Neubesinnung auf den Priester und Philosophen Józef Tischner
Vor einiger Zeit erhielt jeder Bezieher der Krakauer katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ zusätzlich eine knapp fünfzigseitige Broschüre. Auf dem Cover ist der im Jahr 2000 verstorbene Priester und Philosoph Józef Tischner zu sehen, dessen Name in Großbuschstaben den oberen Rand des Titelblatts füllt. In kleinerer Schrift wird am unteren Rand auf Meister Eckhart und seine Mystik als Inhalt des Büchleins verwiesen.
Der Text ist bereits 1997 als eine der letzten Veröffentlichungen von Józef Tischner vor Ausbruch seiner unheilbaren Krankheit erschienen, der er drei Jahre später erlag. Dass er über 20 Jahre nach seiner Ersterscheinung neu verlegt wurde, hat – wie es in der Einleitung heißt – seinen Grund darin, dass Tischner in der Mystik von Meister Eckhart, mit der er sich intensiv befasst hatte, „ein Antidotum gegen die sich vor unseren Augen entwickelnde kranke Vorstellung sah, welche eine bestimmte Form von Religion in sich birgt.“ Dieses Antidotum ist angesichts der gegenwärtigen Situation in Polen mehr denn je erforderlich.
Tischners Religions- und Kirchenkritik der 1990er Jahre
Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, ist ein Rückblick auf Tischners Religions- und Kirchenkritik notwendig. Bereits in der Endphase des Kommunismus in Polen mahnte er zur Zurückhaltung, wo andere dem Triumphalismus erlagen und ein politisches Engagement der Kirche forderten. Er fürchtet, die Kirche könne in Wahrung ihrer nationalen Stellvertreterrolle falsche Hoffnungen wecken, als wäre sie in der Lage, die weltlichen Probleme zu lösen, zu deren Lösung sich die Partei als unfähig erwiesen hatte, wohl wissend, dass jede Vermischung der politischen mit der religiösen Ordnung auf Kosten der letzteren geht. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein Referat, das Tischner 1989, Monate vor den Juniwahlen, welche die politische Wende einleiteten, auf der Sitzung der Pastoralkommission des polnischen Episkopats gehalten hat. Seine These: Während die Kirche gegen den Totalitarismus um ihre Freiheit, um Menschenrechte und die nationale Souveränität kämpfte, ist unmerklich der Bazillus des Totalitarismus in sie selbst eingedrungen. Dass Tischner mit dieser Einschätzung Recht behielt, sollte sich in den folgenden Jahren zeigen, in denen Polens katholische Kirche den Versuch unternahm, die politische Ordnung ihren Wertvorstellung zu unterwerfen und sich damit den Vorwurf einhandelte, in Polen eine Theokratie einführen zu wollen. Auch Tischner beteiligte sich an dieser Auseinandersetzung. Am 10. Januar 1993 veröffentlichte er unter der provokanten Frage „Hat die Kirche uns belogen?" im „Tygodnik Powszechny" einen Beitrag, in dem er eine Klärung des Verhältnisses von Kirche und Demokratie einforderte. Zwar habe sich die Kirche ausdrücklich zur Demokratie bekannt, doch sei sie in den Verdacht geraten, die demokratische Ordnung nicht respektieren zu wollen. Wörtlich fragt Tischner: „Will die Kirche Macht oder will sie diese nicht? Will sie einen klerikalen Staat, einen Bekenntnisstaat?" Eine Antwort gibt er nicht. Ihm geht es um die Berechtigung der Fragestellung, die nicht durch aggressive Reaktionen abgewehrt werden sollte, sondern Anlass zu selbstkritischer Besinnung biete.
In einem weiteren Beitrag aus dem Jahr 1993 unter dem Titel „Windstöße einer politischen Religion“ analysiert Tischner den Zusammenhang zwischen politischer Religion und Totalitarismus. Die Versuchung, in welche die Kirche nach dem politischen Umschwung geraten war, charakterisiert er mit einem Schuss bitterer Ironie wie folgt: „Wenn früher die Götzen die Stelle Gottes einnahmen, dann lasst uns doch heute versuchen, umzuwandeln, was umgewandelt wurde. Schmeißen wir die Götzen hinaus, um Platz für Gott zu schaffen. Nach einem solchen Wechsel wird alles anders werden. Die heidnische Politik wird zu einer christlichen, und auf den Trümmern des heidnischen Staates entsteht ein christlicher. Gebietet nicht die heutige Pflicht den Gläubigen, einen solchen Wandel herbeizuführen?"
Unter „politischer Religion" verseht Tischner eine Vermischung der Ebenen von Religion und Politik, wodurch es zu einer Politisierung der Religion komme. Dies sei dort der Fall, wo der politische Gegner mit Hilfe religiöser Inhalte definiert wird, wo man unter Berufung auf Gott glaubt, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, wo man den politischen Gegner in ihrem Namen diskriminiert, und wo das Evangelium als Quelle eines politischen Kampfes benutzt wird. Wo solches Denken Fuß fasse, sei im politischen Raum kein Dialog, keine Kooperation und kein für den gesellschaftlichen Frieden so notwendiger Kompromiss mehr möglich. Damit aber würden die Fundamente der Demokratie unterminiert, und es komme zu einem religiös verbrämten Totalitarismus. Zudem werde der politische Kampf im Namen der absoluten Wahrheit nicht allein vor den Toren der Kirche ausgetragen. Er finde auch in ihrem Inneren statt, verfeinde Christen mit Christen. Wer sich der Politisierung des Christentums widersetze, werde behandelt, als wäre er ein Feind des „wahren Glaubens".
Gibt es eine bessere Analyse des von der Kaczyński-Partei betriebenen, die Fundamente der Demokratie untergrabenen „guten Wandels“ als Tischners Charakterisierung der politischen Religion vor einem Vierteljahrhundert?
Neubesinnung auf Tischners Religionskritik
Auf dem Hintergrund dieser Vorgeschichte wird deutlich, was die Redaktion des „Tygodnik Powszechny“ offenbar bewogen hat, mit ihrer Broschüre einen Text neu zugänglich zu machen, der vor zwei Jahrzehnten verfasst wurde. Tischner entfaltet in ihr im Gespräch mit dem Redakteur Janusz Poniewierski seine Gedanken zur Mystik von Meister Eckhart. Es geht um Betrachtungen zur inneren Umkehr, zu einem freien Herzen, zu den drei göttlichen Tugenden. Doch dies immer unter dem Aspekt einer kritischen Auseinandersetzung mit einem spezifisch polnischen Religionsverständnis. So heißt es einleitend: „Der bezeichnende Charakter der religiösen Situation, in der wir uns befinden, ist das Siechtum – wenn nicht gar das Verschwinden – einer religiösen Sprache, begleitet von einer Verwässerung oder einem gänzlichen Verlust religiöser Erfahrung. Um dem zu begegnen, bedarf es meiner Meinung nach der Rückkehr zu den Quellen religiöser Sprache und Erfahrung, das heißt, sie in möglichst reiner Form, wie dies bei den Mystikern der Fall ist, zu erfassen.“ (S. 4)
Grundvoraussetzung wahrer Religion ist nach Meiser Eckhart ihre innere Verankerung in einem freien Herzen. Ohne innere Freiheit keine Religion! Doch die innere Freiheit des Herzens ist durch äußere Macht bedroht: „Wir müssen gegenüber dem Problem der Macht Distanz wahren. Denn sie verlangt nach einem Handeln, das das innere Leben des gläubigen Menschen wie auch das Leben der Kirche zerstört. […] Wer immer die Religion zu dem Zweck ‚ausübt‘, um die Macht zu mehren, und sei es die Macht Gottes über die Welt, befindet sich im Irrtum. […] Der Wunsch, Gottes Macht über die Welt auszuweiten, ist eine ernsthafte Krankheit heutiger Religiosität.“ (S. 19f.)
Im diesem Zusammenhang befasst sich Tischner auch mit dem Gebrauch des Wortes „Gott“. Es begegne selbst in politischen Diskussionen, und im Namen Gottes werde Macht ausgeübt.
So enthalte nicht nur die Konstitution vom 3. Mai 1791 eine invocatio Dei, auch die drei Monarchien, die ein Jahr später mit der Aufteilung Polens begannen, hätten dies im Namen Gottes getan.
Tischner verweist auf die gefährliche Neigung, sich Gott „nach eigenem Bild und Gleichnis“ vorzustellen, was dazu führe, in Wahrheit nicht zu Gott, „sondern zu sich selbst zu beten.“ In diesem Zusammenhang spricht er neben der negativen Theologie auch dem Atheismus eine reinigende Funktion zu und erinnert daran, „dass Jesus gekreuzigt wurde, weil religiöse Menschen dies wollten und nicht Atheisten.“ (S. 43) Und was den Umgang mit dem Wort „Gott“ betrifft, nimmt er die Juden zum Vorbild, die „ein ausgeprägtes Gefühl dafür besitzen, dass die Einführung des göttlichen Namens in einen menschlichen Sprachkontext sehr gefährlich ist.“ (S. 44) Entsprechend skeptisch zeigt er sich gegenüber dem Bestreben, in öffentlichen Institutionen das Kreuz anzubringen, gleichsam zu ihrer göttlichen Bestätigung und nicht für die Menschen, welche die Ämter aufsuchen.
Die Nähe der polnischen Kirche zur politischen Macht
Wie aktuell eine Neubesinnung auf Tischners Religions- und Kirchenkritik ist, zeigt die offensichtliche Nähe der Kirche zur regierenden Kaczyński-Partei PiS, die mit „Recht und Gerechtigkeit“ ein biblisches Begriffspaar zu ihrem Namen wählte, mit ihrer Politik eines angeblich „guten Wandels“ aber Rechtsbruch auf Rechtsbruch begeht. An Zitaten, die diese Nähe belegen, ist kein Mangel. So spiegeln geradezu euphorische Aussagen von Czesław Stanisław Bartnik, emeritierter Theologieprofessor und Begründer einer spezifisch polnischen „Theologie der Nation“, die Stimmung, die in weiten Teilen der Kirche nach den von PiS im Herbst 2015 mit absoluter Mehrheit gewonnenen Parlamentswahlen herrschte: „Und mit einem Male erscheint hier ein Polen wie der Erzengel Michael mit Gott im Herzen, ein Verteidiger der Kirche, das Schwert gegen Satan gerichtet. […] Es erwacht eine von Gott und dem Christentum inspirierte Kultur, der geniale polnische Geist gewinnt an Leben, ein Bewusstsein von Würde und Ehre erfüllt die Nation, die Freude der Gotteskindschaft verleiht den Menschen Flügel der Hoffnung zu einem zeitlichen und ewigen Leben. […] Der Präsident und der Präses der siegreichen Partei gehen zur heiligen Kommunion. […] Frau Ministerpräsidentin ist wie die wahre Polnische Mutter aus polnischen Epen.“ Und unter Hinweis auf all jene, welche den Regierungswechsel eher als Schock empfanden, fügte er hinzu: „Kaum zu glauben, dass dieses allerhöchste Gut von Menschen bösen Willens am allermeisten gehasst werden kann.“
In gleicher Weise, wenngleich im Ton nüchterner, bekundete der Krakauer Metropolit Marek Jędraszewski in der Osterausgabe der rechtskonservativen Wochenzeitschrift „Do Rzeczy“ seine Sympathie für die regierende Kaczyński-Partei: „Die letzten Monate und Wochen des vorhergehenden Parlaments und der Regierung waren mit vielen offenkundigen und deutlichen antichristlichen Initiativen verbunden.“ Damit erinnerte der Krakauer Erzbischof an die geradezu kulturkämpferische Auseinandersetzung der Kirche mit der von der liberalkonservativen „Bürgerplattform“ (PO) geführten Vorgängerregierung. Die Bischöfe machten damals die westeuropäisch orientierte Regierung für den auch in der polnischen Gesellschaft fortschreitenden Säkularisierungsprozess verantwortlich, den sie als eine ernste Gefährdung nationaler Identität sowie als eine Schwächung des kirchlichen Einflusses ansahen.
Zum Glück habe, so Erzbischof Marek Jędraszewski, „jene politische Formation – auch mit Hilfe der Kanzel – den Kampf verloren, so dass es heute eine derartige Situation nicht mehr gibt. Die Kirche braucht nicht mehr in eine geistige Auseinandersetzung einzutreten, wie zu Zeiten der PO-Regierung.“
Jesus Christus – König Polens?
In diesem Zusammenhang sei noch als Beleg für die von Tischner signalisierte Gefahr einer „politischen Religion“ auf zwei spezifisch polnische Vorkommnisse verwiesen – auf die am 19. November 2016 in Anwesenheit von Staatspräsident Andrzej Duda und Ministerpräsidentin Beata Szydło im Krakauer Sanktuarium Łagiewniki vollzogene Inthronisation Jesu Christi sowie auf die am 10. jeden Monats stattfindenden Manifestationen im Gedenken an den Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010.
Mit der Inthronisation gab der polnische Episkopat nach langem Zögern dem Begehren breiter Kreise rechtskatholischer Gruppierungen nach, Jesus Christus zum König auszurufen. Wenngleich der Weiheakt nicht ausdrücklich die Formel „Jesus Christus – König Polens“ enthält, so ist doch die Gefahr seiner Politisierung nicht von der Hand zu weisen. Sie ließ denn auch nicht lange auf sich warten. So schrieb die rechtskonservative, nationalkatholische Publizistin und Sejmabgeordnete Ewa Polak-Pałkiewicz in der Zeitschrift „Plus Minus“: „Die gesellschaftliche Herrschaft Christi besitzt keine Realität ohne Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat, denn beide Subjekte existieren aus dem Willen Gottes und haben konkrete Aufgaben, die den Horizont der Diesseitigkeit transzendieren. [..] Wenn es Aufgabe der Kirche ist, den Staat zu unterstützen – auch die Wahrheit in der Politik zu verteidigen, denn die Wahrheit ist nicht in einen esoterischen Bereich eingeschlossen - , dann ist es auch Aufgabe des Staates, die Kirche zu unterstützen, aktiv zu verteidigen, einschließlich der Rechte der gläubigen Menschen.“ Und sie beendet ihre Ausführungen mit einem starken Fazit: „Wenn der Staat die Mission der Kirche unterstützt, gibt er Gott, was Gott gebührt. Die Inthronisation Christi in Polen ist geradezu die Erfüllung dieser Mission.“
Auch der Dominikaner Ludwik Wiśniewski nimmt in einem die Situation der Kirche analysierenden Beitrag auf Frau Ewa Polak-Pałiewicz Bezug und zitiert ihren in „Plus Minus“ fett gedruckten Satz: „Nicht ‚Demokratie und christliche Werte‘ sind heute der Garant einer dauerhaften Republik, sondern ihre Anerkennung der souveränen politischen Macht des einen Gottes der Heiligen Dreifaltigkeit.“ Und er zieht aus dieser Grundüberzeugung, mit der sich die polnische Regierung gleichsam als Vollstreckerin des göttlichen Willens versteht, eine dreifache Folgerung:
„Eine solche Regierung ist überzeugt, dass Gott auf ihrer Seite steht; undjeder, der sich ihr widersetzt, ist ein Feind Gottes und all dessen, was wahr, gut und schön ist.
Eine Regierung, welche den Staat auf dem Fundament Gottes errichtet, kann keine Fehler begehen; ihre Handlungen sind immer moralisch, während die Gegner unablässig in Amoralität und Nihilismus verfallen.
Mit den Gegnern einen Dialog zu führen, macht keinen Sinn. Mit Häretikern diskutiert man nicht, man bekehrt sie.“
Smolensk und kein Ende
Wenngleich der tragische Absturz der Präsidentenmaschine über dem Flughafen von Smolensk, bei dem alle 96 Insassen, zumeist hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, ums Leben kamen, bereits über sieben Jahre zurückliegt, kommt es vor dem Warschauer Präsidentenpalast und an anderen Orten am 10. eines jeden Monats zu Gedenkveranstaltungen. Sie beginnen für gewöhnlich mit einem Gottesdienst und einem anschließenden Demonstrationszug, der mit einer Kundgebung endet.
Doch schon lange geht es nicht mehr um ein Totengedenken. Nach dem Willen von Jarosław Kaczyński, dem Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten Lech Kaczyński, soll sich diese Katastrophe in die Tradition nationalen Martyriums einreihen und zugleich als Gründungsmythos der von ihm angestrebten IV. Republik dienen. Doch dazu reicht es nicht, dass es sich bei diesem Absturz um einen tragischen Unfall handelt, dazu müssen vielmehr böse Mächte im Spiel gewesen sein, ein Komplott der Vorgängerregierung mit Moskau. Gegen alle unabhängigen Untersuchungsergebnisse ist denn auch diese Version das jeweilige Thema der monatlichen Manifestationen einer gebetsmühlenartigen Wiederholung von Verschwörungstheorie und Beschwörung, dass diese „Wahrheit“ bald ans Licht kommen wird. Und all jene, die diese „Wahrheit“ in Zweifel ziehen, werden als Feinde Polens tituliert. Was ursprünglich als ein gemeinsames nationales Gedenken gedacht war, bewirkt so eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, über deren Abgrund eine nationale Verständigung nicht mehr als möglich erscheint.
Es wäre längst an der Zeit, dass der Episkopat gegen diese Form einer „politischen Religion“ seine Stimme erheben würde. Doch die Bischöfe schweigen oder unterstützen sogar diese fragwürdigen Gedenkfeiern. Als einsame Stimme in der Wüste ist bislang einzig die eindeutige Klarstellung des emeritierten Bischofs Tadeusz Pieronek, des früheren Generalsekretärs der Bischofskonferenz, bekannt. In einem der „Rzeczpospolita“ erteilten Interview äußerte er sich wie folgt: „Die Märsche und Aussagen vor dem Präsidentenpalast besitzen keinen religiösen Charakter. Diese monatlichen Veranstaltungen sind reine Politik. Es geht nicht um die Toten. Es geht um Politik. Was man dort während der Auftritte zu hören bekommt, das lässt einen die Haare zu Berge stehen.“
Bindung der Religion an die Erfahrung des Guten
Tischner sieht den „Schlüssel zum Verständnis von Meister Eckhart in der Erfahrung des Guten.“ (S. 6) Es sei seine tiefe Überzeugung, „dass der Mensch Religion nicht auf ehrliche Weise erlebt, wenn er nicht dank ihrer besser wird. Wenn die Religion nicht von Missgunst und Hass befreit, dann heißt das, dass sie falsch ist. Mehr noch: Die religiösen Wege eines Menschen sind auch dann trügerisch, wenn in ihm kein Friede herrscht, wenn er in einer übertriebenen Angst vor dem Schicksal der Welt lebt.“ (S. 6)
Die von Tischner geforderte Rückkehr zur Quelle der Religion besteht in eben dieser Bindung an das Gute. Für die Handlungen des Menschen bedeutet dies, dass sie nur dann in Wahrheit gut sind, wenn sie der inneren Güte des Menschen entspringen.
Diese Offenheit des guten Menschen für das Gute kennt keine Grenzen. Auch hier kommt nach Meister Eckhart die Freiheit ins Spiel, die Freiheit des Herzens, wie sie Jesus besaß, der am Sabbat heilte, obwohl er damit Ärgernis erregte. Diesen Frommen sei nach Meister Eckhart statt eines freien, ein „gefesseltes Herz“ eigen. Dies sieht Tischner dort, wo Katholiken außerstande sind, „das Gute, das außerhalb ihrer Kirche geschieht, gut zu finden. Sie fürchten, die Kirche zu erniedrigen, wenn sie das Gute außerhalb der Kirche gut heißen. […] Diese innere Fesselung verschließt den Menschen gegenüber dem Guten.“ (S.17) Tischner sieht zudem bei gewissen Katholiken eines „gefesselten Herzens“ die Neigung, gutes Handeln außerhalb der Kirche sogar schlecht zu reden. „Wenn ein gewisser Professor in Warschau eine Universität gründen will, dann sehen manche Katholiken nicht die neue Universität und die Früchte, die sie Polen, ja sogar Ostmitteleuropa einbringen kann, sondern sie suchen nach schlechten Intentionen, nach Ehrgeiz und ähnlichem. Wenn die Batory-Stiftung an Menschen der Wissenschaft Stipendien vergibt, dann sagt man, Ziel ist … die Vernichtung polnischer Wissenschaft.“ (S. 39/40)
Mit diesen Aussagen hat Tischner „Radio Maryja“ im Blick: „Schalte ‚die katholische Stimme in unserem Haus‘ ein, dann erfährst du, dass fast alle, die du schätzt und für gute Menschen erachtest, Judenkommunisten und Freimaurer sind. Aber lies dann Meister Eckhart und du siehst, wie sehr sich diese beiden Typen von Religiosität unterscheiden. Was dir die ‚katholische Stimme‘ vorschlägt, das ist im Grunde eine areligiöse Sichtweise.“ (S. 40) Diese Worte gewinnen noch erheblich an Gewicht, wenn man bedenkt, dass Pater Tadeusz Rydzyk seit dem Tag, an dem sie gesprochen wurden, ein ganzes Medienimperium aufgebaut und damit seinen Einfluss um ein Vielfaches vergrößert hat. Und wie groß dieser Einfluss ist, das zeigt ein mit „Barbara“ unterschriebener Leserbrief an den „Tygodnik Powszechny“. „In meiner Kleinstadt gibt es sechs Pfarreien. Fünf sind lebendige, die Regierung unterstützende Zentren, die unter dem starken Einfluss von Radio Maryja stehen; die sechste ist neutral. […] Im Beichtstuhl befragt ein Priester die Beichtenden, welchen Fernsehsender sie einschalten und welche Zeitungen sie kaufen. Er verhängt für das unabhängige Fernsehen und die ‚Gazeta Wyborzca‘ eine Buße und erteilt eine ernste Mahnung im Falle des ‚Tygodnik Powszechny‘. […] Nach anderen Medien greift ein frommes Pfarrkind nicht; denn das wäre sündhaft, deutsch, feindlich, verlogen, links…“ Wer mit der von Pater Rydzyks Medienimperium verbreiteten nationalkatholischen Auffassung nicht übereinstimmt, wer gar an Demonstrationen gegen die Rechtsbrüche der Regierung teilnimmt, der muss damit rechnen, vom Ambo herab zurecht gewiesen und isoliert zu werden: „Ein Name fällt nicht, doch die Pfarrangehörigen wissen, um wen es sich handelt. […] Die Stimme der Kirche ist, zumindest bei uns in der Provinz, die Stimme des Thorner Rundfunks, ohne die verderblichen Einflüsse des Vatikans, der zu einer Haltung des Evangeliums aufruft, zu Offenheit, Mut, Dialog.“
Dieser Brief einer Leserin ist eine sehr eindrückliche Beschreibung „gefesselter Herzen“ - die der Priester und die der ihnen vertrauenden Gläubigen. Es dürfte sehr schwierig sein, sich dieser Fesseln zu entledigen, zumal der Wille dazu zu fehlen scheint. Und doch hängt - zumindest auf lange Sicht – die Zukunft der Kirche in Polen davon ab, ob sie fähig ist, sich dieser Fesseln zu entledigen und die als Voraussetzung wahren Glauben und wahrer Religiosität erforderliche Freiheit der Herzen zu einem umfassenden pastoralen Programm zu machen. Ein erster Schritt auf diesem Weg wäre es, sich aus der selbstgewählten Gefangenschaft durch die Kaczyński-Partei und ihre Regierung zu befreien, die sich – wie in der Flüchtlingsfrage – dem Anspruch des Evangeliums widersetzen und den katholischen Glauben zugleich für ihre Zwecke politisch instrumentalisieren. Anzeichen für eine Wende in den Beziehungen zwischen Kirche und PiS gibt es inzwischen. So haben sich sechs Bischöfe, die früher oder aktuell zur polnischen Kontaktgruppe für die Beziehung zur deutschen Bischofskonferenz zählen, angesichts der zunehmenden Deutschfeindlichkeit am 08. September zu Wort gemeldet und eindringlich davor gewarnt, die unter Mühen gewonnene Versöhnung durch „unüberlegte Entscheidungen“ und „leichtfertiges Reden“ aufs Spiel zu setzen. Auch wenn in diesem Zusammenhang die Ankündigung der polnischen Regierung, gegenüber der Bundesrepublik Reparationsforderungen in Billionenhöhe einzufordern, unerwähnt bleibt, so dürfte eben diese Forderung doch den Ausschlag für ihren Appell gegeben haben. Es gehört schließlich wenig Phantasie dazu, sich die negativen Folgen für die deutsch-polnischen Beziehungen auszumalen, sollte die polnische Regierung ihre Ankündigung wahr machen.
Angesichts der drohenden Gefahr, dass die vor über 50 Jahren in dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder enthaltenden Worte “wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ durch einen Streit um Forderungen faktisch außer Kraft gesetzt werden und den zahlreichen auf eine „Überwindung der Folgen der tragischen und leidvollen Ereignisse“ der Vergangenheit zielenden deutschen „Gesten und Worte“ keinerlei Bedeutung beigemessen werden, erscheint das Votum der sechs Bischöfe, so begrüßenswert es auch ist, zu schwach. Hier ist die Polnische Bischofskonferenz im Ganzen gefordert, sich mit ihrer moralischen Autorität eindeutig der für das deutsch-polnische Verhältnis wie für das eigene Land und die Einheit Europas verhängnisvollen Politik ihrer Regierung entgegenzustellen.
Erstveröffentlichung: imprimatur 4/2017
Mariusz Sepiolo/Artur Sporniak, Prorok Narodu (Prophet der Nation), Tygodnik Powszechny v. 13. 11. 2016, S. 9.
Rafał Zakrzewski, Pan Bóg nie chce mieć władzy nad światem, a biskupi chcą (Gott will keine Herrschaft über die Welt, die Bischöfe wollen sie schon) Gazeta Wyborca v. 15. 04. 2017.
Ludwik Wiśniewski, Do jakiej Polski przyjedzie Papież (In welches Polen kommt der Papst), Tygodnik Powszechny v. 10. 07. 2016.
Leserbrief Tygodnik Powszechny v. 27. 08. 2017