Protestantische Ostpolitik
Unter diesem Titel veröffentlichte Gerhard Gnauck, seit Jahren als Korrespondenz für „Die Welt“ in Warschau tätig, einen kritischen Beitrag zur Einstellung der EKD gegenüber Osteuropa. Auslöser war für ihn, der selbst der evangelischen Kirche angehört, eine 2014 von der Lemberger Buchmesse durchgeführte Befragung deutscher Eliten, die er selbst mitorganisiert hatte. Es ging darum herauszufinden, welche Einstellung die Befragten zur Annexion der Krim sowie zum Krieg in der Ostukraine hatten. Im Einzelnen handelte es sich um drei Fragen: Mit welcher Seite sympathisieren Sie in diesem Konflikt? Welche Politik sollen ihm gegenüber Deutschland und die Europäische Union verfolgen? Haben wir als Deutsche gegenüber der Ukraine eine historische Verantwortung?
Es zeigte sich, dass der damalige Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider die Anfrage gänzlich negierte und seine Vorgängerin, die ehemalige Bischöfin Margot Käßmann, erklärte, als Botschafterin des Reformationsjubiläums für eine persönliche Stellungnahme zu beschäftigt sei – angesichts der erst in drei Jahren stattfindenden Feierlichkeiten eine wenig glaubwürdige Entschuldigung.
Gnauck sah in diesen Absagen ein beredtes Schweigen. Neugierig geworden beschloss er, der Sache weiter nachzugehen. Er untersuchte die offiziellen Verlautbarungen der EKD sowie Publikationen in kirchlichen und der evangelischen Kirche nahestehenden Medien. Er fand alle möglichen politisch relevanten Stellungnahmen und Kommentare, doch zum russisch-ukrainischen Konflikt – bis auf ein nichtssagendes Kommuniqué - nichts. Und er fragte sich: Was steckt hinter dem Schweigen der evangelischen Kirche, die sonst eher dafür bekannt ist, sich politisch einzumischen? Bei seinen Recherchen stellte er eine auffallende Rücksichtnahme gegenüber der ehemaligen Sowjetunion sowie gegenüber Putins Russland fest. So fand er u. a. auf dem Portal evangelisch.de folgenden Text: „Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte der Einfluss der Sowjetunion dazu, dass die Mehrzahl lettischer Geistlicher zusammen mit ihrem Bischof in die Emigration gingen.“ Angesichts der Unterdrückung und Verfolgung, denen die evangelische Kirche Lettlands während der sowjetischen Besetzung der Jahre 1939-1941 ausgesetzt war und die sie mit der Okkupation ihres Landes ab 1944 zu erwarten hatten, eine äußerst euphemische Äußerung.
Gnauck zitiert in diesem Zusammenhang Renke Brahms, den Bevollmächtigten der EKD für Friedensfragen. Nach den Ängsten der baltischen Staaten befragt sagte er. „Die baltischen Staaten haben schließlich auch den Hitler-Stalin-Pakt überlebt. {…] Sie wurden damals von Deutschland und der internationalen Gemeinschaft sich selbst überlassen.“ Besser kann man – wie Gnauck anmerkt - kaum über die an und in den baltischen Staaten verübten sowjetischen Verbrechen hinwegtäuschen.
Gnauck sieht in dieser Bagatellisierung der Geschichte eine in der evangelischen Kirche der Bundesrepublik verbreitete Zurückhaltung, sowjetische Verbrechen beim Namen zu nennen. Sie sei dadurch bestimmt, sich nicht den Vorwurf des „Antikommunismus“ einzuhandeln und damit in die rechte Ecke gerückt zu werden. Zum anderen sei sie durch einen „Antiamerikanismus“ bedingt, der um vieles älter sei als das gegenwärtige Phänomen Trump.
Die unter deutschen Eliten, auch innerhalb der EKD, verbreitete Fixierung auf die USA findet Gnauck durch Margot Käßmann bestätigt. In einem 2017 in „Chrismos“ publizierten Text sieht sie ihre Kirche als Motor einer „Versöhnung mit Russland“. Gefährdet sei das Verhältnis zu Russland durch die Politik Amerikas sowie durch die NATO. Unbeachtet bleibt bei ihr die Erfahrung der Ostvölker, die unter der Sowjetunion gelitten haben. „Die Einstellung der Autorin zu ihnen - so Gnauck – ist determiniert durch ihre Einstellung zu Russland, und ihre Einstellung zu Russland ist determiniert durch ihre Einstellung zu den USA.“
Am Ende seines Beitrags fordert Gnauck die EKD auf, ihre Einstellung zu den Staaten und Nationen Osteuropas zu überprüfen und sich nicht durch ihre russischen wie amerikanischen) Komplexe leiten zu lassen.
Gerhard Gnauck, Protestancka Ostpolitik, Tygodnik Powszechny v. 17. 09. 2017, S. 41f.