren für pastorale Dienste. Manche Bischöfe ließen wissen, sie hätten nicht die Absicht, ihre Residenzen zu verlassen. Und was die Erhebung von Gebühren betrifft, so verwiesen sie nicht zu Unrecht darauf, dass diese aus Ermangelung an Kirchensteuern neben den Kollekten als Haupteinnahme notwendig seien, um den Unterhalt der Gotteshäuser, der Priester sowie kirchlicher Einrichtungen zu gewährleisten. Ob allerdings eine kirchliche Hochzeit mancherorts bis zu 1000 Złotych (250 €) „kosten“ muss, ist eine andere Frage.
Der einfache Lebensstil des Papstes ist für Polens Bischöfe und Priester, aber wohl auch für die Mehrzahl besonders treuer Gläubigen, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig. Denn sie haben eine gänzlich andere Vorstellung vom Auftreten eines Geistlichen. Sie werden mit „ksiądz“ angesprochen, was im Slawischen so viel wie „Stammesfürst“ bedeutet. Und diese mit dem Begriff verbundene herrschaftliche Abgehobenheit zeichnet denn auch gemeinhin den polnischen Klerus aus. Sie äußert sich darin, „dass wir uns wie Besitzer der Wahrheit, der Religion, der Kirche und Gottes verhalten. Alles wissen wir. Auf alles haben wir eine Antwort“, wie der Dominikaner Ludwik Wiśniewski anmerkt. Angesichts der Tatsache, dass – wie Wiśniewski weiter ausführt – dieser klerikale Autoritarismus den Erfordernisse einer modernen Gesellschaft widerspricht, von selbstbewussten Laien als unerträglich empfunden wird und sie der Kirche entfremdet, könnte der schlichte Lebensstil und das bescheidene Auftreten des Papstes diesem Trend entgegenwirken, würden Polens Bischöfe und Priester sich an ihm orientieren, anstatt ihn abzulehnen.
Doch nicht allein der einfache Lebensstil des Papstes sorgt in Polens Kirche für Irritationen. Auch seine einfache Sprache erregt Verwunderung. Gemessen an der charismatischen Wortgewalt eines Johannes Paul II. und der geschliffenen theologischen Rede eines Benedikt XVI. empfinden Geistliche wie Laien Aussagen von Papst Franziskus als allzu schlicht – und übersehen dabei ihre jesuanische Nähe zum Evangelium. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Äußerung des polnischen Primas auf der Pressekonferenz nach der Begegnung des Papstes mit den Bischöfen: „Er sprach zu uns wie zu Kindern.“ Der Primas dürfte dabei wohl kaum an das Jesuswort gedacht haben: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3)
Doch es geht nicht nur um die schlichte Redeweise des Papstes, es geht mehr noch um inhaltliche Aussagen. Denn diese führen immer wieder zu Verunsicherungen unter den stark legalistisch geprägten Bischöfen und Priestern. Das päpstliche Bemühen etwa, den starren kirchlichen Legalismus durch die Betonung persönlicher Gewissensentscheidung aufzubrechen und vom Primat der Barmherzigkeit bestimmte Denkprozesse anzustoßen, die – beispielsweise - den in einer nicht gültigen kirchlichen Ehe lebenden Gläubigen die Teilhabe an der sakramentalen Gemeinschaft ermöglichen würden, stößt – wie die jüngste, der Familienpastoral gewidmete Bischofssynode gezeigt hat – bei der polnischen Hierarchie auf entschiedenen Widerstand.
Auch die ökologische, der Bewahrung der Schöpfung gewidmete Enzyklika „Laudato si“ fand in Polen ihre Kritiker. Vor allem nationalkatholische Kreise sprachen ihrem Verfasser für die sich aus dem Text ergebenden Konsequenzen die moralische Autorität ab und sahen im Papst einen Lobbyisten von Gazprom, deutschen Solarinstallationen und französischen Atomkraftwerken. „Laudato si“ verurteile die sich weitgehend auf Kohle stützende polnische Energiepolitik. Entsprechend äußerte sich Präsident Andrzej Duda am 04. Dezember 2015: „Wenn ein Staat 90% der europäischen Kohlebestände besitzt, wenn der Energiesektor eines Staates zu einem absolut entscheidenden Teil auf Kohle basiert, dann ist in diesem Staat die Rede von einer Abkehr von der Steinkohle Häresie und antistaatlich.“ Entsprechend reserviert reagierte Polens Kirche auf die verbreitet als „antipolnisch“ verstandene Enzyklika. Zwar rief Erzbischof Stanisław Gądecki in einer Predigt zur „ökologischen Umkehr“ auf, und die schlesischen Bischöfe widmeten ein gemeinsames Hirtenwort der Luftverschmutzung, von der das schlesische Kohlerevier besonders betroffen ist, doch insgesamt wurde „Laudato si“ von Bischöfen und Priestern entweder ignoriert oder kritisch kommentiert.
Dissens in der Flüchtlingsfrage
Die erste Reise hatte Papst Franziskus auf die Insel Lampedusa geführt, um der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge zu gedenken. Angesichts einer "Globalisierung der Gleichgültigkeit“ erinnerte er an die mitmenschliche Verantwortung für in Not geratene Brüder und Schwestern gleich welcher Nation, Religion und Hautfarbe – eine eindringliche Mahnung an die Europäer, sich der Flüchtlinge anzunehmen, sie nicht umkommen zu lassen, sondern ihnen Schutz zu gewähren und sie aufzunehmen.
Ganz anders Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Im Herbst 2015 warnte er im Wahlkampf um die Parlamentssitze vor der Aufnahme von Flüchtlingen, die Krankheiten ins Land bringen und in den Kirchen ihre Notdurft verrichten würden. Damit gab er in der Flüchtlingsfrage die Linie vor, die seitdem von seiner, über die absolute Mehrheit verfügenden Regierung konsequent verfolgt wird. So wurde die von der Vorgängerregierung zugesagte Aufnahme von 7000 Flüchtlingen von Ministerpräsidentin Beata Szydło zurück genommen und über die gleichgeschalteten staatlichen Medien in der Bevölkerung eine islamfeindliche Stimmung erzeugt, die für den notwendigen Rückhalt für die Flüchtlingspolitik der Regierung sorgt und die zugleich eventuellen Asylsuchenden signalisiert, in Polen nicht willkommen zu sein.
Polens Bischöfe, die wiederholt in der Vergangenheit gegen Gesetzesvorhaben und Beschlüsse früherer Regierungen Stellung bezogen haben, wenn diese – wie etwa in der Abtreibungsfrage und der künstlichen Befruchtung - mit kirchlichen Moralvorstellungen nicht in Einklang standen, enthielten sich bezüglich der Flüchtlingspolitik der PiS-Regierung jeglicher Kritik. Ihre Äußerungen zur Not der Flüchtlinge verbleiben sehr im Allgemeinen. Auch sehen sie in den vor Krieg, Hunger und Tod fliehenden Menschen vor allem die Gefahr einer durch den Islam drohenden religiösen Konkurrenz sowie eine Beeinträchtigung der von ihnen forcierten Einheit von Glaube und Nation. In Hinblick auf den bevorstehenden Papstbesuch, von dem man zu Recht erwartete, dass Franziskus eine positive Einstellung zur Flüchtlingsfrage anmahnen würde, unterbreitete der Episkopat allerdings der Öffentlichkeit den Vorschlag, einen humanitären Korridor zu schaffen, um einem begrenzten Kontingent syrischer Flüchtlinge die Aufnahme in Polen zu ermöglichen. Doch dieser Vorschlang steht mehr oder weniger im leeren Raum, wurde er doch von der Regierung, die ihn schließlich realisieren müsste, nicht aufgegriffen.
Zudem gibt es ein Programm der polnischen Caritas „von Familie zu Familie“. Durch einen Spendenaufruf an die Pfarreien sollen die erforderliche Mittel aufgebracht werden, um etwa tausend in Libyen und in Jordanien lebende Flüchtlingen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, unterstützen zu können. Es ist dies gewiss eine begrüßenswerte Initiative, die allerdings angesichts des Ausmaßes der Flüchtlingsproblematik keine Alternative zu der von Papst Franziskus gewünschten Aufnahme von Flüchtlingen darstellt. Die hat er denn auch, wie erwartet, in Polen mehrfach angesprochen.
Offizieller Empfang auf dem Krakauer Wawel
Gleich nach seiner Ankunft am 27. Juli wurde Papst Franziskus von Staatspräsident Andrzej Duda im Namen der versammelten Vertreter von Staat, Kirche und Gesellschaft im Innenhof des Krakauer Königsschlosses auf dem Wawel feierlich begrüßt. Duda erinnerte an Johannes Paul II., der 1979 während seines Besuchs in Polen den Geist Gottes zur Erneuerung Polens herabgerufen und damit die Voraussetzung für das neue Polen nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1989 geschaffen habe. Papst Franziskus knüpfte daran an, indem er auf das sich aus der Geschichte ergebende polnische Identitätsbewusstsein Bezug nahm. Wörtlich sagte er: „Ein Identitätsbewusstsein ohne jede Überheblichkeit ist unerlässlich, um eine nationale Gemeinschaft auf dem Fundament ihres menschlichen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Erbes aufzubauen, um die Gesellschaft und die Kultur zu inspirieren, indem man es zugleich in der Treue zur Tradition wie auch in der Offenheit für die Erneuerung und die Zukunft bewahrt.“ Mit dieser Aussage erteilte der Papst, wenngleich indirekt, einem überzogenen nationalkatholischen Identitätsbewusstsein eine klare Absage. Zudem erinnerte der Papst an die versöhnende Kraft des Briefwechsel polnischer und deutscher Bischöfe von 1965 und kam dann auf die Flüchtlingsproblematik zu sprechen: Es sei „die Bereitschaft zur Aufnahme aller, die vor Krieg und Hunger fliehen, notwendig sowie die Solidarität gegenüber denen, die ihrer Grundrechte beraubt sind, darunter des Rechtes, in Freiheit und Sicherheit ihren Glauben zu bekennen.“
Außerhalb des Protokolls hatte Papst Franziskus Staatspräsident Duda in einem persönlichen Gespräch auf seinen eigenen Migrationshintergrund verwiesen – gleichsam als ein leibhaftiges Beispiel erfolgreicher Integration. Auch habe sein aus Italien eingewanderter Vater mit polnischen Migranten sehr gut zusammengearbeitet – ein Fingerzeig darauf, dass Polen in einem fremden Land Aufnahme gefunden haben und sich daraus wohl die Verpflichtung zu gleicher Großzügigkeit ergebe.
Das Gespräch mit den Bischöfen (1)
Im Anschluss an den öffentlichen Empfang traf sich Papst Franziskus im Presbyterium der Kathedrale auf dem Wawel mit etwa 130 Oberhirten zu einem eineinhalbstündigen Gespräch. Er antwortete auf vier ihm gestellte Fragen.
Angesichts der von Polens Kirche tief empfundenen Bedrohung durch Einflüsse des „entchristlichten Westens“ kam als erstes die Situation in Polen zur Sprache, „die durch die Konfrontation, durch einen mächtigen Kampf zwischen dem Glauben an Gott einerseits und andererseits durch ein Denken und einen Lebensstil bestimmt ist, als gäbe es Gott nicht.“ Wie solle die Pastoral darauf reagieren, „damit die polnische Nation ihrer tausendjährigen Tradition treu bleibt?“ In seiner Antwort äußerte sich Papst Franziskus zwar kritisch zur „Ideologie des Genderismus“ und ihren schädlichen Konsequenzen, griff aber nicht die bei den Bischöfen in Abwehr westlicher Einflüsse beliebten Themen der Sexualethik, der Empfängnisverhütung, der künstlichen Befruchtung und der Abtreibung auf. Wer zudem erwartet hatte, der Papst würde positiv auf die in Polens Kirche verbreitete nationalkatholische Denkweise eingehen, sah sich enttäuscht. Franziskus stellte vielmehr zwei Begriffe in den Mittelpunkt – Nähe und Berührung als Ausdruck der Barmherzigkeit „für den Leib wie für die Seele“. Er ermahnte die Bischöfe, ihren Priestern nahe zu sein, für sie Zeit zu finden und ihren Wunsch nach einem Gespräch nicht aufzuschieben, sondern zeitnah zu erfüllen. Und den Priestern legte er ans Herz, bei den Menschen zu sein, besonders bei den in Not geratenen. Man dürfe die Leute, die zu ihrem Pfarrer kommen, nicht mit dummen Worten abspeisen. Und wenn jemand eine Trauung anmelde, habe man ihn nicht darauf zu verweisen, was sie koste; das sei eine „Karikatur von Pastoral“.
Der Papst selbst gab übrigens für die von ihm eingeforderte Nähe und Berührung während seines Besuchs ein Zeichen, fand er doch Zeit, um den schwer erkrankten, wenige Tage später verstorbenen emeritierten Krakauer Kardinal Franciszek Macharski aufzusuchen und in einem Krankenhaus an den Betten leidender Kinder zu verweilen.
Offenbar haben Polens Bischöfe mit der von Papst Franziskus betonten zentralen Bedeutung der Barmherzigkeit ein Problem. Denn anders ist kaum ihre weitere Frage zu verstehen: „Wie soll man die Lehre von der Barmherzigkeit anwenden, und vor allem wem gegenüber?“ Hinter dieser Frage steht die Irritation der polnischen Hierarchie, die Franziskus mit Äußerungen zu Homosexuellen und wiederverheirateten Gläubigen bei ihr ausgelöst hat. Aber Franziskus sagte nicht, ob der kirchliche Legalismus durch Barmherzigkeit aufgebrochen werden kann, und wenn ja, in welchen Fällen und zu welchen Bedingungen. Er gab vielmehr zu verstehen dass die Barmherzigkeit „als das in Christus verkörperte Geheimnis Gottes“ keine Grenzen kennt. Dazu verwies er auf das Kapitell in der Basilika Maria Magdalena im französischen Vézelay, das auf der einen Seite Judas zeigt, am Strick und mit heraushängender Zunge, und auf der anderen Seite Jesus als der Gute Hirt, der ihn zu sich aufnimmt.
Auf die in der Welt herrschende Ungerechtigkeit angesprochen, sieht Franziskus diese – ganz im Sinne seiner Enzyklika „Laudato si“ – in der Ausbeutung der Schöpfung und in der von ihm scharf verurteilten Vergötzung des Geldes begründet. Und er rief zu einem die eigene kirchliche Enge aufbrechenden Handeln auf: „Wie oft klopft der Herr von außen an die Tür, damit wir ihm öffnen, damit Er mit uns nach draußen gehen kann, um das Evangelium nach außen zu bringen.“ Nach Papst Franziskus geht es offenbar nicht nur darum, den anklopfenden Herrn zu sich herein zu lassen, wie gewöhnlich die entsprechende Bibelstelle interpretiert wird (Lk 12,35), sondern ihm zu öffnen, um mit ihm hinaus zu gehen.
Die letzte Frage, von dem für die Seelsorge an Flüchtlingen verantwortlichen Weihbischof gestellt, betraf den Umgang mit Flüchtlingen: „Was können wir tun, um die Angst vor ihrer Invasion oder die Aggression zu überwinden, welche die gesamte Gesellschaft paralysiert.“ Der Papst antwortete sehr moderat und verwies darauf, dass es in der Flüchtlingsfrage keine universale Antwort gebe, denn die Aufnahmebereitschaft hänge von der Situation eines jeden Landes ab, auch von der Kultur. Doch für die Aufnahme von Flüchtlingen verlangte er „ein absolut offenes Herz“, aber auf welche Weise dies geschehe, „sei relativ“. Allerdings dürfe es nicht zu einer Gettobildung kommen, denn diese sei für die Terrorakte mitverantwortlich, wie die Vorgänge in Brüssel gezeigt hätten. Mit diesen Worten nahm Franziskus zwar Polens Bischöfe bezüglich der Flüchtlingsproblematik in die Pflicht, ließ dabei aber offen, wie sie konkret ihrer Verantwortung gerecht werden können. Mit dieser zurückhaltenden Behandlung der Flüchtlingsproblematik zeigten sich die Bischöfe, wie man hört, recht zufrieden.
Keine politische Einvernahme des Papstbesuches
Im Vorfeld der Papstreise war darüber spekuliert worden, ob Franziskus das Grab des 2010 bei der Flugzeugkatstrophe von Smolensk ums Leben gekommenen Präsidenten Lech Kaczyński aufsuchen würde. Von Seiten der Regierung hatte es offenbar diesen Wunsch gegeben. Im Rahmen des Besuchsprogramms wäre es ein Leichtes gewesen, ihm zu entsprechen. Papst Franziskus hätte nur nach der Begegnung mit den Bischöfen den kurzen Weg in die Krypta der Kathedrale zurücklegen müssen, wo Staatspräsident Lech Kaczyński in den Königen und Nationalhelden vorbehaltenen Grüften seine letzte Ruhe gefunden hat. Was auf den ersten Blick lediglich wie eine Geste der Pietät erscheint, wäre jedoch ein Akt von höchster politischer Brisanz gewesen. Doch dazu kam es nicht.
Präsident Andrzej Duda hatte in seiner Begrüßungsrede die symbolische Bedeutung der Wawel-Kathedrale samt ihren Gräbern betont hervorgehoben, indem er darauf verwies, „wie viele Könige, Nationalhelden, bedeutende Polen und Führer der Nation hier ihre ewige Ruhe gefunden haben.“ Daher sei dies für die Polen der Ort „einer vielfachen Wiedergeburt unserer Nation und ihrer Kraft, deren Quelle seit 1050 Jahren unser christlicher Glaube ist.“
Mit dieser Aussage knüpfte der Staatspräsident an die bis in die Zeit der polnischen Romantik zurückreichende Tradition an, aufgrund derer – wie es der polnische Nationaldichter Juliusz Słowacki formulierte – die Grüfte der Kathedrale nicht nur die sterblichen Überreste von Königen und Nationalhelden bewahren, sondern auch „ihren unsterblichen Geist“. Angesichts dieser nationalen Bedeutung der Grabstätten in der Krypta der Wawel-Kathedrale hatte es im Übrigen damals an der Entscheidung, Präsident Lech Kaczyński diese Ehre zukommen zu lassen, Kritik gegeben. Man befürchtete zu Recht, wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, dass Zwillingsbruder Jarosław und seine Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) diese besondere Auszeichnung zu einer Sakralisierung ihrer nationalen Politik nutzen würden, die es erlaubt, ihre Gegner als „nationale Verräter“ zu brandmarken und im Bewusstsein heiligster Verpflichtung ihre politischen Absichten gegen alle Bedenken und Widerstände durchzusetzen.
Zur Sakralisierung ihrer Politik war es allerdings erforderlich, dass für PiS der Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 mit fast 100 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kein beklagenswerter Unfall, sondern ein Attentat war, für das man den Kreml sowie Donald Tusk, den damaligen Regierungschef, verantwortlich macht. Obgleich bereits eine von unabhängigen Experten erarbeitete umfangreiche Untersuchung dieser Katastrophe vorliegt, die ein Attentat definitiv ausschließt, hat PiS eine neuerliche Untersuchung in Auftrag gegeben, die Beweise für ein Attentat liefern soll. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Verteidigungsminister Antoni Macierewicz die Gelegenheit einer Begegnung mit Papst Franziskus nutzte, um ihn über die „Wahrheit“ der Katastrophe von Smolensk zu informieren.
Dass PiS so beharrlich und realitätsfremd die These eines Attentates vertritt, erklärt sich aus dem Bemühen, die Flugzeugkatastrophe von Smolensk in die Tradition nationalen Martyriums einzufügen, die im nationalen Geschichtsverständnis immer den Kern einer nationalen Wiedergeburt und eines nationalen Neubeginns in sich birgt. Dass auch Polens Kirche diesem Bestreben zuneigt, belegen Äußerungen einzelner Bischöfe. So beschuldigte Erzbischof Sławoj Leszek Głódź am sechsten Jahrestag der Smolensker Katastrophe die von Tusk geführte Vorgängerregierung, das Gedenken an sie verdrängt zu haben. Wörtlich sagte er: „Ganz bewusst wurde die große Chance vertan, die polnische Gesellschaft aufgrund der Erhellung der Ursachen der Smolensker Tragödie, ihres breiten Kontextes, zu integrieren. […] Dieser Flug dauert an. Enden soll er mit der Landung der Wahrheit.“(2)
Man stelle sich vor, Papst Franziskus wäre in Begleitung von Staatspräsident Andrzej Duda, Jarosław Kaczyński und dem Krakauer Kardinal Stanisław Dziwisz in die Krypta der Wawel-Kathedrale hinabgestiegen, um vor dem Sarkophag von Lech Kaczyński im Gebet zu verharren. Das Foto von dieser eindrucksvollen Szene hätte als Beweis einer durch das Oberhaupt der Kirche bestätigten Sakralisierung der Smolensker Tragödie gedient, in der PiS nichts weniger als den Gründungsmythos der von ihr angestrebten IV. Republik sieht. Eine schlimmere Instrumentalisierung des Papstbesuches wäre kaum denkbar.
Kritik nationalkatholischer Kreise
Wenngleich der Papstbesuch in Polens Kirche und Gesellschaft ein überaus positives Echo fand, so fehlte es doch nicht an kritischen Stimmen aus dem rechten, nationalkatholischen Lager. Dort stufte man die Aussagen des Papstes zur Flüchtlingsproblematik sowie zur Barmherzigkeit als „naiv“ ein und sah in Franziskus einen „Idealisten“ und „Träumer“, der eine „Utopie“ verkünde, die mit der Realität nichts gemein habe. Manche dieser Nationalkatholiken fanden noch deutlichere Worte. So stellte Paweł Lisicki, Chefredakteur von „Do Rzeczy“, den Glauben seiner Oma in Gegensatz zu dem des Papstes, wobei er betonte, dass dieser „in Polen kein einziges Mal an Gott, den gerechten Richter, sowie an die Vision ewiger Verdammnis erinnerte. Warum – so fragt er - erwähnte der Papst von den beiden Attributen Gottes nur die Barmherzigkeit?“(3)
Auch die Aussagen des Papstes zur Flüchtlingsproblematik stießen bei den Nationalkatholiken auf Kritik. Man sah nicht die Not der Menschen, sondern die dem christlichen Europa drohende Gefahr. So warf £ukasz Warzecha, Mitarbeiter der rechten Wochenzeitschrift „wSieci“, dem Papst vor, „statt sich an die Spitze der Verteidigung der westlichen Welt vor der Invasion zu stellen, die das Ende ihrer Existenz sein kann, verkündet er zu Tränen rührende Katechesen darüber, dass man den Armen helfen soll“.(4)
Papst Franziskus hatte sich im Gespräch mit den Bischöfen neben der Sorge um die Flüchtlinge auch dafür ausgesprochen, den zahlreichen polnischen Emigranten die Rückkehr in ihre Heimat zu erleichtern. Diese Aussage nutzte man in den rechten Medien, um gegen die Absicht des Papstes sowie gegen die klare Botschaft des Evangeliums (Lk 10, 25-37) eine Rangordnung der Hilfeleistung zu konstruieren. So äußerte sich der Theologieprofessor Paweł Bartkiewicz wie folgt: „Sprechen wir über irgendwelche Liebe oder Solidarität, dann gilt es zu bedenken, dass es eine gewisse elementare Ordnung dieser Liebe gibt. Als erstes die Elternliebe, die Liebe der eigenen Familienmitglieder, die Vaterlandsliebe, dann erst die im weitesten Sinne altruistische Liebe.“(5)
Besonders kritisch und geradezu beleidigend äußerte sich der ehemalige namhafte Politiker und jetzige Publizist Janusz Rokita über den Papstbesuch, und dies immerhin in den unserer „Tagesschau“ vergleichbaren „Wiadamosci“. „Ehrlich gesagt – äußerte er sich zu den Worten des Papstes vor der versammelten Staatsführung und geladenen Gästen auf dem Wawel – aus Sicht eines normalen Menschen, eines gewöhnlichen Bürgers, war dies keine wichtige Ansprache; das war eine unkonkrete Rede, diplomatisch, voller Allgemeinheiten, doch nichts, was das Herz des einzelnen Menschen besonders angesprochen hätte.“ Er schreckte nicht vor diffamierenden Äußerungen zurück, indem er mit Blick auf „Gesicht“ und „Bauch“ des Papstes dessen asketischen Lebensstil in Zweifel zog. Und weiter: „Das Christentum befindet sich auf dem Rückzug, die europäischen Institutionen verhalten sich antireligiös. Das ist keine gute Zeit für das europäische Christentum, und da kommt das Oberhaupt der Kirche, das uns kritisiert, statt diese Welt scharf zu kritisieren.“(6)
Während der fünf Tage des Papstbesuchs waren Menschen aus aller Welt in Polen zu Gast. Sie waren aus den fernsten Ländern angereist und fanden vor und während des Weltjugendtreffens in polnischen Familien freundliche Aufnahme. Für kurze Zeit erlebte Polen ein „Multikulti“, das man keineswegs auf Dauer bei sich haben möchte.
Über dem Schlussgottesdienst wehten die Fahnen vieler Nationen, selbst die solcher Völker, die miteinander in Konflikt liegen. In der Einheit mit Papst Franziskus wurde das Weltjugendtreffen so zu einem Zeichen für die Welt, und damit auch für Polen, dass trotz unterschiedlicher Sprachen, trotz voneinander abweichenden Kulturen, eine millionenfache friedliche Gemeinschaft möglich ist, in der jeder einzelne und jede Nation ihren respektierten Platz einnimmt.
Die Frage ist, ob es bei dieser Momentaufnahme bleibt und die nationalkatholischen Kreise in Kirche und Gesellschaft sich wieder in ihre eigene enge Theologie der Nation verschließen, statt sich in Wahrheit „katholisch“ zu öffnen.
Erstveröffentlichung: imprimatur 4/2016
Pełny zapis rozmowy papieża z biskupami (Voller Wortlaut des Gesprächs des Papstes mit den Bischöfen), gocpl/doc/3350842,
Ludwik Wiśniewski OP, Do jakiej Polski przydzie Papież (In welches Polen kommt der Papst), Tygodnik Powszechny v. 10. Juli 2016. S. 11f.
Artur Madaliński, Boży szaleniec (Göttlicher Tollkopf), ebd. v. 21. August 2016, S. 35.
Przemysław Wilczyński, Poprawianie po papieżu (Korrektur nach dem Papst), ebd. v. 07. August 2016, S. 46.
Wp wiadomości v. 02. August 2016.