Patriotismus ja, Nationalismus nein Dokument der Polnischen Bischofskonferenz PolnischeBischofskonfe
Am 14. März 2017 verabschiedete die 375. Vollversammlung der Polnischen Bischofskonferenz ein von ihrem Rat für soziale Fragen erarbeitetes Dokument zum christlichen Verständnis des Patriotismus. Veröffentlicht wurde es unter dem Titel „Christliche Form des Patriotismus“ am 28. 04. 2017.
Endlich, möchte man sagen! Seit langem und wiederholt haben Vertreter eines offenen Katholizismus ein klares Wort der Bischöfe zu dem in ihrer polnischen Heimat wachsenden, zunehmend aggressiven Nationalismus angemahnt.
Das dreizehnseitige Dokument umfasst zwei Teile. Im ersten, der „christlichen Perspektive des Patriotismus“ gewidmeten Teil begrüßen die Bischöfe eingangs das „in den letzten Jahren zu beobachtende Phänomen einer Neubelebung patriotischer Einstellungen sowie eines nationalen Bewusstseins.“ Gleichzeitig beklagen sie gegenläufige Tendenzen, deren Ursache sie im Egoismus sehen, in einem privaten wie in einem gesellschaftlichen. Während sie sich mit der unpatriotischen Haltung eines privaten Egoismus nur kurz befassen, gelten die weiteren Ausführungen der Unterscheidung zwischen Patriotismus und einem nationalen Egoismus. Der zeige sich in einem von der eigenen Überlegenheit bestimmten Nationalismus, „der sich anderen nationalen Gemeinschaften gegenüber verschließt.“ Dagegen verlange ein christlich verstandener Patriotismus eine „offene Einstellung“, wie sie in der Aussage des Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz (1846-1916) zum Ausdruck komme: „Motto aller Patrioten muss sein: durch das Vaterland zur Menschheit.“
Diese universale Dimension eines christlich verstandenen Patriotismus begründen die Bischöfe aus dem „universal geltenden Gebot der Nächstenliebe.“ Daher seien „alle Versuche, der eigenen Nation einen absoluten Rang zu verleihen, unzulässig. […] Die Liebe zur eigenen Nation kann somit keine Rechtfertigung für Verachtung, Aggression und Gewalt sein.“
Hat der Patriotismus seine Quelle in der Nächstenliebe, dann ist er die „Gegenthese“ zum Nationalismus. In diesem Sinne habe sich Johannes Paul II. 1995 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen geäußert: „Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen einem wahnwitzigen, von Verachtung anderen Nationen und Kulturen gegenüber bestimmten Nationalismus und einem Patriotismus rechter Liebe zum eigenen Vaterland. Einem wahren Patriotismus geht es niemals um das Wohl der eigenen Nation auf Kosten anderer.“ Die Bischöfe erinnern zudem an ihren Hirtenbrief „über den christlichen Patriotismus“ vom 05. 09. 1972, in dem sie gegen Erscheinungsformen eines kommunistischen Nationalismus einen „Patriotismus frei von Hass“ forderten. Und auf die heutige Situation bezogen unterstreichen sie, „dass in unserem Vaterland ein aus unserer Geschichte wohl bekannter Patriotismus erforderlich ist, offen für die solidarische Zusammenarbeit mit anderen Nationen und offen für die Achtung gegenüber anderen Kulturen und Sprachen. Ein Patriotismus ohne Gewalt und Verachtung. Ein Patriotismus sensibel auch gegenüber dem Leiden anderer Menschen und Nationen sowie gegenüber dem ihnen zugefügten Unrecht.“
Zudem sprechen sich die Bischöfe für einen Patriotismus aus, der alle Bürger umfasst, nicht nur die katholischen, sondern jeden Bürger gleich welcher Religion. Sie erinnern an das Polentum zur Zeit der Jagiellonen Republik, die eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturen und Religionen umfasste, „die katholische, orthodoxe, protestantische jüdische und moslemische“; dazu gab es „neben den mehrheitlich ethnischen Polen Ukrainer, Ruthenen, Litauer, Deutsche, Armenier, Tschechen, Tataren.“ Daher sei „das Polentum im Grunde eine Sache von Vielheit und Pluralismus.“ Dank dem sei in Polen „das Modell eines gastfreundlichen Patriotismus“ entstanden. „Und dank dem wurden zu Polen, die Polen werden wollten.“
An einem solchen Patriotismusverständnis mangelt es offenbar gegenwärtig in Polen. Denn in Bezug auf die gegenwärtige politische Lage heißt es in dem Dokument: „In der Situation eines tiefgreifenden politischen Streits, wie dieser heute unser Vaterland spaltet, verpflichtet der Patriotismus dazu, sich eingedenk der Würde eines jeden Menschen für die soziale Versöhnung zu engagieren, die übermäßigen politischen Emotionen zu lindern, auf die mögliche und für Polen unabdingbare Kooperation trotz der Spaltungen zu verweisen und diese auszuweiten sowie das öffentliche Leben vor einer übermäßigen Politisierung zu bewahren.“
Die Bischöfe vergessen auch nicht die Opfer, die in Zeiten der Unterdrückung und Fremdherrschaft im Namen des Patriotismus erbracht wurden. Selbst in solchen Epochen sei der polnische Patriotismus gemäß dem Motto „für unsere und eure Freiheit“ anderen Nationen gegenüber „offen“ geblieben. Daher verpflichte jener Heroismus und das nationale Martyrium dazu, sich bewusst zu sein, dass das Christentum uns dazu bewegt, als Nation „mutig den Weg der Vergebung und Versöhnung zu gehen.“ Ein gewichtiges Wort, denn angesichts der in der Geschichte von Deutschen wie von Russen erlittenen Leiden wären negative Einstellungen und Ressentiments durchaus verständlich. Bezeichnenderweise verweisen denn auch die Bischöfe auf den Austausch der Versöhnungsbotschaften zwischen dem polnischen und dem deutschen Episkopat von 1965 sowie auf eine ähnliche Erklärung zwischen der katholischen Kirche in Polen und der russischen Orthodoxie.
Der zweite Teil des Dokuments ist der Erziehung zum Patriotismus gewidmet. Es werden alle Sektoren des privaten und gesellschaftlichen Lebens angesprochen, angefangen von der Familie über die Rolle der Schule und des Kulturbereichs, der gesellschaftlichen und regierungsunabhängigen oder karitativen Organisationen sowie der lokalen Selbstverwaltungen bis hin zum Sport. Die Grundlage für eine Erziehung zum Patriotismus sehen Polens Bischöfe in einer „verantwortlichen Geschichtspolitik“. Diese sei entscheidend für die „Herausbildung nationaler Identität und patriotischer Einstellungen.“ Als Vermittler der Geschichtspolitik benennen die Bischöfe staatliche Institutionen. Diese hätten bei ihren geschichtspolitischen Aktivitäten Achtung und Respekt anderen gegenüber zu wahren. Die Bischöfe warnen vor der „Gefahr einer missbräuchlichen Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses in den laufenden politischen Auseinandersetzungen und Rivalitäten. Wo der in der Politik natürliche Streit sich allzu eilfertig historischer Analogien bedient und historische Argumente die ökonomischen, juristischen oder sozialen Begründungen ersetzen, dort verfehlt man und macht es manchmal unmöglich, die Perspektive eines würdigen und für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbaren Kompromisses zu erreichen.“
Am Ende ihres Dokuments bekräftigen die Bischöfe, dass „Polen in der heutigen Welt ein Symbol der Solidarität, der Offenheit und der Gastfreundschaft war, ist und bleiben soll.“
Mangelnde Konkretisierung
Unter einem theoretischen Aspekt ist den polnischen Bischöfen sicherlich ein überzeugendes Dokument zu einem christlich verstandenen, sich vom Nationalismus unterscheidenden Patriotismus gelungen. Was freilich fehlt, das sind Hinweise, wer denn konkret als Verursacher gemeint ist, wenn die Bischöfe „im eigenen Land“ Erscheinungen eines „nationalen Egoismus“ beklagen, der sich anderen Völkern gegenüber verschließt und damit im Gegensatz zu einem „offenen Patriotismus“ steht. Lediglich an einer Stelle, wo sie auf das Verhältnis von Sport und Patriotismus zu sprechen kommen, werden die Adressaten benannt, indem die Bischöfe auf die „Sportstadien als einem Ort des Unfriedens und der Aggressivität“ verweisen, und dies „auch auf ethnischer Basis.“ Damit spielen sie auf die Hassgesänge und Krawalle sowie auf die öffentlichen Beleidigungen von Spielern anderer Hautfarbe an, zu denen es zwischen gewaltbereiten, in der Regel nationalistisch eingestellten „Fans“ beider gegnerischer Mannschaften immer wieder kommt.
Stellungnahme der Nationalisten
Die fehlende Konkretisierung macht es möglich, den Text des Dokumentes selbst gegen seinen Sinn so zu interpretieren, dass der Anschein erweckt wird, man sei in seinem Denken und Handeln in Einklang mit den bischöflichen Aussagen. Am deutlichsten wird dies durch die gemeinsame Stellungnahme der drei Vorsitzenden der Großpolnischen Jugend (MW), der Jungnationalisten (ONR) und der Radikalen Nationalisten (RN).(1) Offenbar hat man auf der nationalistischen Führungsebene schnell erkannt, dass das Dokument vor allem gegen sie gerichtet ist. Anders ist es kaum zu erklären, dass die Nationalisten bereits einen Tag nach Veröffentlichung des Dokuments reagierten und – statt sich der Kritik zu stellen – das Dokument für sich als Bestätigung ihrer Anschauungen und Aktivitäten in Anspruch nahmen: „Mit Dankbarkeit nehmen wir das Dokument der Konferenz des Polnischen Episkopats entgegen, das sich in so eindeutiger Weise für den Patriotismus unter jedem Aspekt des sozialen Lebens ausspricht. […] Wir stimmen mit der vom Episkopat geäußerten Ansicht überein, dass ein Nationalismus, dessen integraler Bestandteil nicht das christliche Prinzip der Nächstenliebe ist, den einzelnen wie die Nation im Ganzen – in die Irre führen kann. Der im Dokument beschriebene Chauvinismus, d. h. eine Haltung der Überlegenheit oder der Verachtung gegenüber anderen Nationen ist dem polnischen, gesunden, christlichen Nationalismus fremd.“
Es gehört schon eine gehörige Portion Dreistigkeit dazu, als Führung der Nationalisten eine Übereinstimmung mit dem Gebot der Nächstenliebe zu behaupten und in ihr die Grundlage ihres eigenen Handelns zu sehen. Nur zu bekannt sind die Hassparolen der polnischen Nationalisten gegen den Islam, gegen Juden, gegen angebliche „nationale Verräter“. Etliche Überfälle auf Ausländer gehen auf ihr Konto. Aufsehen erregte auch die von ihnen inszenierte Verbrennung einer einen Juden symbolisierenden Puppe auf dem Breslauer Markt.(2)
Die Führung der Nationalisten beruft sich in ihrer Stellungnahme auf Roman Dmowski (1864-1939) und zitiert ihn mit den Worten: „Der Katholizismus ist keine Zugabe zum Polentum, der ihm in gewisser Weise eine Färbung verleiht, sondern er ist sein Kern; er ist in einem bedeutenden Maße sein Wesen. Bemühungen, bei uns den Katholismus vom Polentum zu trennen, ein loslösen der Nation von Religion und Kirche kommen der Vernichtung des inneren Wesens der Nation gleich.“ Es ist ein religiös und ethnisch homogenes Polen, das Dmowski vorschwebte, das andere Religionen und Ethnien von der nationalen Identität ausschließt. Dagegen verweisen die Bischöfe in ihrem Dokument ausdrücklich auf die unterschiedliche Religionen und Ethnien umfassende Jagiellonen Republik als Vorbild nationalen Selbstverständnisses und Bezugspunkt eines christlichen Patriotismus.
Neben Roman Dmowski beruft sich die Führung der Nationalisten auch auf Primas Stefan Wyszyński (1901-1981). Sie zitiert aus einer seiner Predigten folgende Sätze: „Der ordo caritatis verlangt, dass ein Mensch, der an der Spitze einer sozialen Gruppe steht und für sie die Verantwortung übernimmt, zuerst an die Pflichten gegenüber den Kindern seiner Nation denkt und erst nach Maßgabe der Befriedigung und der Erfüllung der allerdringlichsten, grundlegenden Bedürfnisse der eigenen Bürger der Forderung nachkommt, anderen Völkern und Nationen, der ganzen menschlichen Familie Hilfe zukommen zu lassen.“ Nicht nur die Nationalisten, nicht nur konservative, nationalkatholische Politiker, auch einzelne Priester und Theologieprofessoren bedienen sich mit Vorliebe des ordo caritatis, um die Weigerung, syrische Kriegsflüchtlinge aufzunehmen zu begründen. Für Extremsituationen kann dieses Prinzip allerdings kaum in Anspruch genommen werden. Schließlich hat Jesus auf die Frage des Gesetzeslehrers, wer denn sein Nächster sei, nicht auf den ordo caritatis verwiesen, sondern das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. (Lk 10,25-37).
Auf die eigentliche Absicht der Bischöfe, mit ihrem Dokument den von ihnen befürworteten Patriotismus vom Nationalismus zu unterscheiden und abzuheben, nehmen die Vorsitzenden der drei nationalistischen Organisationen keinen Bezug. Wie sollten sie auch, existiert doch für sie dieser Unterschied nicht. Es braucht keine eingehende Analyse ihrer Stellungnahme, um zu erkennen, dass für sie Patriotismus und Nationalismus ein und dasselbe sind.
Kritische Anfragen an die nationalkonservative Partei und Regierung
Ignoranz gegenüber dem bischöflichen Dokument
Polen Bischöfe unterstreichen in ihrem Dokument dessen Bedeutung für die gegenwärtige politische Situation in ihrem Land. Damit stellt sich die Frage nach etwaigen Bezugspunkten ihrer Aussagen zu der von der nationalkonservativen Partei und Regierung verfolgten Politik. Aber nimmt man in ihren Kreisen dieses Dokument überhaupt ernst? Zweifel sind erlaubt. Denn wie wenig sich Jarosław Kaczyński, Chef seiner nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und Polen faktisch regierender starke Mann, um die von den Bischöfen eingeforderte „patriotische Verpflichtung“ schert, sich für „soziale Versöhnung zu engagieren, übermäßige politische Emotionen zu lindern und das öffentliche Leben vor unnötiger Politisierung zu bewahren“, dafür lieferte er wenige Tage nach Veröffentlichung des Dokuments einen Beweis. Am 10. Mai, auf der monatlichen Gedenkfeier in Erinnerung an die Smolensker Katastrophe des Absturzes der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 mit seinem Zwillingsbruder Lech und über 90 weiteren Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, holte er in seiner Rede vor dem Warschauer Präsidentenpalast zu einem Rundumschlag gegen all jene aus, die seine hartnäckig behauptete, „bald ans Licht kommende Wahrheit“ eines Attentates statt eines Unfalls nicht teilen. Eines Attentates, in das – wie PiS behauptet - möglicherweise der Kreml und Donald Tusk als damaliger Ministerpräsident verstrickt seien. Indem er all diesen Gegnern seiner „Wahrheit“ einen „Hass auf Polen“ unterstellt, machte er sich selbst zum Hassprediger. Unter Hinweis auf die weißen Rosen, die Teilnehmer einer in Sichtweite stattfindenden Gegenkundgebung im Gedenken an die Opfer der Katastrophe und ihrer Angehörigen niedergelegt hatten, sagte er: „Diese weißen Rosen, die man dort sieht, sind ein Symbol des Hasses und der Dummheit. Einer radikalen Dummheit und eines radikalen Hasses.“ Und er unterstellt seinen Gegnern Angst vor dieser „Wahrheit“ als Quelle ihres angeblichen Hasses: „Vor eben dieser Wahrheit haben sie Angst, vor der Wahrheit über Smolensk, aber auch vor der Wahrheit über die Regierungstage, die – Gott sei Dank – hinter uns liegen. Daher diese Furie, daher dieser Hass.“(3) Gibt es ein drastischeres Beispiel für den von den Bischöfen beklagten „tiefen politischen Streit, der heute unser Land spaltet“? Bedarf es weiterer Beweise, wer für diese Spaltung die Verantwortung trägt“? Einer Spaltung, bei der sich ein Abgrund auftut, über den hinweg es kaum eine Verständigung, geschweige denn eine Versöhnung gibt.
Ein gastfreundlicher Patriotismus und die Flüchtlingsproblematik
Das Dokument nimmt keinen Bezug auf die Weigerung der Regierung, auch nur einen einzigen syrischen Kriegsflüchtling aufzunehmen. Die Bischöfe betonen aber, in der Epoche der Jagiellonen Republik habe das „Modell eines gastfreundlichen Patriotismus“ seine Ausformung erhalten. Und dies in einer Zeit, als das westliche Europa von religiösen Verfolgungen und Religionskriegen heimgesucht wurde. Nicht zuletzt aufgrund dieser toleranten und offenen Einstellung habe sich in Polen eine Kultur herausgebildet, inspiriert durch das beste Erbe der aufgenommenen, sich polonisierenden Gäste. Auf diese Weise hätten „die polnische Literatur, Musik, Wissenschaft, Kunst, Architektur und Gewohnheiten“ ihre Gestalt gewonnen.
Mit dieser Tradition erscheint die von der Regierung verfolgte Flüchtlingspolitik nicht vereinbar. Kurz nach ihrem Machtantritt im Herbst 2015 nahm sie die Zusage ihrer Vorgängerregierung zurück, die sich bereit erklärt hatte, eine bestimmte Anzahl an Kriegsflüchtlingen aufzunehmen. Zudem setzte Jarosław Kaczyński alles daran, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Er sprach davon, die Flüchtlinge würden Krankheiten einschleppen, die in Europa bislang unbekannt und daher umso gefährlicher seien. Auch würden sie ihre Notdurft in den Kirchen erledigen, und aufgrund der Vorgänge in der Kölner Silvesternacht verbreiteten die durch die Regierung gleichgeschalteten Medien die beängstigende Vorstellung, mit der Aufnahme von Flüchtlingen sei kein weibliches Wesen vor Vergewaltigungen sicher.
Doch die Regierung, die sonst keine Gelegenheit auslässt, die von ihr angeblich vertretenen christlichen Werte zu beschwören, schürt nicht nur persönliche Ängste. Sie sieht in der Aufnahme von Flüchtlingen geradezu eine nationale Bedrohung, der man sich erwehren müsse. Das reiche christliche Erbe, das 2016 durch die feierliche Inthronisation Jesu Christi am Ende des Heiligen Jahres seine Bestätigung gefunden habe, müsse gegen die mit der Aufnahme muslimischer Flüchtlinge verbundene Gefahr einer Islamisierung verteidigt werden. Die Regierung brachte es mit ihrer islamfeindlichen Propaganda schließlich dazu, dass Zweidrittel der Bevölkerung die ablehnende Haltung der Regierung unterstützt und man im Flüchtling nicht mehr einen in existentielle Not geratenen Menschen sieht, sondern einen potentiellen Terroristen, der alles daran setzen werde, die bestehende, christlich geprägte Ordnung zu vernichten.
Diese Sicht der Dinge wird im Übrigen auch von einzelnen kirchlichen Amtsträgern mit einer strak nationalkatholischen Einstellung vertreten. Doch immerhin hat sich Polen Kirche offiziell für eine Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge ausgesprochen. Auf ihren Vorschlag sollte ein „humanitärer Korridor“ geschaffen werden, um Kriegsflüchtlinge nach Polen holen zu können. Doch die Verwirklichung dieses Vorhabens scheiterte am Widerstand der Regierung, die dazu ihre Einwilligung verweigerte. Und weil die Bischofskonferenz es versäumte, in dieser Frage Druck auszuüben, wie dies bei ihr wichtigen moralischen Problemen gegenüber der Vorgängerregierung geschehen war, geriet sie in den Verdacht, ihr Vorschlag erfülle lediglich eine Alibifunktion gegenüber der eindeutigen Forderung von Papst Franziskus, den an Leib und Leben bedrohten Flüchtlingen jede nur denkbare Hilfe zukommen zu lassen.
Geschichtspolitik - kritiklose Übereinstimmung?
Eine ausführliche Erläuterung verdient die dem zweiten, der Erziehung zum Patriotismus gewidmeten Teil des Dokuments vorangestellte Geschichtspolitik. Sie diene dem „Aufbau nationaler Identität und patriotischer Einstellungen“. Als Vermittler werden in erster Linie „Institutionen des Staates“ genannt. Ihr Einfluss auf die Gestaltung des historischen Bewusstseins einer Nation hängt davon ab, wieviel Macht ihnen über die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche zukommt. In einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft ist sie eingeschränkt, so dass sich ein gesellschaftlicher Freiraum eröffnet, in dem um die Ausformung eines historischen Bewusstseins diskutiert und gerungen werden kann. Wird dieser Freiraum – wie gegenwärtig in Polen – durch autoritäre Maßnahmen beschnitten, dann besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses zur Festigung der eigenen politischen Macht. Auf diese Möglichkeit wird in dem Dokument zwar verwiesen, allerdings ohne einen erkennbaren kritischen Bezug zum gegenwärtigen Narrativ der Regierung.
Durch das Fehlen einer solchen Kritik kann sich die nationalkonservative Regierung in voller Übereinstimmung mit dem Dokument wähnen. Der von ihr forcierte „gute Wandel“ weist – ähnlich wie das Dokument – der Geschichtspolitik eine besondere Bedeutung zu. So hat sich etwa Staatspräsident Andrzej Duda Anfang März 2016 auf der dem Thema „Geschichtspolitik – Kontexte, Ideen, Entwicklungen“ gewidmeten Sitzung des Nationalen Rates für die Schaffung entsprechender geschichtspolitischer Rahmenbedingungen ausgesprochen. Diese sind inzwischen weitgehend vorhanden: Der schulische Geschichtsunterricht wurde nicht nur stundenmäßig aufgestockt, er wurde vor allem inhaltlich darauf ausgerichtet, die Verbundenheit der heranwachsenden Generation mit dem Vaterland sowie ihren Stolz auf die Traditionen der Nation und des Staates zu stärken. Auch die staatlichen Medien wurden auf diese geschichtspolitische Linie verpflichtet. Und wo es – etwa im Kulturbereich - zu Abweichungen von dieser Vorgabe kommt, da hagelt es Kritik, die mitunter mit der Entlassung verantwortlicher Programmdirektoren einhergeht.
Mit der starken Betonung ihrer Geschichtspolitik setzt sich die nationalkonservative Regierung scharf von ihrer liberalkonservativen Vorgängerin ab. Ihr wird vorgeworfen, der Geschichtspolitik und dem Patriotismus nicht nur keinen sonderlichen Wert beigemessen zu haben, sondern an Stelle der Vermittlung von nationaler Ehre und nationalem Stolz ein nationales Bewusstsein nationaler Schmach und Schande vertreten zu haben.
Die mit der Geschichtspolitik verbundene grundsätzliche Problematik
Hinter diesem Vorwurf verbirgt sich ein grundsätzliches Problem: Geschichtspolitik bedeutet immer den Entwurf eines Selbstbildes einer Nation, bei dem sich die Frage stellt, was in ihm Platz findet und was nicht. Aufgrund einer an Unterdrückung und Verfolgung reichen Geschichte entstand ein polnische Selbstbild, in dem man traditionell die eigene Opferrolle idealisierte, den eigenen Heroismus kultivierte und geschichtlicher Inhalte verdrängte, die in dieses Bild nicht hinein passten oder es gar in Frage stellten.
Geleistete Aufarbeitung des Gedächtnisverlustes
Jede Geschichtspolitik, auch die polnische, ist auch nach ihren Schatten und nach ihren Gedächtnisverlusten zu hinterfragen. Diese Hinterfragung hat – daran ist in diesem Zusammenhang zu erinnern – in Polen stattgefunden. 1981, also zur Zeit der Solidarność, veröffentlichte der Literaturwissenschaftler und Dissident Jan Józef Lipski (1926-1991) in der Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ den Essay „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen. Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen“. Er fragt: „Halten wir uns für besser als andere, oder nur für anders, meinen wir, dass in diesem Anderssein ein besonderer Wert enthalten ist, glauben wir, dass uns aus irgendeinem Grund Rechte und Privilegien zustehen – oder auch Pflichten erwachsen würden? Je nach Antwort auf diese Fragen gehören wir zu verschiedenen Vaterländern.“ Und Lipski erinnert daran, dass Polen in der Geschichte nicht nur Opfer waren, nicht nur Schreckliches von seinen Nachbarn erfahren, sondern auch Schuld auf sich geladen haben. Er verweist auf den mörderischen Hass des Nationalen Lagers in der Zwischenkriegszeit, auf die Juden diskriminierenden Bankghettos an den Universitäten, auf vereinzelte Pogrome, auf die „Befriedung“ ukrainischer Dörfer. Es gelte, sich die Schuld bewusst zu machen, die dunklen, verdrängten Seiten des historischen Bewusstseins aufzuhellen und „ihre Anerkennung nicht im Dienste des eigenen Größenwahns zu verweigern.“
Es gab weitere Bemühungen, die dunklen, verdrängten Seiten des historischen Gedächtnisses in das nationale Bewusstsein zu integrieren. 1985 kam es nach Ausstrahlung von „Shoa“ des französischen Regisseurs Claude Lanzmann zu einer sehr kontrovers geführten öffentlichen Debatte. Während sich breite Teile der Gesellschaft in ihrer Würde verletzt fühlten, mahnte der Literaturwissenschaftler Jan Bloński (1931-2009) eingedenk des Holocaust ein grundsätzliches Überdenken des polnisch-jüdischen Verhältnisses an(4): „Statt aufzurechnen und uns zu entschuldigen sollten wir zuerst uns selbst prüfen, an unsere Sünde, an unsere Schwachheit denken. Eben diese moralische Umkehr braucht unser Verhältnis zur polnisch-jüdischen Vergangenheit unbedingt.“ Er war der Meinung, „eine verständnisvolle und gerechte Beurteilung unserer gemeinsamen Geschichte“ sei nur über die eigene „Wandlung“ möglich, die zu einem Eingeständnis eigener Verstrickung befähigt.
Schließlich sei noch an die gleichfalls breit und emotional geführte Diskussion erinnert, die durch das Erscheinen des Buches von Jan Tomasz Gross(5) über die von polnischen Nachbarn verübten Morde an 1600 Juden in dem nordostpolnischen Städtchen Jedwabne ausgelöst wurde. Von rechtskonservativer und rechtsextremer Seite wurde zudem scharf kritisiert, dass sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski am 10. Juli 2001 an den Ort des Geschehens begab, um sich im Namen des polnischen Volkes für diese Mordtaten zu entschuldigen. Auch in dieser Diskussion ging es um die Reinigung des Gedächtnisses durch eine ehrliche Aufarbeitung eigener Schuldverstrickung.
Rückkehr zum traditionellen nationalen Selbstbild mit der Regierungsübernahme durch „Recht und Gerechtigkeit“
Mit der Regierungsübernahme durch „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2015 wird diese Entwicklung zurückgeschraubt und erneut ein nationales Selbstbild verbreitet, das die im Kampf um Unabhängigkeit und nationale Ehre erbrachten Opfer in den Vordergrund rückt und den eigenen Täteranteil entweder leugnet oder herunter spielt. Und wer in Erinnerung an die geleistete Aufarbeitung eigener Untaten von der nationalkonservativen Regierung eine sich an ihr orientierende Geschichtspolitik einfordert, der muss mit Repressalien rechnen. So wurde gegenüber der auch über Polens Grenzen hinaus bekannten Schriftstellerin Olga Tokarczuk die Forderung laut, ihr die Ehrenbürgerschaft der nahe ihres Wohnortes gelegenen Stadt Nowa Ruda abzuerkennen, weil sie mit ihren Äußerungen „den guten Namen der polnischen Nation in Verruf gebracht habe.“(6)
Eine auf die Errichtung einer IV. Republik ausgerichtete Geschichtspolitik
Doch es geht Jarosław Kaczyński und seiner Partei um mehr als nur um die Wiederherstellung eines nationalen Selbstbildes lauter freiheitsliebender, zu heroischen Tarten fähiger Patrioten der Vergangenheit. Es geht ihnen auch um eine Geschichtspolitik, durch die die Entstehung der III. Republik im annus mirabilis 1989 nicht als historischer Einschnitt, sondern als Kontinuität des kommunistischen Systems gedeutet wird. Sie sei aufgrund der am Runden Tisch vereinbarten Kompromisse kein wahrhaft demokratisches, sondern ein postkommunistisches Staatswesen. Jene Vereinbarungen hätten dazu gedient, den Kommunisten auch für die Zukunft ihren Einfluss zu sichern, so dass diese die eigentlichen Nutznießer der III. Republik seien. Kaczyński sieht daher seine nationale Sendung darin, durch eine Politik des „guten Wandels“ das Ende der III. Republik herbeizuführen und an ihre Stelle die mit seinem Namen und dem seines Zwillingsbruders Lech bleibend, also historisch, verbundene IV. Republik zu errichten.
Die Tragödie von Smolensk als Gründungsmythos
Nur auf dem Hintergrund dieser Absicht ist es für den äußeren Beobachter verständlich, welche geschichtspolitische Bedeutung Kaczyński und seine PiS dem tragischen Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 beimessen. Ihm soll gleichsam die Funktion eines Gründungsmythos der IV. Republik zukommen. Ein erster Schritt dazu war die Bestattung des Leichnams seines Bruders in der Krypta des Wawel, in der neben den polnischen Königen auch Józef Piłsudski, der Gründer der II. Republik, seine letzte Ruhe fand. Seit nunmehr sieben Jahren wird am 10. eines jeden Monats durch von PiS organisierte Manifestationen an jene Katastrophe erinnert, die kein tragischer Unfall gewesen sein darf, sondern ein von Moskau verübtes Attentat sein muss, in das auch Donald Tusk, damaliger Regierungschef, verstrickt gewesen sein soll. Und obwohl der längst vorliegende umfangreiche Untersuchungsbericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Nebel über dem Flughafen von Smolensk sowie menschliches Versagen die Ursache waren, was ein Attentat definitiv ausschieße, wird immer noch von Kaczyński und seinen Getreuen, aber auch von Teilen der Kirche, die baldige Aufdeckung der „Wahrheit“ über den Absturz beschworen. Denn schließlich taugt ein tragischer Unfall kaum als Gründungsmythos der IV. Republik. Dazu muss diese Katastrophe schon in den Rang eines nationalen Martyriums erhoben werden.
Angesichts dieses Befundes dürfte sich die Hoffnung der Bischöfe, eine „vernünftige Geschichtspolitik werde die zwischenmenschlichen Bindungen sowie trotz Unterschiede und Spaltungen das Bewusstsein gemeinsamer geistiger Werte stärken“, kaum erfüllen.
Erstveröffentlichung: imprimatur 2/2017
Liderzy MW, ONR i RN skomentowali dokument Jan Bodakowski, Chrześciąński kszałt patriotyzmu Episkopatu Polski. Prawy.pl v. 28.04.2017
Vgl. Theo Mechtenberg, Polnische Jungnationalisten mit geistlichem Beistand, imprimatur 3/2016.
Paweł Kośminski, Miesięcznica smoleńska. Kaczyński: Przyjdzie wielka klęska tych, który nienawidzą Polski, Gazeta Wyborca vom 10. 05. 2017.
Jan Bloński, Biedni Polacy patrzą na getto (Arme Polen schauen auf das Ghetto), Tygodnik Powszechny vom 11. Januar 1987.
Jan Tomasz Gross, Sądsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka, Sejny 2000. Unter dem Titel “Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ erschien 2001 im Münchener C. H. Beck Verlag eine deutsche Übersetzung.
Magda Piekarska, Nowa polityka historiczna wg. PiS.Ządają odebrania Tokarczuk obywatelska Nowej Rudy, Gazeta Wyborca v. 15. 12. 2016.