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Tadeusz Różewicz - ein Lyriker in der Krisenzeit

Wenn wir den wachsenden Nihilismus nicht bewältigen, „dann bereiten wir uns eine solche Hölle, auf Erden, daß uns Luzifer als Engel erscheint, zwar als ein gefallener, doch nicht der Seele beraubter Engel, fähig zum Stolz, doch voller Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, voller Melancholie und Traurigkeit ... Politik wandelt sich in Kitsch, Liebe in Pornographie, Musik in Lärm, Sport in Prostitution, Religion in Wissenschaft, Wissenschaft in Glaube.“(1)

Meine erste Begegnung mit dem Werk des polnischen Lyrikers, Dramatikers und Prosaisten Tadeusz Różewicz reicht vierzig Jahre zurück. Zu der Zeit gab es in Leipzig eine Gruppe polnischer Germanistikstudenten, die sich - um ihrer Isolierung zu entgehen - der katholischen Studentengemeinde angeschlossen hatte und sie in eigenen Übersetzungen mit der Gegenwartsliteratur ihrer Heimat vertraut machte. Aus einem Wochenendseminar, das diese Gruppe damals in der Magdeburger KSG gestaltete, ist mir vor allem ein Gedicht des zu jener Zeit in der DDR völlig unbekannten Autors in Erinnerung geblieben - die „Erzählung von alten Frauen“(1), die tagtäglich ihren häuslichen Pflichten nachgehen, ob nun ein Mensch, die Zivilisation oder gar Gott stirbt:

Ich liebe die alten Frauen,

die häßlichen Frauen,

die bösen Frauen.

Sie sind das Salz der Erde

sie verabscheuen den menschlichen Abfall nicht.

Sie kennen die Kehrseite

der Medaille

der Liebe

des Glaubens

(...)

Heute findet man dieses Gedicht, strophenförmig in Blöcke unterteilt und in Granit gemeißelt, in einem Park der finnischen Hauptstadt.

Mehrfach national und international mit Preisen ausgezeichnet und mit Ehrendoktorwürden bedacht, begeht Różewicz in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag. Sein Werk umfaßt über vierzig Gedichtbände, dazu eine Reihe von Dramen, die auch auf westlichen Bühnen gespielt werden, sowie Erzählungen und Essays. Seine Bücher werden weit über den Bereich der Weltsprachen hinaus übersetzt; so gibt es beispielsweise Ausgaben seiner Lyrik auf Chinesisch, Arabisch und Keltisch. In Deutschland gilt Różewicz als der meist rezipierte polnische Nachkriegsautor. Seine Werke, zumal seine Lyrik, sind längst Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Dennoch, der Nobelpreis blieb ihm versagt. Es sei, so sagt man, sein Pech, ein Zeitgenosse von Czesław Miłosz und Wisława Szymborska zu sein, mit denen offenbar das für polnische Schriftsteller vorgesehene Limit an Nobelpreisen ausgeschöpft sei.

Geboren wurde der heute in Breslau lebende Dichter am 9. Oktober 1921 in der unweit von Tschenstochau gelegenen Kleinstadt Radomsko, was er einmal mit dem ironischen Hinweis kommentierte, nicht jeder könne in Wilna oder Lemberg, den beiden literarischen Zentren im Vorkriegspolen, zur Welt kommen. Seinen Taufnamen verdankt er weniger dem Apostel Judas Thaddäus als vielmehr dem Nationalhelden Tadeusz Kościuszko, dessen Bild in der elterlichen Wohnung einen Ehrenplatz einnahm. Seine frühe Prägung erhielt er durch eine für die 20er Jahre in Polens Dörfern und Kleinstädten typische Symbiose traditionell religiöser und patriotischer Erziehung.

Diese behütete, von Frömmigkeit und Patriotismus geprägte Welt findet mit dem 1. September 1939 ihr jähes Ende. Bereits am ersten Tag des Überfalls auf Polen legt ein deutsches Bombergeschwader den Stadtkern von Radomsko in Schutt und Asche. Es folgen die Jahre der Okkupation. Achtzehnjährig erlebt Różewicz, wie seine jüdischen Mitbürger ins Getto gesperrt und bald darauf in die Vernichtungslager transportiert werden. Ihnen gelten die Verse aus seinem Gedicht „Die Lebenden starben“(2)

Die eingemauerten Lebenden starben

schwarze Fliegen legten ihre Eier

aufs Menschenfleisch.

Von heute auf morgen

pflasterte man Straßen

mit aufgedunsenen Köpfen.

Sein älterer, gleichfalls literarisch begabter Bruder Janusz schließt sich der im Untergrund operierenden Heimatarmee an. Wenig später geht auch Tadeusz in den Widerstand. Die Familie gerät ins Visier der Gestapo. Doch als die Häscher im Herbst 1942 vor der Wohnung der Eltern erscheinen, ist diese leer. Der Umzug nach Tschenstochau hat sie vor der Verhaftung bewahrt.

Im Sommer 1944 wird Janusz gefaßt und nach monatelangen Verhören am 7. November erschossen. Wenig später entgehen Tadeusz und seine ebenfalls dem Untergrund angehörende Verlobte nur durch einen Zufall dem gleichen Schicksal.

Gerettet (3)

Vierundzwanzig bin ich

gerettet

auf dem weg zum schlachten.

(...)

Ich sah:

menschen wie tiere getötet

fuhren zerhackter menschen

ohne erlösung.

(...)

Verbrechen und tugend sind gleich

ich sah:

einen der schuldig

und schuldlos zugleich war.

Ich suche den lehrer und meister

der mir den blick das gehör die sprache wiedergibt

der mir noch einmal die dinge und die begriffe nennt

das licht von der dunkelheit scheidet.

Różewicz bringt mit diesen Versen das Lebensgefühl seiner Generation, soweit sie den Krieg überlebt hat, zum Ausdruck. Sie war zur Schlachtbank bestimmt. Doch warum kamen die einen ums Leben und andere wurden gerettet? Die Frage bleibt ohne Antwort. Und wie kann man nach dem Grauen des Krieges weiterleben? Schwer wiegen die Schatten der Vergangenheit: Tugend und Verbrechen scheinen austauschbar geworden, die Sprache muß neu gefunden, Begriffe und Dinge müssen neu bestimmt werden. Und wie ist das eigene Entrinnen angesichts der Unzahl an Opfern zu rechtfertigen? Różewicz beantwortet diese quälende Frage mit seiner Berufung zum Dichter. Sie schließt die Verpflichtung ein, von dem, was seine Generation erlebt hat, Zeugnis zu geben. „Wir entdeckten“ - äußert sich Różewicz in einem Interview - „daß der Homo sapiens ein unberechenbares Monster, ein Ungeheuer ist! Doch leider ist das noch nicht alles.“ Das eigentlich Erschütternde sei die Entdeckung, daß Auschwitz-Kommandant Höß bei all seiner Grausamkeit ein „Bewunderer klassischer Musik war, der seine Kinder, seine Hunde und den kleinen Garten rund um seinem Haus in Auschwitz liebte.“ In dieser Vereinbarkeit des Unvereinbaren zeige sich die „Agonie der Zivilisation.“

Angesichts solcher Einsicht wundert es nicht, daß Różewicz’ Denken immer wieder um Auschwitz kreist. Bis in sein Alterswerk hinein bleibt Auschwitz die bestimmende Konstante seiner Dichtung. So nimmt Różewicz in dem 1999 veröffentlichten dreiteiligen Poem „recycling“(4) wiederholt auf Auschwitz Bezug. In „Gold“, dem Mittelstück dieses literarischen Triptychons, thematisiert er die Bereicherung westlicher Banken am Judenmord, die verbreitete Holocaustleugnung sowie den fortwirkenden Antisemitismus in seiner Heimat:

immer öfter liest man an den mauern

unserer städte inschriften in polnisch

„Juden ins Gas“ und auf Deutsch „Juden raus“

leichtfertige junge Leute

schlechterzogene jungs kinder

zeichnen den Davidstern

hängend am galgen

Das in seiner Endfassung 2001 erschienene Gedicht „Nożyk profesora“ (Das Messer des Professors) verweist im Titel auf den realen Sachverhalt des im KZ angefertigten Messers seines Freundes Mieczysław Porębski, ein „messer aus dem eisernen jahrhundert“. Der Hauptakzent des Textes liegt indes auf dem fiktiven, im Viehwaggon geführten Gespräch zwischen dem Autor und Roza, einer Jüdin auf dem Weg in die Gaskammer:

Schon... fragte das mädchen

nein mein fräulein das ist erst

Sobibór Majdanek...

danach kommt Jedwabne

Jedwabne? welch ein schöner

Name (5)

Debüt als literarischer Durchbruch

Bald nach Kriegsende sammelte sich Polens kulturelle Elite im von Kriegsverwüstungen verschonten Krakau. Bereits im August 1945 erschien dort unter der Redaktion des Lyrikers Julian Przyboś die Wochenzeitung „Odrodzenie“ (Wiedergeburt). Ihr sandte Różewicz einige Gedichte zu, u. a. folgende Verse:

Meine einsamkeit ist

wie ein schwarzes blatt

ungewendet im wind.

Ich gehe nach nirgendwo

habe kein heim

(...)

der wind trägt eine handvoll asche

die gestalt

eines toten menschen (6)

Przyboś erkannte das Talent dieses jungen Poeten, veröffentlichte etliche seiner Gedichte und bewog ihn, von Tschenstochau nach Krakau umzuziehen. Różewicz folgte der Einladung und begann, an der Universität Kunstgeschichte zu studieren. Damit legte der den Grund für die zahlreichen Bezüge zu den Meistern abendländischer Malerei in seiner späteren Dichtung.

1947 erschien sein Gedichtband „Niepokój“. Die gängige Übersetzung mit „Unruhe“ vermag die Bedeutung dieses Titels nicht voll auszuschöpfen. „Niepokój“ beinhaltet die Negation von „Frieden“ und „Zimmer“. Unter „Unruhe“ ist somit der beklemmende Zustand eines Verlustes an Sicherheit, Harmonie und Geborgenheit zu verstehen, und mit eben diesem Zustand wird der Leser dieses Gedichtbandes konfrontiert. Die Texte, zu denen auch das bereits zitierte Gedicht „Gerettet“ zählt, sprechen von der Zerstörung überlieferter Werte. Nichts wird mehr sein wie es einmal war. Różewicz zieht die Zäsur des Krieges in aller Schärfe. Zu der Zeit davor gibt es kein einfaches Zurück. Jede Restauration verbietet sich. Was einmal galt, bietet keinen Halt mehr, keine Orientierung, taugt nicht für einen Neubeginn. Hoffnung keimt allein, wie in „Gotik und Frühling“(7), aus dem Grund der Zerstörung. Różewicz entwirft in diesem Gedicht das Bild einer von Moos überzogenen Domruine mit wucherndem Kreuzkraut. Wäre da nicht die Erfahrung der Kriegsverwüstung, könnte man an verwandte Motive romantischer Malerei denken. Der Text endet mit den Zeilen:

Tiefer ganz tief

am boden

knien kinder.

Rings. Der frühling der junge frühling

besprengt mit grünem laub

das gemäuer.

Die formen gären.

Mit dem Titel „Unruhe“ hat Różewicz seinem gesamten Schaffen das Leitwort gegeben und mit diesem Leitwort zugleich einen Schlüssel zum Verständnis des an Schrecken überreichen 20. Jahrhunderts. In seinem späteren Gedicht „Zwiastowanie“ (Verkündigung) bringt er dies auf die Formel: „verkündigung der poesie / weckt im menschen / voller leben / schrecken.“(8)

Różewicz’ Poesieverständnis

Als Tadeusz Różewicz mit „Unruhe“ debütierte, kommentierte sein Förderer Julian Przyboś dies auf überschwängliche Weise: „Es gibt Poeten, die lange brauchen, ehe sie bis zur Pforte der Poesie ihrer Muse gelangen, die an ihrer Wahrheit herumstottern, für die ihnen die Sprache fehlt; und es gibt Poeten, die wie Minerva voll gerüstet dem Haupt des Zeus entspringen. Von den Nachkriegsdebütanten trat ein einziger in voller Rüstung seiner Vorstellungskraft auf. Das war Różewicz.“(9)

Das Zitat ist in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen betont es die außergewöhnliche Tatsache, daß sich der gerade einmal 26 Jahre zählende Debütant als ein ausgereifter Dichter präsentierte, zum anderen bringt es dieses Ereignis in einer von der Tradition vorgegeben Metapher zum Ausdruck und steht damit zu Różewicz’ lapidaren, schmuck- und metapherlosen Versen in einem krassen Widerspruch. Diese Diskrepanz führte denn auch später zwischen beiden Lyrikern zur Entfremdung.

Es sind nicht nur formale Gründe, die Różewicz veranlaßten, sich von einer Tradition zu lösen, der gegenüber er geradezu Haß empfand: „Grund und Antrieb für meine Dichtung ist auch der Haß gegen die Poesie. Ich rebellierte dagegen, daß sie das ‘Ende der Welt’ überlebt hat, als wäre nichts geschehen. Unerschütterlich in ihren Gesetzen, Gebrauchsanweisungen und Praktiken.“(10) In dieser Äußerung zeigt sich die poetologische Konsequenz, die Różewicz aus der Schärfe der Zäsur des Krieges zieht und die es ihm nicht erlaubt, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Er wendet sich damit gegen eine Ästhetisierung, die selbst die schrecklichsten Inhalte durch die Form zu beschönigen weiß und die Lektüre eines Gedichts zu einem Kunstgenuß werden läßt. Różewicz trifft sich hier mit Adornos viel zitiertem Satz, „nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch.“ Adorno knüpft daran die Warnung vor Texten, die es an der nötigen Scham vor den Opfern fehlen lassen, durch eine „trübe Metaphysik“ dem sinnlosen Morden Sinn verleihen und die sich im Rückgriff auf die Opfer als „Kunstwerke“ präsentieren, „der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte... Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar.“(11)

Andererseits teilt Różewicz mit Adorno Enzensbergers Einwand, die Dichtung müsse der Versuchung zu solcher Ästhetisierung widerstehen, müsse also so sein, „daß sie nicht durch ihre bloße Existenz nach Auschwitz dem Zynismus sich überantwortete.“ Die letztlich durch Auschwitz motivierte Absage an das Schöne bildet denn auch den Verständnishorizont für Różewicz’ Gedichte. In „Poetik“(12), 1951 entstanden, verlangt Różewicz von einem Dichter:

Er meidet die friedhöfe toter

wörter und bilder

läßt schulen und requisiten beiseite

berührt die herzen und dinge

schreibt einfache verse

Man hat Różewicz verschiedentlich vorgeworfen, seine Lyrik sei eine in Versform gesetzte Prosa. Wer so urteilt, verkennt, daß sich bei ihm der Verzicht auf die durch die Tradition vorgegebenen Sprachmuster mit einem hohen Maß an Sprachsensibilität verbindet, durch die seine Texte als Gedichte Bestand haben. Różewicz „schreibt, obwohl er nur mehr über abgenutzte und verbrauchte Worte verfügt, in sich zerfallene, zerschellte Worte... Der Dichter geht aus vom Wort, aus dem Wort und zum Wort hin, geht in das Wort ein... Er sagt Worte und gelangt zu einer Poesie zwischen den Worten, im Schweigen, im Weiß.“(13) Eben dies verleiht seinen Versen Authentizität. Różewicz’ Sprachaskese verhindert, daß ein Mangel an durchlebter Wirklichkeit kaschiert wird, wie dies in der Lyrik zuweilen der Fall ist. Seine einfachen Verse bezeugen eigene Erfahrungen. Was sie auszeichnet, ist - wie es in den Schlußzeilen von „Poetik“ heißt - „die kraft des urteils / die kraft des wachstums / die kraft der zeugung“.

Abseits des Literaturbetriebs

Von der schleichenden kommunistischen Machtübernahme kaum berührt, waren die ersten Nachkriegsjahre in Polen eine Zeit geistiger Freiheit und kultureller Blüte. Doch damit war es 1949 mit dem Stettiner Schriftstellerkongreß vorbei. Fortan standen die Schriftsteller unter kulturpolitischen Zwängen. Man verlangte von ihnen, ihr literarisches Schaffen entsprechend den Regeln des „sozialistischen Realismus“ in den Dienst des Systems zu stellen. Dem verweigerte sich Różewicz. Er zog sich vom Literaturbetrieb zurück, verließ Krakau mit seinen vielfältigen Möglichkeiten eines geistigen Austausches, wechselte nach Gleiwitz in die Provinz, ehe er 1968 nach Breslau umzog. In der Zeit des Stalinismus verdiente er seinen Lebensunterhalt als Reporter, schrieb weiter Gedichte und konnte sogar den einen oder anderen Band veröffentlichen. Durch seine Distanz zum Literaturbetrieb wahrte Różewicz eine weitmöglichste Unabhängigkeit vom kommunistischen System. Aber diese Unabhängigkeit hatte ihren Preis: Ein Leben fernab von den literarischen Zentren, schwindende Publikationsmöglichkeiten, finanzielle Nachteile. Immer wieder erhielt er eingesandte Gedichte zurück. 1954 traf ihn dann der Bannstrahl öffentlicher Verurteilung. Sein literarisches Schaffen wurde mit den Schlagworten „barbarisch“ und „bürgerlich“ belegt und galt damit als „antisozialistisch“. Welche Spuren diese Zeit bei Różewicz“ hinterlassen hat, zeigt eine Notiz vom 30. Juni 1957. Darin beklagt er, daß man ihn in den Jahren des Stalinismus wie „Dreck“ behandelt habe, und das gezielt von seinen „Altersgenossen“. Jeder „Stümper“ habe sich gemüßigt gefühlt, ihn zu „belehren“ und ihm „die Ohren lang zu ziehen“. Und er habe „nicht einmal die Möglichkeit“ gehabt, daß seine „Richtigstellungen gedruckt wurden.“ Er fühlte sich „ausgegrenzt“.(14)

Auch als 1956 mit dem „Polnischen Oktober“ und der Machtübernahme durch den Nationalkommunisten Gomu³ka der harte kulturpolitische Kurs ein Ende fand und eine Zeit kleiner Freiheiten anbrach, hielt Ró¿ewicz zum Kulturbetrieb weiterhin Distanz, eine Haltung, die er zeitlebens beibehielt. Ab Mitte der 70er Jahre geriet er dadurch erneut in Schwierigkeiten. Nun erfuhr er Ablehnung von einer Seite, von der er es nicht erwartet hatte, von der erstarkenden Oppositionsbewegung. Er trat ihr nicht bei, unterzeichnete keine Proteste und Deklarationen, publizierte nicht in Untergrundzeitschriften. Das verübelte man ihm. In Kreisen seiner oppositionellen Schriftstellerkollegen mißverstand man diese Haltung als „Opportunismus“ und „Kollaboration“. Różewicz reagierte auf diese und andere Verleumdungen mit Schweigen. Er bedurfte keiner Selbstrechtfertigung. Was er zu verkünden hatte, sagte er mit seinen Texten. Und die gehen - systemimmanent wie systemübergreifend -mit ihrer kritischen Substanz an die zivilisatorischen und kulturellen Wurzeln moderner Gesellschaft. Dies soll im folgenden verdeutlicht werden.

„Müll“ als Schlüsselwort der Zivilisations- und Kulturkritik

Zu den Auffälligkeiten im Werk von Różewicz zählt die häufige Verwendung des Wortes „Müll“, das man für gewöhnlich in Gedichten nicht vermutet. In Erinnerung an seinen Parisaufenthalt während der Studentenunruhen im Mai 1968 schreibt Różewicz: „... in den Straßen wuchsen die Müllberge bis hoch zum ersten Stock.“(15) Seinen ersten Eindruck von Neapel faßt er in die Verse zusammen: „in der ausgestorbenen straße / tobte ein wind / trieb müll vor sich her.“(16) Und zur Verdeutlichung seines Poesieverständnisses formuliert er 1983: „Ein Dichter der Müllhaufen ist / der Wahrheit näher / als ein Wolkenpoet.“(17)

Mit Einführung des „Mülls“ in seine Dichtung wendet sich Różewicz gegen eine Ästhetisierung der Wirklichkeit. So gesehen erscheint „Müll“ als Gegenbegriff zum „Schönen“. Doch damit erschöpft sich das Wortverständnis noch nicht. „Müll“ fungiert zugleich als Schlüsselwort der Zivilisationskritik. Abfallberge sind ein Produkt des technischen Fortschritts, einschließlich ihrer Wiederverwertung, die - wie beispielsweise der Ausbruch des Rinderwahns gezeigt hat - keineswegs risikofrei ist. Różewicz hat dies in dem mit „Fleisch“ betitelten dritten Teil von „recycling“ eindrucksvoll thematisiert. Der Text schließt mit einem Kommentar, in dem es heißt: „Der III. Teil Fleisch hat die Form eines Mülleimers (eines informellen Mülleimers), in dem es kein Zentrum und keine Mitte gibt. Beabsichtigte Schalheit und Ausweglosigkeit sind die Hauptbestandteile des Textes... Der Wahn des Menschen CJS kommt aus dem wahnsinnigen Hirn des Tieres. Das CJS kehrt sich gegen den Menschen. Die verbrecherische Amoral der Wissenschaft mischt sich mit Politik, Ökonomie und Börse. Der Kreis schließt sich.“ Der Passus endet mit der Frage „Unde malum?“ Różewicz’ Antwort lautet: „vom menschen / immer vom menschen / und nur vom menschen“.

„Müll“ ist nicht nur ein Schlüsselwort der Zivilisations-, sondern auch der Kulturkritik. So notiert Różewicz als Erfahrung seiner in den 60er Jahren unternommenen Italienreisen: „In Florenz, Rom, Neapel suchte ich Eingebungen und fand dort Symptome eines Müllhaufens, eine Verflechtung von Kultur und Touristik in ihrer wildesten Form.“(19) Im Einzelnen ausgeführt hat er dies in seiner 1971 veröffentlichten, sich über 20 Seiten erstreckenden Dichtung „Et in Arcadia ego“. Darin bezieht sich Różewicz auf Goethes - mit dem Leitspruch „Auch ich in Arkadien eingeleitete - „Italienische Reise“. Seinem an kontextuellen Bezügen reichen Text stellt er als Zitat Goethes Notiz vom Februar 1787 voran: „Und wie man sagt, daß einer, dem ein Gespenst erschienen, nicht wieder froh wird, so konnte man umgekehrt von ihm sagen, daß er nie ganz unglücklich werden konnte, weil er sich immer wieder nach Neapel dachte.“(20) Immer wieder stößt man im Text auf Erinnerungen des Dichters an das Grauen der Kriegsjahre: „Funde in meinem land haben kleine schwarze / köpfe gipsverschmiertes grausames lächeln“.(21) Eine Militärparade kommentiert er mit dem Vers: „es freuen sich kinder und backfische / und sogar ernsthafte menschen / die in der hölle waren.“(22) Różewicz war in der Hölle, und er begegnet ihren Erscheinungsformen auf seiner Italienreise auf Schritt und Tritt. In verführerischen „spielautomaten“ und „stars / auf großen reklamewänden“, welche die Erfüllung sehnsüchtiger Wünsche verheißen, erkennt er „dekorationen des paradieses / dekorationen der hölle“(23). Derlei offene oder versteckte Hinweise dienen Różewicz als Mittel einer Dekonstruktion des arkadischen Mythos und sind damit Ausdruck seiner Kulturkritik.

Auch hierin stimmt Różewicz mit Adorno überein, von dem der Satz stammt: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ Auschwitz hat, so heißt es im unmittelbaren Kontext, „das Mißlingen der Kultur unwiederbringlich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern.“ Der Grund liegt tiefer, ist doch die Barbarei nicht einfach das Gegenstück zur Kultur, sondern ihr eigenster Teil, wenngleich ihr verdrängter. Die Verdrängung der Barbarei ist in einem „Triumph der Kultur und deren Mißlingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleich tut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst.“ In dieser Widersprüchlichkeit stellt die Kultur den Menschen vor eine Aporie: „Wer für die Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte.“ Daher gilt: „Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.“(24) Unter dem Aspekt der Kulturkritik ist kaum eine treffendere Analyse der Lyrik von Różewicz denkbar als diese Adorno-Zitate.

Różewicz und die Gottesfrage

In dem bereits zitierten Interview aus dem Jahr 1999 erinnert sich Różewicz, wie ihm kurz nach dem Krieg in Krakau die Idee kam, „ein Poem über die zerstörte Marienkirche zu schreiben, die - wie wir wissen - gar nicht zerstört war, doch in meiner Vorstellung erschien sie als Ruine... Natürlich sollte die Marienkirche in meinem Gedicht als Allegorie der gesamten europäischen Kultur und Zivilisation dienen.“(25) Różewicz hat dieses Gedicht nicht geschrieben, doch die Idee dazu hat sein literarisches Schaffen bestimmt. Im Bild des zerstörten gotischen Gotteshauses bezieht er Christentum und Kirche in seine Fundamentalkritik an der europäischen Kultur mit ein. Auch für sie gilt die durch Auschwitz markierte Zäsur. Sie haben den Judenmord nicht zu verhindern gewußt. Sie können sich nicht aus der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts wegstehlen, stehen vor der Geschichte nicht mit reinen Händen da. Im übrigen wird niemand leugnen wollen, daß sie als Teil der Kultur auch an der ihr eigenen Barbarei Anteil haben. Die Blutspur ist lang, die Christentum und Kirche in der Geschichte hinterlassen haben. Zu viele ungesühnte Opfer, Heiden, Ketzer und Juden, säumen ihren Weg. Dessen eingedenk, sollte Kritik an der Kirche, ob sie von innen oder von außen kommt, nicht auf taube Ohren stoßen und unbedacht als Ausdruck des Unglaubens und feindseliger Gesinnung zurückgewiesen werden.

Kritik an der Kirche findet sich denn auch bei Różewicz. Die Beschreibung der Altäre mit den „in liturgische Gewänder gekleideten“ Skeletten der Seligen in einer Kirche in Neapel verknüpft er mit der Ummenge an Opferstöcken, um dann fortzufahren: „die leiber sind unschuldig / der geist fand zuflucht in Banco di Santo Spirito.“(26) Und wie andere westliche Banken, so sieht er auch den Vatikan in die dunklen Geschäfte mit dem zu Unrecht erworbenem Gold aus den Massenmorden des Krieges verstrickt. Unter Berufung auf amerikanische Fernsehsender verweist er auf die vom „Pressesprecher / des Apostolischen Stuhls“ unbestätigte Information, „der Vatikan halte verborgen / 200 Millionen schweizer franken / hauptsächlich in goldmünzen / von kroatischen faschisten geraubt / kroatische faschisten / die massenhaft mordeten / Serben Zigeuner und Juden.“(27)

Doch derlei Kirchenkritik ist bei Różewicz eher ein Randproblem. Seine Kritik ist radikaler. Różewicz fragt nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Gottesglaubens nach Auschwitz. Auf diese Frage zielt letztlich auch die Idee der zerstörten Marienkirche. Unter Hinweis auf ihre gotische Architektur betont Różewicz, daß sich die Allegorie auch auf das „vertikale Verlangen nach dem Himmel, nach dem Absoluten und nach Gott“ bezieht.(28)

Różewicz bringt diese Problematik in mehreren seiner Texte zur Sprache. Oft handelt es sich dabei um ein Zwiegespräch mit anderen, mit „toten Dichtern“, mit Philosophen und auch mit Malern. So mit dem englischen Maler Francis Bacon. In seinen Bildern sieht Różewicz eine Parallele zu seiner Lyrik. Sie konfrontieren den Betrachter mit dem Horror des Zweiten Weltkriegs, zeigen die Zerstörung bislang gültiger Werte und als unverrückbar gedachter Ideale. Wie Różewicz, so macht auch Bacon dem „kultivierten“ Menschen seine verdrängte Barbarei bewußt. Ihm widmet Różewicz ein in den Jahren 1994/95 entstandenes Gedicht.(29) Darin erwähnt er Bacons Bilder der in Gitterkäfigen schreienden Päpste und nimmt die als besonders skandalös und blasphemisch empfundene Darstellung der Transformation eines Gekreuzigten in eine Masse leblosen Fleisches zum Ausgangspunkt folgender Betrachtung:

wenn ich in einen fleischladen gehe

denke ich immer wie seltsam

daß nicht ich an dem haken hänge

das ist wohl der reinste zufall

Rembrandt Velázques

nun gar sie glaubten an die auferstehung

des fleisches sie beteten vor dem malen

wir aber spielen

die moderne kunst wurde zum spiel

seit Picasso spielen alle

besser schlechter

sahst du Dürers zeichnung

zum gebet gefaltete hände

natürlich tranken aßen mordeten sie

vergewaltigten und folterten

doch sie glaubten an des fleisches auferstehung

an ewiges eben

schade daß ... wir ...

Die Verse zeigen, daß es sich Różewicz mit der Glaubensfrage nicht leicht macht. Im letzten, abgesetzten Verse deutet er ein Bedauern über den Glaubensverlust an. Dennoch, an der heutigen Unmöglichkeit des Glaubens hält er fest. Zu groß ist die Distanz zu jener Zeit, als dem Malen noch ein Gebet voran ging, als sich die Barbarei, das zweite Gesicht des homo sapiens, noch mit dem Glauben vereinbaren ließ. An seine Stelle ist nun das Spiel getreten, das Durchspielen von Möglichkeiten, das Experiment mit ungewissem Ausgang. Es fehlt die Orientierung auf das umfassende Ganze. Alles wird zum Fragment. Zeitverständnis und Lebensgefühl haben sich gegenüber früheren Zeiten tiefgreifend verändert. 1971 notiert Różewicz: „Ich spürte, daß etwas für mich und die Menschheit zu Ende war. Etwas, das weder die Religion, noch die Wissenschaft, noch die Kunst zu schützen vermochte. (...) Die metaphysischen Quellen, welche die Poesie von ihren Ursprüngen an genährt hatten, waren für mich versiegt. Und die ästhetischen Quellen ebenfalls.“(30)

Gottesfrage und Poesie

Was bedeutet dieses Versiegen der metaphysischen und ästhetischen Quellen für Różewicz und sein Poesieverständnis? In welchem Zusammenhang steht das von ihm erspürte Ende des durch nichts mehr zu schützenden „Etwas“ mit der Gottesfrage? Dazu eine Äußerung der Literaturwissenschaftlerin Maria Janion: „Różewicz schreibt pausenlos vom Tod der Poesie, was dafür spricht, daß er pausenlos über den Tod Gottes schreibt; für ihn besteht zwischen Poesie und Gott eine gewisse Entsprechung.“(31)

Zu den Texten, in denen Różewicz den Zusammenhang von Gottesfrage und Poesie thematisiert, zählt auch ein Gedicht mit dem aus Celans „Todesfuge“ entnommenen und unübersetzt belassenen Titel. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.(32) Durch zweimalige Wiederholung des Titels im Text wird die Bedeutung dieses Kernverses der „Todesfuge“ für die Interpretation des Gedichts unterstrichen. Er bildet den Verständnisrahmen des Textes. Gewidmet ist das Gedicht Paul Celan. Zur Sprache kommen Celans Begegnung mit Heidegger sowie Celans Freitod in der Seine. Im Zentrum aber steht Różewicz’ Auseinandersetzung mit Hölderlin und Heidegger um die Rolle des Dichters und der Poesie überhaupt nach Auschwitz. Dem Text leitwortartig vorangestellt ist der Vers „Und wozu dichter in dürftiger zeit?“ Er steht in einem doppelten Bezug - zur Fundstelle in Hölderlins Elegie „Brot und Wein“(33) sowie zu Heideggers Hölderlininterpretation.

In „Brot und Wein“ bestimmt Hölderlin die Rolle des Dichters „in dürftiger Zeit“ der Gottesferne. Er spricht ihm eine gleichsam priesterliche Funktion zu, sei er doch berufen, die hinterlassenen mythologischen wie christlichen Gottesspuren den Menschen ihrer Zeit zu deuten.

Heidegger sieht bei Hölderlin(34) die dichterische Bestimmung verwirklicht, das, „was die Götter selbst uns zur Sprache bringen“, „in dürftiger Zeit“ dichtend weiter zu sagen. Damit stifte er „das Wesen der Dichtung“ für „die Zeit der entflohenen Götter u n d des kommenden Gottes“ neu. „Dürftig“ sei die Zeit in einem doppelten Sinn: sie ermangele der Götter und bedürfe zugleich des kommenden Gottes. So stehe der Dichter zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht in einer Zeit der Gottferne, stets versucht, „im Erharren des Kommenden“ zu erlahmen. „Aber er hält stand im Nichts dieser Nacht“ und bleibt so seiner Bestimmung treu, Wahrer und Deuter der göttlichen Spuren sowie Mittler zwischen dem abwesenden Gott und der Welt der Sterblichen zu sein.

Różewicz negiert dies. Nach Auschwitz bleibe den Dichtern keine Quelle mehr, aus der sie im hölderlinschen und heideggerschen Sinn schöpfen könnten:

die götter verließen die welt

es blieben in ihr die dichter

doch die quelle

trank den mund leer

nahm uns die sprache

Auch das Gespräch zwischen Celan und Heidegger „in der Hütte“(35)vermag diese metaphysische Sprachlosigkeit nicht zu beheben. Różewicz sieht in diesem Zusammentreffen des Dichters mit dem Philosophen die das Schicksal Celans entscheidende Szene. Durch zweimalige Wiederholung des Titels erscheint Auschwitz als der Bezugspunkt der Gesprächssituation. Der nationalsozialistisch belastete Heidegger wird durch Celan mit dem Holocaust konfrontiert. Der Text läßt offen, „welche frage / stellte der dichter dem philosophen“. Doch der Kontext legt nahe, daß sie die Rolle des Dichters nach dem „Tode Gottes“, nach Auschwitz, betraf. Sie bleibt ohne Antwort. Die „dürftige zeit“ erfährt eine weitere Verstärkung, leben wir doch „In der zeit / nach der dürftigen zeit.“ Für sie gilt gegen Hölderlin und Heidegger:

nach dem fortgang der götter

gehen die dichter

Und Celan ging in den Tod.

Aneta Kula kommt in ihrer Analyse dieses Celan gewidmeten Gedichts zu dem Schluß: „Es geht darum, aus dem endgültigen Fortgang der Götter, aus dem Verfall der moralischen Ordnung, aus dem Verlust der Transzendenz die Konsequenz zu ziehen. Ein Dichter, der den Glauben an die Macht der Kunst verloren hat, wird nicht mehr schreiben. Die Poesie muß aus andern als den bisherigen Quellen sprudeln. Solange der Dichter diese nicht findet, muß oder soll er zumindest schweigen.“(36)

Neue Gotteserfahrung

Auch Różewicz hat in den 80ere Jahren zeitweilig geschwiegen. Doch die Gottesfrage und ihr enger Bezug zur Poesie haben ihn nicht losgelassen. In „ohne“(37), einem vom Autor mit „März 1988 - März 1989“ datierten Gedicht, lautet die Eingangsstrophe:

das größte ereignis

im menschenleben

sind die geburt und der tod

gottes

Das lyrische Ich beklagt eine doppelte Gottverlassenheit: „warum hast du.../ mich verlassen.../ spurlos und ohne zeichen / ohne ein wort“. Und: „warum habe ich / Dich / verlassen“. Die Antworten auf diese quälenden Fragen bleiben Vermutungen, stehen unter einem jeweiligen „vielleicht“. Die Gottverlassenheit bedingt die Aporie eines möglich-unmöglichen Lebens: Den Text unterbrechend und ihn beschließend heißt es: „ein leben ohne gott ist möglich / das leben ohne gott ist unmöglich“.(38)

Das gleichfalls aus der Spätphase stammende Gedicht „Dorn“(39) liest sich zunächst wie ein das Leben „von ufer zu ufer“ umfassendes und sich über fünf Strophen erstreckendes Bekenntnis zum Unglauben. Doch nach der fünften Strophe, die als letzten Grund des Nichtglaubens das „gold der verkündigung“ nennt, bricht der Text um: „ich lese seine gleichnisse / einfach wie weizenähre“. Eine neue, biblische Gotteserfahrung kündigt sich im Kontrast zum „gold der verkündigung“ an. Das lyrische Ich glaubt zwar nicht, aber es denkt „an den kleinen / blutenden gott / in weißen tüchern der kindheit

an den dorn der sticht

unsere augen lippen

jetzt

und in der stunde des todes“

Różewicz entdeckt im Alter Gott neu - nicht den Erhabenen, der fern vom Menschen über der Welt thront, sondern den, der sich im Menschen zu erkennen gibt, erniedrigt, leidend, den Opfern nahe. In „Ich sah IHN“(40) „fühlte“ das lyrische Ich beim Anblick eines auf einer Bank schlafenden Penners „das ist der Statthalter / Jesus auf erden / und vielleicht der Menschensohn selbst“.

In dem 2004 erschienenen Gedicht „Gehschule“(41) hält der achtzigjährige Różewicz Zwiesprache mit Dietrich Bonhoeffer, einem Sohn der Stadt, dem die heutigen polnischen Bewohner Breslaus ein Denkmal errichteten „ohne kopf ohne arme“. Dort liest Różewicz Bonhoeffers in der Tegeler Haftzelle verfaßten Gedichte und zitiert die eine oder andere Zeile. Einleitend vermerkt er, sich in den „letzten zwei jahren“ mit Bonhoeffer befaßt zu haben. Er überdenkt sein eigenes bisheriges Schaffen, das, was er in einem „langen leben ... bei dichtern“, doch nicht nur bei ihnen, gelernt hat und läßt sich von Bonhoeffer sagen:

beginne von vorn

beginne noch einmal sprach er zu mir

lerne gehen

lerne schreiben lesen

denken

Die folgenden Verse spiegeln Bonhoeffers Gedanken eines „religionslosen Christentums“: daß wir in der Welt leben müssen als wenn es Gott nicht gäbe. Doch das etsi Deus non daretur bedeutet nicht den Tod Gottes, sondern ein Leben in Gottverlassenheit, „würdig“ und ohne mit „strafe“ oder „lohn“ zu rechnen.

Angesichts von Hitlers Hinterlassenschaft, angesichts des verbreiteten „antisemitismus“, angesichts von „passion und holocaust“, aus denen noch „profit über profit“ geschlagen wird, fragt Różewicz den evangelischen Theologen und ermordeten Widerstandskämpfer:

ob Gott wohl erschrak

und die Erde verließ?

Der Gefragte antwortet mit Schweigen, legt „den finger an die lippen“. Dreimal wiederholt sich dieser Vorgang. Doch mit dem Verweis auf das Schweigen ist die Zwiesprache noch nicht beendet. Dem Schweigen auf die dreimalige Frage folgt eine Antwort durch die Tat:

er stand auf und ging

er folgte Christus

folgte Christus nach

Diese drei Zeilen können als Kurzformel der Existenz Bonhoeffers verstanden werden, der in seiner 1937 erschienenen Schrift „Nachfolge“ den mit ihr verbundenen ethischen Anspruch in der Zeit des Nationalsozialismus erhoben und zugleich radikal gelebt hat. In diesem Kontext findet auch der die Nachfolge assoziierende Titel „Gehschule“ seine Entschlüsselung.

Doch wie verbindet sich diese neue Erfahrung der Nachfolge mit Różewicz’ Poesieverständnis? Überwindet er damit seine in der Auseinandersetzung mit Hölderlin und Heidegger bezogene Position einer durch den Transzendenzverlust bedingten Absage an die Poesie? Der Schluß des Gedichtes legt eine Bejahung dieser Fragen nahe. Er enthält Bonhoeffers Aufforderung, das „Schöne“ zu tilgen. Sie kommt aus einer Wirklichkeit, die Różewicz bislang mit dem „Schönen“ identifiziert und daher abgelehnt hatte. Die religionskritische Komponente seiner Dichtung basierte - wie dargelegt - darauf, daß er das Christentum als Teil europäischer Kultur für den Holocaust mit verantwortlich gemacht hatte und daher eine ungebrochene Weiterführung religiöser Traditionen ebenso für inakzeptabel hält wie eine christliche Theodizee, die letztlich auf eine Relativierung und Beschönigung von Auschwitz hinausläuft. Durch die Begegnung mit Bonhoeffer korrigiert Różewicz nun seine poetologische Position, indem er ihre Vereinbarkeit mit der „Nachfolge“ erkennt, die gleichfalls die Negation des „Schönen“ und damit eine religionskritische Komponente beinhaltet.

Erstveröffentlichung: Orientierung 18/2006

(1) Tadeusz Różewicz, Matka odchodzi (Mutter geht), Wrocław 1999, S. 12.

(2) Henryk Bereska / Heinrich Olschowsky (Hrsg.), Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten, Berlin (Ost) 1975, S. 277f.

(3) Karl Dedecius (Hrsg.), Różewicz Gedichte Stücke, Frankfurt/M. 1983, S. 19f.

(4 )Stanisław Bereś, historia literatury polkiej w rozmowach. XX-XXI wiek (Geschichte der polnischen Literatur in Gesprächen. 20.-21. Jahrhundert), Warszawa 2002. S. 78f.

(5) Tadeusz Różewicz, zawsze fragment. recycling, Wrocław 1999, S. 93-118. Das Zitat entnehme ich der Übersetzung von „recycling“ von Henryk Bereska, Berlin 2000.

(6) Majchrowski, Różewicz, Wrocław 2002, S. 87.

(7) Karl Dedecius, Różewicz Gedichte Stücke, a. a. O., S. 23f.

(8) Tadeusz Różewicz, zawsze fragment, recycling (Immer Fragment, Recycling), Wrocław 1999, S. 39f.

(9) Zbigniew Majchrowski, a. a. O., S. 5.

(10) Vgl. Walter Höllerer, Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbeck 1965, S. 417. Hier zitiert nach Heinrich Olschowsky, Lyrik in Polen. St Janusz Drzewucki, Pomiędzy słowami, w milczeniu, w bieli (Zwischen den Worten, im Schweigen, im Weiß), Twórczość 9/2005, S. 114. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1979, S. 126.

(11) Theodor W. Adorno, Engagement, in: Noten zur Literatur III, Frankfurt/M. 1965, S. 125-127.

(12) Karl Dedecius (Hrsg.), Różewicz Gedichte Stücke, a. a. O., S. 44f.

(13) Janusz Drzewucki, Pomiędzy słowami, w milczeniu, w bieli (Zwischen den Worten, im Schweigen, im Weiß), Twórczość 9/2005, 114.

(14) Tadeusz Różewicz, Matka odchodzi, a. a. O., S. 97.

(15) Zbigniew Majchrowski, Różewicz, a. a. O., S. 153f.

(16) Tadeusz Różewicz, Et in Arcadia ego, in: Poezje zebrane (Ausgewählte Gedichte), Wrocław / Warszawa 1971, S. 535.

(17) Zbigniew Majchrowski, a. a. O., S. 154; 180.

(18) Vgl. Anm. 5. (Die Ausgabe mit der Übersetzung von Henryk Bereska ist ohne Seitenangabe.)

(19) Zbigniew Majchrowski, a. a. O., S. 232.

(20) Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, München 1925, S. 202

(21) T. R., Et in..., a. a. O., S. 554.

(22) Ebd., S. 555.

(23) Ebd., 543.

(24) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, S. 357f.

(25) Stanisław Bereś, historia ..., a. a. O., S. 71.

(26) T. R., Et in ..., a. a. O., S. 543.

(27) Recycling, Teil II „Gold“, a. a. O.

(28) Stanisław Bereś, historia..., a. a. O., S. 71.

(29) Francis Bacon czyli Diego Velázquez na fotelu dentystycznym (Francis Bacon oder Diego Velázquez auf dem Zahnarztstuhl), T. R., zawsze fragment, a. a. O., S. 5-15.

(30) Das Zitat entstammt dem Prosatext „Przygotowanie do wierczoru autorskiego (Vorbereitung auf einen Autorenabend) und wird hier zitiert nach Aneta Kula, Dlaczego Hölderlin (Warum Hölderlin), Twórczość 10/2003, S. 80.

(31) Maria Janion, To co trwa (Was bleibt), Twórczośc 5/2000; hier zitiert nach Zbigniew Majchrowski, a. a. O., S. 253.

(32) T. R., Płaskorzęźba (Flachrelief), Wrocław 1991, S. 37-41.

(33) Jochen Schmidt (Hrsg.), Hölderlin Gedichte, Frankfurt/M. 1969, S. 114-119.

(34) Vgl. Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, München 1937, S. 14; 16.

(35) Vgl. Celans Gedicht „Todtnauberg“, in P. C., Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt/M., S. 255.

(36) Aneta Kula, Dlaczego Hölderlin (Warum Hölderlin), a. a. O., S. 84.

(37) Karl Dedecius, Lyrisches Quintett, Frankfurt/M. 1992, S. 135f.

(38) Die Übersetzung von K. Dedecius ist nicht zwingend: Die zweite Zeile sollte ebenso wie die erste mit „ein“ eingeleitet werden.

(39) T. R., Cierń, Matka odchodzi, a. a. O., S. 62f.

(40) T. R., Widziałem Go, zawsze fragment, a. a. O., S. 84-86.

(41) T.R., Nauka chodzenia, Tygodnik Powszechny 22/2004. Das Gedicht fand Aufnahme in dem 2004 in Wrocław erschienenen Gedichtband Wyjście (Ausgang).

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