Die deutsch-polnischen Beziehungen in Zeiten der Krise
- Theo Mechtenberg
- 21. Juni 2017
- 7 Min. Lesezeit
Der Warschaubesuch von Angela Merkel am 07. Februar 2017 fand in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit ein höchst unterschiedliches Echo. Während die deutschen Medien über ihr Treffen mit Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsidentin Beata Szydło und Parteichef Jarosław Kaczyński, dem eigentlichen polnischen Machthaber, relativ kurz und nüchtern berichteten, Merkels Mahnung zur Einhaltung staatsrechtlicher Prinzipien hervorhoben und ihren Hinweis auf eine mögliche Europäische Union unterschiedlicher Geschwindigkeiten nicht weiter kommentierten, sah man in Polen in diesen Begegnungen und Gesprächen ein Ereignis von geradezu historischer Bedeutung. Man wertete ihren Besuch als einen Akt der Huldigung, indem in diesem Zusammenhang an Albrecht von Brandenburg erinnert wurde, der am 10. April 1525 vor König Zygmund I. auf dem Krakauer Ring den säkularisierten Ordensstaat als Lehen dem König unterstellte – ein Ereignis, das durch das großformatige Historiengemälde von Jan Matejko tief im polnischen Nationalbewusstsein verankert ist. Man mag in einer solch enthusiastischen, den diplomatischen Anlass verkennenden Überhöhung eine Kompensation des polnischen Minderwertigkeitskomplexes gegen ein mächtiges Deutschland sehen und solcher Berichterstattung kein sonderliches politisches Gewicht beimessen. Aber sie ist dennoch ein Indiz für die Problematik deutsch-polnischer Beziehungen nach dem im Herbst 2016 vollzogenen polnischen Machtwechsel sowie angesichts der Frage, wie diese sich im Rahmen der sich mehrenden Krisen in der EU gestalten und entwickeln können.
Die Grundlinien gegenwärtiger polnischer Deutschlandpolitik
Zwei Tage nach Merkels Polenbesuch legte Außenminister Witold Waszczykowski im polnischen Sejm die Grundzüge polnischer Außenpolitik dar. Während im Herbst 2016 die von der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) geführte Regierung den deutsch-polnischen Beziehungen ursprünglich eine untergeordnete Rolle beimaß und Großbritannien als Polens Hauptpartner ansah, hat sich nach dem Brexit das Blatt gewendet. Nun haben sie auch für die PiS-Regierung wieder Priorität. Allerdings fragt sich, in welcher Form. Wörtlich erklärte Waszczykowski: „Es liegt uns daran, die engen Beziehungen zu Deutschland, unserem vorrangigen wirtschaftlichen Kooperator und wichtigen Bündnispartner im Rahmen der NATO, aufrecht zu erhalten und den Dialog zu erweitern. Gleichzeitig erwarten wir von der anderen Seite größere Offenheit und mehr Verständnis für die polnische Staatsräson und unser Recht auf Verwirklichung unserer Interessen. Polen und Deutsche können in guter Zusammenarbeit und wechselseitigem Respekt viel Gutes für eine Abfederung der Folgen der ökonomischen und politischen Krise leisten.“ In diesem Zusammenhang sprach der polnische Außenminister drei Fragen an: 1. Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, die bislang von dem politischen Wandel in Polen weitgehend unberührt blieben und somit kein Problem darstellen, solange es für deutsche Investitionen Rechtsicherheit gibt. 2. Die polnische Innenpolitik, der gegenüber sich Polen jede Einmischung verbietet. Hierzu ist anzumerken, dass sich in der Tat die deutsche Politik, ähnlich wie 2005 - 2007, als PiS schon einmal, allerdings ohne absolute Mehrheit, die Geschicke Polens bestimmte, mit Kritik gegenüber Verletzungen rechtstaatlicher Prinzipien zurückhält und diese weitgehend der europäischen Kommission überlässt. 3. Die Europa- und Sicherheitspolitik, bei der die beiderseitigen Ansichten auseinander gehen und bei der sich trotz dieses Dissenses Polen von Deutschland Unterstützung erwartet. Dieser Punkt soll im Folgenden näher erläutert werden.
Sicherheit nach innen wie nach außen
Die polnische Politik, so Waszczykowski, steht unter dem Primat der Sicherheit. Und dies nach innen wie nach außen. So sieht Polen in der Aufnahme von Flüchtlingen aus muslimischen Krisengebieten des Nahen Ostens eine innenpolitische Bedrohung. Der polnische Außenminister macht sich in diesem Zusammenhang den slowakischen Vorschlag einer „effektiven Solidarität“ zu eigen. Gemeint ist eine auf die Beteiligung am Schutz der EU-Außengrenze sowie auf humanitäre Hilfe für Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon beschränkte Solidarität. Zudem verweist er darauf, dass man 1 Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe, wobei diese „gewaltige Zahl zeige, dass unsere Politik effektiv ist, auch wenn wir das Ziel mit anderen Mitteln erreichen.“ Und er fügt hinzu: „Völlig unbegründet sind in diesem Licht Versuche, die Zustimmung zur Aufnahme von Flüchtlingen zu erzwingen und mit einer Beschränkung der EU-Fördermittel zu drohen.“ Was Waszczykowski allerdings verschweigt, ist der Hinweis darauf, dass die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge für Polen kein besonderes soziales, kulturelles und ökonomisches Integrationsproblem darstellt und diese Aufnahmebereitschaft angesichts des Krieges in der Ostukraine zugleich als Teil äußerer Sicherheitspolitik zu werten ist. Kritisch anzumerken ist zudem, dass Polens in Absprache mit den anderen mitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten getroffene Entscheidung, sich der von Angela Merkel vorgeschlagenen europäischen Verteilung der Flüchtlinge zu verweigern, ihre europapolitische wie innenpolitische Position geschwächt hat.
Polens Sicherheitspolitik ist durch eine historisch begründete und im polnischen Nationalbewusstsein tief verwurzelte Empfindung russischer Bedrohung bestimmt, die aufgrund der Annexion der Krim, der militärischen Intervention in der Ostukraine und der verstärkten Militarisierung von Kaliningrad, dem früheren deutschen Königsberg, durchaus ihre Berechtigung hat. Polen fühlt sich angesichts dieser Lage als Frontstaat und fordert von der Bundesrepublik Solidarität und Schutz im Rahmen der NATO. Hier gibt es zwischen Polen und Deutschland in Einschätzung der Situation eine grundsätzliche Übereinstimmung. Beide Seiten sehen in der gegenwärtigen russischen Politik den Versuch, die EU zu destabilisieren, dem – neben der Verhängung von Sanktionen wegen Nichterfüllung der Minsker Vereinbarungen – mit einer verstärkten östlichen Präsenz der NATO zu begegnen sei. Keine deutsche Unterstützung dürfte allerdings der polnische Vorschlag finden, Europa in den Stand zu versetzen, über eigene Atomwaffen zu verfügen.
Tiefgehender Dissens in der Europapolitik
Während Außenminister Waszczykowski die deutsch-polnischen Beziehungen relativ kurz behandelte, brachte er Polens Europapolitik sehr ausführlich zur Sprache. Sie bildet den Bereich, in dem deutsche und polnische Auffassungen im Grundsätzlichen wie im Detail weit auseinander gehen. Polens Europapolitik ist auf nichts Geringeres ausgerichtet als auf eine „Erneuerung der EU“ im Sinne einer „die Nationalstaaten umfassenden Organisation“, wozu eine „Debatte um Vertragsänderung unumgänglich“ sei. Mit dieser Äußerung brachte eine PiS-Abgeordnete im Sejm die polnische Europapolitik auf den Punkt. Im Klartext bedeutet dies eine weitgehende Rücknahme des bisherigen Integrationsprozesses hin zu einem Europa der Vaterländer, wie dies de Gaulle vorschwebte, eine Integration dort, wo dies wie in der Sicherheitspolitik den Interessen Polens entspricht, dagegen eine Unabhängigkeit von Brüsseler Entscheidungen bezüglich der gegenwärtig stark kritisierten polnischen Innenpolitik, sowie dort, wo etwa in der auf der heimischen Kohle basierenden polnischen Energiepolitik europäische Standards abgelehnt werden.
Dabei verbindet sich mit dieser negativen Einstellung zur gegenwärtigen Verfassung der EU der Anspruch, innerhalb der Gemeinschaft der 27 Mitgliedstaaten ein gewichtiges Wort mit zu reden. „In der EU wird unsere Stimme gehört. Davon konnten wir uns beim Besuch von Angela Merkel überzeugen. Statt beiseite zu stehen, treten wir zum Spiel in der Arena an“ – so Waszczykowski am 9. Februar während seiner Rede im Sejm.
Wie wirklichkeitsfern diese Vorstellung ist, sollte sich am 9. März, genau einen Monat später, zeigen. Auf dem Brüsseler EU-Gipfel stand die Wahl des EU-Ratspräsidenten an. Einziger Kandidat war Amtsinhaber Donald Tusk, der sich zur Wiederwal stellte. Doch als Parteivorsitzender der Bürgerplattform (PO) und Chef der Vorgängerregierung von PiS nimmt er auf der Rangliste von Kaczyńskis persönlichen und politischen Feinden den ersten Platz ein. Also setzte dieser alles daran, seine Wiederwahl zu verhindern. Ohne Erfolg. Sämtliche EU-Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Polen, stimmten für ihn. Dieses „Spiel in der Arena“ endete mit einer deutlichen Niederlage, durch die sich Polen selbst in der Europäischen Union isoliert hat.
Damit verlieren auch weitere mit dem „Spiel in der Arena“ verbundene Vorstellungen ihren Wert. So der Traum von einer gewissen, von Polen entscheidend mit bestimmten Machtkonstellation innerhalb der EU: Man möchte die führende Kraft in einem Bündnis der Visegrád-Gruppe sein, ergänzt durch weitere kleinere mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten. Wie illusorisch dieser Anspruch ist, wurde gleichfalls auf dem EU-Gipfel deutlich. Ministerpräsidentin Beata Szydło, die ihr Land auf dem Brüsseler Gipfel vertrat, konnte nicht einmal diese mit Polen scheinbar so eng verbundenen EU-Mitgliedstaaten dafür gewinnen, gegen Tusk zu votieren.
Auch die Hoffnung, als Mitglied des Deutschland, Frankreich und Polen umfassenden Weimarer Dreiecks eine Scharnierfunktion zu den politisch und ökonomisch starken westlichen Ländern wahrnehmen zu können, ist trügerisch. Das Weimarer Dreieck besaß in der Vergangenheit kaum eine politische Bedeutung, und es ist wenig wahrscheinlich, dass es in der gegenwärtigen Krisensituation neu belebt werden kann, zumal Polen noch vor Jahresfrist, vor dem Brexit, als die neue national-konservative Regierung vor allem auf eine Partnerschaft mit Großbritannien setzte, kein Interesse am Weimarer Dreieck zeigte.
Perspektive der asymmetrischen deutsch-polnischen Beziehungen
Die deutsch-polnischen Beziehungen sind von Asymmetrie bestimmt: Der politisch und ökonomisch starken Bundesrepublik steht ein vergleichsweise schwächeres Polen gegenüber, und die jeweiligen innenpolitischen und europapolitischen Zielvorstellungen weichen weit voneinander ab. An dieser Situation dürfte sich in absehbarer Zeit wenig ändern. Sie ist daher von beiden Seiten als gegeben anzusehen. Somit gilt es, sich unter dieser Voraussetzung auf weiterhin gegebene Berührungspunkte zu besinnen und diese zum Ausgangspunkt der bilateralen Beziehungen zu machen.
Dazu ist, zumal auf polnischer Seite, eine nüchterne Einschätzung politischer Möglichkeiten erforderlich. Der polnische Politologe Olaf Osica spricht in diesem Zusammenhang von einer politischen Suggestion, die den Polen eigen, aber wirklichkeitsfern sei. An der Weichsel verfolge man stets eine „Strategie mangelnder Strategie“, bei der sich die politischen Ambitionen mit einer fehlenden Fähigkeit ihrer Realisierung verbinden würden. „Polen möchte allen Großen gleich sein, doch seine Möglichkeiten und seine politische Kultur verurteilen Polen zu etwas Periphären. Daher nimmt der Traum nach Größe häufig die Form eines Verlangens danach an, die anderen mögen schwächer sein.“(1)
Auch für diesen psychologischen Mechanismus bietet der jüngste Brüsseler EU-Gipfel reichlich Anschauungsmaterial. Dass man eine politische Niederlage erlitten hatte, wollte PiS nicht wahrhaben und behauptete, die eigene staatliche Souveränität gegen den Machtanspruch der Europäischen Union verteidigt und sich als einzigen Wahrer europäischer Werte gegen ein Machtkartell unter deutscher Führung erwiesen zu haben. In diesem Zusammenhang wurde von Kaczyński wieder die antideutsche Karte gespielt und die Bundeskanzlerin ins Visier genommen, die angeblich gemeinsam mit Tusk Polen dominieren wolle. So behauptete er in einem der Wochenzeitung „WSieci“ nach dem Brüsseler Gipfel erteilten Interview, Angela Merkel habe die Wiederwahl von Donald Tusk deswegen gewollt, weil sie sicher sein konnte, dass er ihre Konzeption der zwei Geschwindigkeiten befürworten werde, die von der polnische Regierung energisch zurückgewiesen wird. Und er sagte weiter: „In allen wichtigen Fragen verfolgt Deutschland eine gegen die Interessen Polens gerichtete Politik, angefangen von der Geschichts- und endend bei der Energiepolitik.“ Diese und andere Attacken sind eine ernste Bedrohung des deutsch-polnischen Verhältnisses, das nach den schweren Belastungen der Vergangenheit, insbesondere durch die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, in mühsamen Bemühungen seine Grundlage in der Versöhnung unserer Völker gefunden hat. Die daraus resultierende große Sympathie für Polen sowohl bei deutschen Politikern als auch in der deutschen Öffentlichkeit wird auf diese Weise durch PiS leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Wie soll die deutsche Politik auf all dies reagieren? Osica bescheinigt ihr eine „Strategie der Geduld“, welche die Bundesregierung in der jetzigen Krise gegenüber Polen und neuerdings angesichts des Machtwechsels in den USA auch gegenüber Trump an den Tag lege. Diese erlaube trotz der bestehenden politischen Asymmetrie eine gemeinsame deutsch-polnische Politik in den Punkten, in denen sich die beiderseitigen Interessen berühren. Zu ihnen zählt Osica eine Stärkung der NATO, den von Trump möglicherweise bedrohten internationalen Freihandel sowie die noch nicht absehbaren Konsequenzen, die sich aus dem Brexit für die EU und ihre Mitgliedstaaten ergeben. Osica rät daher dazu, Polen möge seinen Wunsch nach einer Reform der EU angesichts dieser Herausforderungen vorerst zurück stellen. Diese Meinung formulierte er vor Polens Fiasko auf dem Brüsseler EU-Gipfel. Sie ist durch die Ereignisse insofern überholt als sich Polen entschlossen zeigt, in Zukunft alle Beschlüsse des Europäischen Rats zu blockieren, wodurch – sollte diese Ankündigung wahr gemacht werden – die EU weitgehend handlungsunfähig würde. Die Frage ist, ob angesichts dieser Lage die deutsche „Strategie der Geduld“ weiterhin die Politik der Bundesregierung bestimmen wird und welche rationale Alternative es zu ihr überhaupt gibt.
Erstveröffentlichung: imprimatur 2/21017
(1) Olaf Osica, Co nas łączy, co nas dzieli (Was uns verbindet, was uns trennt), Tygodnik Powszechny vom 05. Februar 2017, S. 12.
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