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Reformation in Polen – ein verdrängtes geschichtliches Erbe?

  • Theo Mechtenberg
  • 21. Juni 2017
  • 11 Min. Lesezeit

Die von der Bürgerplattform (PO) angeführte polnische Vorgängerregierung hatte für das Lutherjahr 2017 mit einer Gesetzesinitiative ein besonderes Gedenken an die Reformation geplant. Doch nachdem die Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2016 mit absoluter Mehrheit die Regierung übernommen hatte, wurde dieses Projekt durch die von ihr dominierte Kulturkommission des Sejm verworfen. Lediglich auf Beschluss der Wojewodschaft Schlesien, in der es eine ganze Reihe evangelischer Gemeinden gibt, dürfte das 500-Jahr-Gedenken an die Reformation gepflegt werden.

Statt der Reformation gilt den Fatima-Erscheinungen vor genau 100 Jahren staatlicherseits ein besonderes Gedenken. Dazu haben 55 Abgeordnete von PiS eine Gesetzesvorlage mit der Begründung in den Sejm eingebracht, es handele sich bei Fatima um ein Ereignis von höchster Bedeutung für die Kirche wie für die gesamte Welt; insbesondere für Polen, das sich nach Überwindung des Kommunismus „nunmehr durch einen Atheismus anderer Art bedroht sieht, der darauf abzielt, die Wurzeln menschlicher und christlicher Moralität zu zerstören.“

Zur Problematik eines Reformationsgedenkens in Polen

Angesichts des geringen Anteils evangelischer Christen an Polens Gesamtbevölkerung sah die Kulturkommission offenbar keinen Grund für die Verwirklichung des Projekts. In der Tat bilden die in Polen lebenden 75 000 Lutheraner und 3000 Reformierte unter den Millionen Katholiken eine verschwindende Minderheit. Selbst das einzige Lutherdenkmal des Landes ist nicht „polnisch“. Es wurde 1900 vom Wiener Bildhauer Franz Vogel geschaffen und befindet sich in der ganz im Südosten gelegenen Doppelstadt Bielsko-Biały; genauer gesagt in Bielsko, das über 700 Jahre Bielitz hieß, bis der Ort 1920 in den wieder erstandenen polnischen Staat integriert wurde und seinen jetzigen Namen erhielt. Die Geschichte von Bielitz reicht bis in das 13. Jahrhundert zurück, als der Teschener Piastenfürst deutsche Handwerker ins Land rief, die sich in Bielitz niederließen und der Stadt ein deutsches Gepräge gaben. Fast zeitgleich zur Reformation, die unter den deutschen Bürgern der Stadt bereitwillige Aufnahme fand, geriet Bielitz unter die Herrschaft der Habsburger. Trotz deren Unterdrückung, Verfolgung und Katholisierungsbemühungen hielten die Bürger der Stadt an ihrem evangelischen Glauben fest, so dass das Lutherdenkmal als Zeugnis ihrer Widerstandskraft zu verstehen ist und somit zur Reformation in Polen in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht.

Plädoyer für die Wahrung des reformatorischen Erbes

Die geringe Präsenz evangelischer Christen im heutigen Polen sollte indes kein Grund sein, das eigene reformatorische Erbe zu vergessen oder zugunsten eines national-katholischen Geschichtsverständnisses bewusst zu verdrängen. Allein schon die lange Liste bedeutender und erinnerungswürdiger polnischer Persönlichkeiten evangelischen Glaubens verpflichtet zur Wahrung des reformatorischen Erbes – etwa, um nur einige wenige Namen zu nennen, Mikolaj Rej (1505-1569), der Dichter der Renaissance und einer der ersten Begründer polnischer Literatur überhaupt, der von der Gestapo ermordete Bischof Juliusz Bursche (1862-1942) sowie der 1940 geborene Jerzy Buzek, der von 1997 – 2001 das Amt des Ministerpräsidenten im nachkommunistischen Polen bekleidete.

Jan £aski – der polnische Reformator(1)

Eine eigene Betrachtung verdient der Aristokrat Jan £aski (1499-1560), der – wenngleich weniger in seiner polnischen Heimat, dafür aber für seine Tätigkeit im westlichen Ausland – den Titel eines Reformators für sich in Anspruch nehmen kann. Von einer bescheidenen Gedenktafel in der reformierten Warschauer Kirche abgesehen, gibt es in Polen kein ihm gewidmetes öffentliches Zeichen der Erinnerung. Dafür ist aber sein Name in lateinischer Form als Johannes a Lasco auf dem monumentalen Genfer Reformationsdenkmal vermerkt.

Als priesterlicher Neffe des gleichnamigen Gnesener Erzbischofs und polnischen Primas Jan £aski (1456 - 1531) war für ihn eigentlich eine kirchliche Karriere vorgezeichnet. Doch statt ihrer stand ihm ein unstetes Wanderleben in der Fremde bevor. Zunächst verbrachte £aski zur Vervollständigung seiner Bildung einige Jahre an verschiedenen westeuropäischen Universitäten, wo er mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam in Kontakt trat, einige Vertreter der reformatorischen Bewegung, unter ihnen Huldrych Zwingli (1484-1531), aufsuchte und erstmals mit den unterschiedlichen Positionen der neuen Lehre in Berührung kam. Wieder in Polen und von seinem Onkel protegiert, erfüllte er im Auftrag des Königs eine diplomatische Mission in Ungarn. Von der kehrte er aber nicht in die Königsstadt Krakau zurück, sondern begab sich nach Leipzig, später nach Leuven, wo er mit Philipp Melanchthon (1497 - 1560) zusammentraf. Er wohnte in einer evangelischen Gemeinschaft, heiratete eine Bürgerliche und verlor dadurch in Polen seine kirchlichen Pfründe.

Auf diese Weise mittellos geworden, fand er in Friesland auf Einladung der dortigen Regentin Aufnahme. Er ließ sich in Emden nieder und reformierte vor Ort die kirchlichen Verhältnisse. Dabei orientierte er sich, vom Calvinismus beeinflusst, an der urkirchlichen Gemeindeordnung. Er ließ aus den Kirchen Bilder und Figuren beseitigen und verordnete den Gemeinden eine kollegiale, aus Presbytern und Ältesten (Laien) bestehende Leitung.

Um mit Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges (1546 - 1547) möglicher Verfolgung zu entgehen, verließ er Emden und fand in London eine neue Aufgabe. Als Superintendent nahm er sich der vom Festland geflohenen Protestanten an. Doch als nach dem plötzlichen Tod des jungen Königs Edwards VI. (1537 - 1553) seine Schwester Maria die Katholische (1516 - 1558) gekrönt wurde und eine blutige Verfolgung der Protestanten einsetzte, verließ £aski mit seiner protestantischen Flüchtlingsgemeinde die Insel. In den norddeutschen Hafenstädten abgewiesen, kehrte schließlich wieder nach Emden zurück.

Inzwischen hatte die Reformation auch in Polen Fuß gefasst. Zur Bewältigung der mit ihr verbundenen Probleme suchte man Hilfe bei den westlichen Reformatoren. So erreichten auch £aski zahlreiche Briefe mit der Bitte, nach Polen zurückzukehren. 1556, vier Jahre vor seinem Tod, entsprach er diesem Wunsch. In zwei Audienzen bei Zymunt II. August (1520 -1557) bemühte er sich um dessen Unterstützung für die Reformation. Doch der König widersetzte sich diesem Ansinnen, worin man einen der Gründe sehen kann, warum die Reformation in Polen eine Episode blieb.

Bereits im westlichen Ausland hatte sich £aski vergeblich darum bemüht, die unter sich zerstrittenen Lutheraner und Reformierten in einer Union zu vereinigen. Nun versuchte er Gleiches in Polen, doch auch hier ohne Erfolg. Die von ihm in Angriff genommene Bibelübersetzung konnte er nicht zu Ende führen. Sie erschien 1563 posthum und gilt – ähnlich wie die Lutherbibel für den deutschen Sprachraum – als Meilenstein in der Entwicklung der neuzeitlichen polnischen Sprache.

Reformation in Polen – eine geschichtliche Episode(2)

Auch wenn Johannes £aski den Titel eines Reformators verdient, so ist er doch kein polnischer Luther. Und dies nicht deswegen, weil er der Lehre Calvins und nicht der des Wittenbergers zuneigte, sondern weil er zur neuen Lehre nicht in seiner Heimat fand, sondern im Ausland. So gehen denn auch die Anfänge der Reformation in Polen auf ihren „Import“ zurück. Als Frucht eines intensiven geistigen Austausches innerhalb der mittelalterlichen christianitas brachten Studenten, Kaufleute und reisefreudige Adelige die reformatorischen Gedanken nach Polen. Luthers Schriften verbreiterten sich im Land, und dies in einem Umfang, dass sich Sigismud I. der Ältere (1467 - 1548) veranlasst sah, ihre Einfuhr zu verbieten – ein, wie die Erfahrung zu allen Zeiten zeigt, wenig wirkungsvolles Verbot. Vor allem in von Deutschen bewohnten Städten bildeten sich evangelische, zumeist lutherische Gemeinden, die allerdings während des gesamten Reformationszeitalters gegenüber der katholischen Kirche weit in der Minderheit waren.

Dass Polen heute als das katholische Land Europas gilt, hat seinen Grund darin, dass in diesem Land die Reformation letztlich eine Episode blieb. Es lassen sich drei Gründe anführen, warum sie sich in Polen nicht auf Dauer durchsetzen konnte. Erstens war die vom humanistisch hoch gebildeten Kardinal Stanisław Hosius (1504 - 1579) vorangetriebene katholische Reform äußerst wirksam. Seine Bekenntnisschrift Confessio fidei catholicae christiana erlebte noch zu Lebzeiten ihres Autors 60 Auflagen und wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Kardinal Hosius war es auch, der die Jesuiten nach Polen holte, die mit ihren Schulen, Schriften und Predigten zur treibenden Kraft katholischer Reform wurden. Zudem erreichte Hosius 1564 bei König Sigismund II. August (1520 - 1572) die Anerkennung des Trienter Konzils (1545 - 1563), wodurch sich die Protestanten in die Defensive gedrängt sahen.

Zweitens drang die neue Lehre nicht zur breiten Schicht unfreier, von den Magnaten und dem Landadel abhängiger Bauern durch. Beide Seiten trennte eine tiefe Kluft zwischen Herr (Pan) und Knecht (Cham). So hielten die Bauern an dem durch ihre Dorfkultur geprägten katholischen Glauben fest, der im überlieferten Brauchtum nach dem Rhythmus der Zeiten und Feste des Kirchenjahres seinen Ausdruck fand. Die zeitweise Hinwendung ihrer Herren zur neuen Lehre betraf sie ebenso wenig wie deren spätere Rückkehr zum alten Glauben. Hier zeigt sich eine – übrigens ein bis in die Gegenwart hinein wirkendes Phänomen polnischer Besonderheit – klassenmäßige Spaltung der Gesellschaft einschließlich ihrer religiösen Implikationen. Herr und Knecht lebten unbeschadet ihres jeweiligen Glaubens in verschiedenen Welten.(3)

Die Schlachta – Reformation und politische Zielsetzung

Der dritte Grund, warum die Reformation in Polen eine Episode blieb, bedarf einer ausführlicheren Darstellung. Er besteht, auf eine kurze Formel gebracht, darin, dass der polnische Landadel, die so genannte Schlachta, als zeitweiser Hauptträger der Reformation wieder zum katholischen Glauben zurückkehrte, nachdem seine politischen Ziele erreicht waren.

Während des Reformationszeitalters vollzog sich in Polen ein Wandel der Staatsform. Mit dem Tod von Sigismund I. dem Älteren (1548) erlosch die Jagiellonendynastie, und es begann die Epoche der Adelsrepublik. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Parallelentwicklung zur Reformation, sondern um einen engen Zusammenhang beider Phänomene.

Der polnische Klein- und Landadel, der im damaligen Polen bis zu 15% der Bevölkerung ausmachte, hatte mehrheitlich die Ideen Calvins übernommen. Dabei ging es ihm weniger um die religiösen Inhalte, nicht sonderlich um Prädestination und moralischen Rigorismus, sondern vor allem um dessen Staatslehre Institutio de politica administratione, die weitgehend auf seiner republikanischen Erfahrung mit der Genfer kollegialen Stadtregierung basiert. Darin setzte sich Calvin u. a. mit dem princeps legibus solus auseinander, also mit der Auffassung, der Herrscher sei nicht an das Gesetz gebunden. Die Erfahrung seiner Zeit, zumal die Vorgänge am französischen Königshof, hatten ihn gelehrt, dass die Menschen aufgrund der gesetzlichen Ungebundenheit der Herrscher nur zu oft unter Willkür und Unrecht zu leiden hatten. Um der Gesetzlosigkeit und Anarchie als Folge der Tyrannei entgegen zu wirken, plädierte Calvin für eine Einschränkung königlicher Macht, der gegenüber er ohnehin skeptisch eingestellt war. Ausdrücklich verweist er darauf, dass Jahwe nur sehr zögerlich der Einführung des Königtums in Israel zugestimmt habe (1 Sam 8, 1-22). Entsprechend spricht sich Calvin für ein Widerstandsrecht aus, das er gegenüber dem Monarchen den Ständen bzw. dem Parlament zubilligt. Als staatsrechtliches Ideal schwebt ihm aufgrund seiner Genfer Erfahrung mit einer republikanisch geprägten Stadtregierung eine Mischform von Aristokratie und Demokratie vor.

Calvins staatsrechtliche Ideen kamen der Schlachta sehr entgegen und dürften für die Annahme des reformierten Glaubens den Ausschlag gegeben haben. Sie bestimmten seit den 20er und 30er Jahren des 16.Jahrhunderts ihr politisches Programm, das darauf abzielte, die Vormachtstellung von König, Magnaten und Kirche zu beseitigen und sich selbst als die entscheidende politische Kraft zu etablieren. Und sie war mit diesem Streben äußerst erfolgreich. 1562/63 erreichte die Schlachta eine teilweise Beseitigung der Krongüter und eine Reorganisation des Fiskus entsprechend ihren Vorstellungen. Zudem wurde die staatliche Vollstreckung des Kirchenbanns aufgehoben, was der Schlachta die Rückkehr zum alten Glauben erleichterte, weil sie keine Anklage wegen Apostasie zu befürchten hatte. Schließlich erhielt die Schlachta 1573 das Recht, den König in direkter Wahl zu benennen. Und die Verfassung, auf die der von ihr erstmals gewählte König Stephan Báthory (1490 -1530) den Eid ablegte, enthielt die Bestimmung, dass die Schlachta berechtigt war, dem König unter bestimmten Umständen den Gehorsam zu verweigern. Schließlich erhielt sie mit der Einrichtung oberster Gerichte, in denen sie nach Sitz und Stimme eine absolute Mehrheit besaß, gegenüber König und Klerus einen weiteren Machtzuwachs.

In wenigen Jahren hatte somit die Schlachta ihre Ziele erreicht. Der Calvinismus hatte bei diesem Prozess eine wesentliche Rolle gespielt, war aber nun nicht mehr erforderlich. Und weil nach Aufhebung des Kirchenbanns keine Repressalien zu erwarten waren, stand einer Rückkehr zum alten Glauben nichts mehr im Wege. So kam es bei der Schlachta in den 70er und 80er Jahren des 16. Jahrhunderts zu einer massenweisen Abkehr vom Protestantismus und zu einer erneuten Hinwendung zur katholischen Kirche.

Toleranz als Frucht der Reformation

Eine weitere Besonderheit der Reformation in Polen bildet das Faktum, dass es im Unterschied zum westlichen Europa zu keinem Religionskrieg zwischen dem katholischen und dem protestantischen Lager kam. Das Reformationszeitalter war in unserem Nachbarland vielmehr von religiöser Toleranz geprägt. Dabei konnte man auf eine lange Tradition zurückgreifen. Bereits auf dem Konzil in Konstanz (1414 - 1418) hatten die polnischen Vertreter die von manchen Konzilsvätern als Häresie gewertete Ansicht vertreten, die Heiden würden das Recht auf eigene Staaten besitzen, und den Christen stünde es nicht frei, sie mit dem Schwert zu bekehren. Zudem war der polnische Staat seit den Tagen Kasimirs des Großen (1333 - 1370) durch einen religiösen Pluralismus gekennzeichnet: Katholiken und Orthodoxe pflegten eine friedliche Nachbarschaft, und die Juden, die in anderen Teilen Europas verfolgt und vertrieben wurden, konnten sich aufgrund königlicher Privilegien einer weitgehenden Autonomie erfreuen. Auch die Hussiten fanden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Polen eine neue Heimat. In all den Jahren blieb freilich der katholische Glaube das vorherrschende Bekenntnis, der im Übrigen für eine gesellschaftliche Karriere Vorteile bot, was für russische Adelige oftmals ein Grund war, die Konfession zu wechseln.

Die durch die Tradition vorgegebene religiöse Toleranz erleichterte denn auch das Zustandekommen der Konföderation von Warschau (1573), die in ihrer Akte die Gleichberechtigung aller christlichen Bekenntnisse festlegte und den Grundsatz weitgehender Bekenntnisfreiheit festschrieb, wie sie in Westeuropa erst Jahrhunderte später durch die Aufklärung Wirklichkeit wurde. Auch wenn diese religiöse Toleranz mehr in einem dogmatischen Indifferentismus und politischen Opportunismus und weniger in der Botschaft des Evangeliums begründet war, so verhinderte sie doch einen religiösen Rigorismus und Fanatismus, die den Bruder in Christus verteufeln und die Gesellschaft in ihren Grundlagen zerstören können. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der von König Stephan Báthory überlieferte Ausspruch, er sei „nicht König über die Gewissen, sondern über die Völker“. Mit der religiösen Toleranz und der Bekenntnisfreiheit als Gegensatz zu einer gefährlich religiösen Polarisierung hat Polen einen Weg beschritten, der das Land vor jener schrecklichen Verwüstung bewahrte, die anderen europäischen Ländern nicht erspart blieb.

Der Erinnerung wert

Die Rückbesinnung auf das geschichtliche Erbe der Reformation legt, anders als dies offenbar die PiS-Regierung sieht, auch in Polen im Lutherjahr ein spezielles Gedenken nahe. Denn jene 500 Jahre zurückreichende Reformationszeit hatte für den polnischen Katholizismus wie für die polnische Nation insgesamt weitreichende Folgen. Sie kam einer Weichenstellung gleich, aufgrund derer Polens geschichtlicher Weg anders verlief als dies in den westlichen Ländern der Fall war, in denen die Reformation und die auf sie folgenden Religionskriege zu revolutionären Veränderungen führten. So basierte in gewisser Weise die westeuropäische Aufklärung mit ihrer Religionskritik und ihren Visionen einer nicht mehr religiös begründeten Gesellschaftsordnung auf eben jene Erfahrungen. In Polen fehlte dieser Zusammenhang und damit auch die religionskritische Komponente der Aufklärung, die sich dort als eine im Einklang mit dem christlichen Glauben befindliche moralische Aufrüstung der Nation unmittelbar vor ihren Teilungen erwies.

Zudem sah sich, anders als in deutschen Landen, der Katholizismus kaum genötigt, die eigene Glaubensauffassung gegenüber der neuen Lehre permanent zu begründen und zu verteidigen. So war die Reformation in Polen keine eigentliche theologische Herausforderung und ist es auch heute nicht. Es fehlt die gegenseitige Befruchtung, wie dies für die „deutsche Theologie“ auf evangelischer wie auf katholischer Seite bis in die Gegenwart hinein gilt. Von einer „polnischen Theologie“ wird man daher im vergleichbaren Sinn nicht sprechen können. Und wenn doch, dann denkt man dabei nicht an die Anstrengung der Vernunft zur geistigen Durchdringung der Glaubenswahrheiten, nicht an das Bemühen, im Zeitalter der Ökumene die Glaubensunterschiede in einer neuen Synthese aufzuheben, man denkt vielmehr an das nationale Spezifikum, das der „polnischen Theologie“ als einer der nationalen Identität in besonderer Weise dienenden Theologie eigen ist.

Ein besonderes Augenmerk verdient schließlich die mit dem geschichtlichen Erbe eines religiösen Pluralismus eng verbundene Toleranz, für die sich in der kommunistischen Zeit der polnische Episkopat angesichts der Bedrohung der Religions- und Gewissensfreiheit in seinen Hirtenbriefen immer wieder eingesetzt hat. Ein solches Engagement wäre auch in der derzeitigen kirchlichen wie politischen Situation wünschenswert. Denn es zeigt sich innerhalb der katholischen Glaubensgemeinschaft eine tiefe Spaltung zwischen einem weltoffenen und einem in sich national verschlossenen Katholizismus. Als feindliche Fronten, zwischen denen es keinen Dialog gibt, stehen sich beide Seiten gegenüber. Noch schärfer stellt sich diese Spaltung innerhalb der Gesellschaft zwischen liberalen und national-konservativen Kräften dar. Hier wird, zumal nach der Regierungsübernahme durch die Kaczyński-Partei, mit harten Bandagen gekämpft. Dies besonders im Internet, wo die Emotionen besonders hoch kochen und sich Aggressionen, Bezichtigungen und Hass problemlos verbreiten lassen. Es scheint, dass die einst als besonderen Stolz Polens gerühmte Toleranz in Vergessenheit geraten ist. Dabei wäre sie das Heilmittel, das Polens Kirche und Gesellschaft gegenwärtig so dringend benötigt.

.Erstveröffentlichung: imprimatur 2/2017

(1) Bei den Ausführungen zu Jan £aski berufe ich mich auf Tomasz Tagański, Wszystkie £aski Jana, Tygodnik Powszechny vom 22. Januar 2017, S. 49-51. Der Titel dieses Beitrags ist aufgrund der Doppelbedeutung von £aski als Personenbezeichnung und als Plural von Gnade kaum zu übersetzen. Er suggeriert zudem das mit dem Namen £aski verbundene lutherische sola gratia.

(2) Soweit es die Fakten betrifft, stütze ich mich auf den Beitrag von Andrzej Szulczyński, Reformacja a dzieje kościoła w Polsce (Reformation und Geschichte der Kirche in Polen), Więź 3/1979.

(3) Dies zeigen neuere soziologische Untersuchungen. Bis in breite Schichten der Gesellschaft hinein zeige sich ein Verhältnis von Über- und Unterordnung (Schule, Betriebe, Ämter, Kirche). Und die Oberschicht orientiere sich am Vorbild der Schlachta. Selbst ökonomisch finde dies seinen Niederschlag in dem Faktum, dass in Polen nicht nur relativ wenige Patente angemeldet werden, sondern diese zu 90% aus dem Wissenschaftsbereich stammen und nicht aus kaum entwickelten Forschungsbereichen der Betriebe, die vor allem nach dem Muster der Schlachta auf Gewinnmaximierung auf Kosten von Innovationen und niedrigen Löhnen orientiert seien.

 
 
 

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