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Tadeusz Różewicz – im Gedenken an Dietrich Bonhoeffer Gehschule (1)

Tadeusz Różewicz – im Gedenken an Dietrich Bonhoeffer

„langestreckt auf meiner Pritsche

starre ich auf die graue Wand“

in den letzten zwei jahren lerne ich

bei pastor Dietrich Bonhoeffer

gehenkt

am 9. April 1945

auf befehl des Führers

Hitler Hiedler Hüttler

Hitler Schickelgruber

wie er wohl hieß?

der Führer verendete am 30. april

zusammen mit dem treuen hund

(armer hund)

in meinem langen leben

lernte ich nicht nur bei dichtern

bei Goethe Hölderlin Heine

Rilke

„Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang (...)“

bis zum ende des lebens

hielt Rilke sich fest

an Rockzipfeln

verbarg sich in den falten

von frauenkleidern

blieb bis zum tod

in mädchensachen

in die ihn

mama kleidete

„sie war wie ein kleid

gespenstig und schrecklich“

wäre er doch nur für einen augenblick

mit Heinrich Zillich stehen geblieben

am Pferdefleischwagen!

doch Rilke wählte

den engelsturm

die fürstin Thurn und Taxis

also verließ ich ihn und ging

bei Brecht in die lehre

unterwegs traf ich Grabbe

(ein ungewöhnlicher kerl!) und Benn

Bonhoeffer traf ich in Breslau

beginne von vorn

beginne noch einmal sprach er zu mir

lerne gehen

lerne schreiben lesen

denken

man muß akzeptieren

daß Gott diese welt verließ

nicht starb!

man muß akzeptieren

daß man erwachsen ist

daß man leben muß

ohne Vater

und er sprach weiter

man solle würdig leben

in der gottlosen welt

nicht rechnen mit strafe und lohn

sündigte ich nicht

den Führer vergleichend

mit dem hund? er war doch mensch

hatte mutter und vater

schwester und bruder

war künstler hinterließ

aquarelle und zeichnungen

war schriftsteller liebte Wagner

hinterließ „Mein Kampf“

in meinem land kursieren gerüchte

daß „Mein Kampf“ in polnischer

sprache erschien doch keiner

sah und hörte...

leider verendete der Führer

aber das jüdische problem wartet weiter

auf eine letzte lösung

„Endlösung der Judenfrage“

Juden Araber Polen Deutsche

sind etwas zu sensibel

überall riechen sie antisemitismus

doch ein wald gepflanzt

von der hand der Gerechten

wächst wird dichter grünt

reicht bis an die fenster unserer

häuser

produziert treffliche komödien

über Auschwitz Majdanek Sobibór

passion und holocaust

bringen profit über profit

vierhundert millionen dollar welche kasse

nicht irgendwelche dreißig silberlinge

wir saßen im schatten der bäume

in einer kleinen bar nahe der kirche

zur heiligen Elisabeth

Bonhoeffer las mir

seine Gedichte aus Tegel

„langgestreckt auf einer Pritsche

starre ich auf die graue Wand“

ich blickte in das Licht seines denkmals

ohne kopf ohne arme

ob Gott wohl erschrak

und die Erde verließ?

statt zu antworten

auf meine frage

legte er den finger an die lippen

ist das ein zeichen

daß du weder willst noch kannst

antworten auf meine frage

gehüllt in eine dreckige stinkende decke

mit geschlossenen augen

horchte er in die graue zellenwand

mit geistigem auge

malte er feldsträuße

kornblumen disteln kamille

mohn und wiederum kornblumen

augen und lippen der verlobten

sind das ihre verhallenden schritte

oder die des zum tode verurteilten

Bruders

zugeschlagene tür

„Ich gehe mit dir Bruder

an jenen Ort

und höre dein letztes Wort“

willst du nicht antworten

auf meine frage

fragte ich ihn ein zweites und drittes mal

darauf hob er den blick

und wieder legte er den finger

an die lippen

er stand auf und ging

er folgte Christus

folgte Christus nach

er ging den feldweg mit den anderen

jüngern hungrig rissen sie

reife ähren

schälten das korn aßen

aus der hand

schälten mit den fingern das korn

ich eilte ihnen nach

und fand mich plötzlich im licht

im land der jugend

im irdischen paradies fand ich erneut

augen und lippen

meines mädchens kornblumen

und wolken

dann blieb Er stehen

und sagte

freund

tilge ein „großes wort“

in deinem gedicht

tilge das „Schöne“

Interpretation

Achtzigjährig hält Różewicz Zwiesprache mit Dietrich Bonhoeffer. Das 2004 erschienene Langgedicht markiert einen unter seinem Einfluss vollzogenen Neubeginn. Das mit dem Dichter identische lyrische Ich vermerkt einleitend, sich in den „letzten zwei jahren“ intensiv mit dem evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer befasst zu haben. Es war somit keine flüchtige, sondern eine Leben und Werk des Dichters bestimmende Begegnung mit dem 1906 in Breslau geborenen Bonhoeffer. Ihm haben die heutigen polnischen Bewohner der Stadt ein Denkmal errichtet „ohne kopf ohne arme“. Dort liest ihm der am 9. April 1945 Gehenkte seine in der Haftzelle verfassten Gedichte vor, dort versetzt sich Róźewicz in dessen Situation, „gehüllt in eine dreckige stinkende decke“, die „graue wand“ vor Augen, und dort überdenkt er sein bisheriges Schaffen:

in meinem langen leben

lernte ich nicht nur bei dichtern

Różewicz zählt sie auf, „Goethe Hölderlin Heine“, verweilt über 20 Zeilen bei Rilke, zitiert aus den Duineser Elegien „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang“, erinnert Rilkes gestörte Beziehung zu seiner Mutter, die ihn in Mädchenkleider gesteckt und ihn damit lebenslang geschädigt hatte: „sie war wie ein kleid / gespenstig und schrecklich“ urteilt er mit den Worten des 29jährigen Rilke.

Dann gelangt das lyrische Ich über Brecht, Grabbe und Benn schließlich zu Bonhoeffer:

beginne von vorn

beginne noch einmal sprach er zu mir

lerne gehen

lerne schreiben lesen

denken

Die folgenden Verse enthalten Gedanken aus „Widerstand und Ergebung“: dass wir in der heutigen Welt leben müssen als wenn es Gott nicht gäbe. Doch das etsi Deus non daretur bedeutet nicht den Tod Gottes, sondern ein Leben in Gottverlassenheit, „würdig“ und ohne mit „strafe“oder „lohn“ zu rechnen.

Doch was rechtfertigt diese Weltsicht der Gottverlassenheit, die zu Różewicz’ Grunderfahrungen zählt und seine Lyrik insgesamt bestimmt? Es sind die Schrecken des Krieges, die über sein Ende hinaus weiter wirken, es ist Hitlers Hinterlassenschaft, es ist der verbreitete „antisemitismus“, es ist der kommerzielle Umgang mit der Shoa, es sind die noch heute auf europäischen Banken liegenden Millionenbeträge aus dem Judenmord:

passion und holocaust

bringen profit über profit

vielhundert millionen dollar welche kasse

nicht irgendwelche dreißig silberlinge

Das ist es, was die Frage verständlich macht, die das lyrische Ich an Bonhoeffer richtet:

ob Gott wohl erschrak

und die Erde verließ?

Doch der Gefragte antwortet mit Schweigen, legt „den finger an die lippen“. Dreimal wiederholt sich dieser Vorgang, was seine Wichtigkeit unterstreicht. Es geht um die Grenze des Sagbaren, ganz im Sinne von Wittgenstein, der seinen Tractatus logico-philosophicus mit dem Satz beschließt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Das Schweigen verweist auf das Unsagbare und ist vom Verstummen zu unterscheiden. Seit jeher ist es das Bemühen bedeutender Dichter, die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren zu verdeutlichen, das Unsagbare mit den ihnen eigenen Sprachformen zum Ausdruck zu bringen

In dem Gedicht „tempus fugit“, das ebenso wie „nauka chodzenia“ in dem 2004 erschienenen Band „Wyjście“ Aufnahme gefunden hat, führt Różewicz mit zwei Freunden ein Gespräch über Philosophie und Literatur, über Krankheit, Alter und Tod. Am Ende kommt die Gottesfrage zur Sprache. Doch unter Berufung auf Mickiewicz wendet der Dichter ein: „über Gott spricht man nicht beim Tee“. Stattdessen schlägt die „Stunde“ der „Stille“. Sie bewahrt, wie die folgenden Verse zeigen, Gott vor dem Gerede.

Mit dem Verweis auf das Schweigen ist die Zwiesprache zwischen Bonhoeffer und Różewicz noch nicht an ihr Ende gekommen. Schweigen ist nicht die letzte Antwort auf die dreimalige Frage, denn es gibt noch die Antwort durch die Tat:

er stand auf und ging

er folgte Christus

folgte Christus nach

Was besagen diese Verse? In ihnen geht es nicht um das Abstraktum einer „Nachfolge Christi“, sondern - durch die Häufung der Verben betont - um das konkrete Handeln einer konkreten Person. Diese drei Zeilen können als Kurzformel der Existenz Bonhoeffers verstanden werden, der in seiner 1937 erschienenen Schrift „Nachfolge“ den mit ihr verbundenen ethischen Anspruch in der Zeit des Nationalsozialismus erhoben und zugleich radikal gelebt hat. In diesem Kontext findet auch der die Nachfolge assoziierende Titel „Gehschule“ seine Entschlüsselung.

Die folgende Strophe steht indes zu den drei vorausgehenden, als Kurzformel der Existenz Bonhoeffers interpretierten Zeilen, in einem auffälligen Kontrast. Sie zeichnet das Bild einer idyllischen Nachfolge: das wogende Kornfeld, durch das Jesus mit seinen ährenrupfenden Jüngern zieht. Doch ohne Bezug zum biblischen Kontext, ohne Jesu Auseinandersetzung mit den Pharisäern um das Sabbatgebot, der Pointe dieser Geschichte. Als beliebtes Motiv einer höchst fragwürdigen religiösen Kunst fand dieses Bild in so mancher Wohnung seinen Platz und dürfte auch Różewicz aus seiner Kindheit bekannt gewesen sein. Es versetzt ihn nicht von Ungefähr in das „land der jugend“, lässt ihn an sein Mädchen denken, an „kornblumen und wolken“.

Doch diese Idylle wird beschworen, um zerstört zu werden. Dass das Bild der ährenrupfenden Jünger die Vorstellung von einer Nachfolge verharmlost und fehl leitet, wird bei aufmerksamer Lektüre am Text selbst deutlich. In diesen dreizehn Zeilen ist lediglich von den Jüngern, nicht aber von Jesus die Rede. Sie beschreiben somit eine ins Leere laufende „Nachfolge“ ohne ihn. Nicht in der Idylle, wohl aber in der Schlussstrophe ist Jesus präsent, und zwar mit der Aufforderung an den Dichter, in seiner Dichtung das „Schöne“ zu tilgen.

Aber bedarf es dieser Aufforderung überhaupt? Schließlich bildet die Tilgung des „Schönen“, bedingt durch die Erfahrung von Krieg und Holocaust, eine Grundkonstante von Różewicz’ Poesieverständnis. Sind daher die letzten Zeilen des Gedichts mehr als Bestätigung, denn als Aufforderung zu lesen? Sicher nicht. Aber worin liegt dann das über Różewicz’ bisheriges Poesieverständnis hinausgehende und in der Begegnung mit Bonhoeffer begründete Neue? Es liegt darin, dass die Aufforderung zur Tilgung des „Schönen“ aus einer Wirklichkeit erfolgt, die Różewicz bislang mit dem „Schönen“ identifiziert und daher abgelehnt hatte. Die religionskritische Komponente seiner Dichtung basierte darauf, dass er das Christentum als Teil europäischer Kultur für den Holocaust mit verantwortlich gemacht hatte und daher eine ungebrochene Weiterführung religiöser Traditionen ebenso für inakzeptabel hält wie eine christliche Theodizee, die letztlich auf eine Relativierung und Beschönigung von Auschwitz hinausläuft. Durch die Begegnung mit Bonhoeffer korrigiert Różewicz seine poetologische Position, indem er ihre Vereinbarkeit mit der „Nachfolge“ erkennt, die gleichfalls die Negation des „Schönen“ und damit eine religionskritische Komponente beinhaltet. Damit ergibt sich für Różewicz eine Affinität zwischen „Nachfolge“ und seinem Poesieverständnis, die denn auch in seinen späten Gedichten ihren Niederschlag findet.

(1)T. Różewicz, nauka chodzenia, Tygodnik Powszechny 22/2004. Das Gedicht fand Aufnahme in dem 2004 in Wrocław erschienenen Gedichtband Wyjście (Ausgang). Die kursiv markierten Zeilen sind im Original auf Deutsch.

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