Polnische Reparationsforderungen über sieben Jahrzehnte nach Kriegsende
Seit die Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2015 mit absoluter Mehrheit die Wahlen gewonnen hat und allein regiert, sind wir an so manche Überraschung ihrer auf ein absolutistisches System zielenden Politik gewöhnt. So verwundert es einen auch nicht mehr sonderlich, dass die Regierung nunmehr Reparationsforderungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erhebt, und dies über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Doch neu ist diese Forderung nicht. Bereits im Herbst 2004 führte die Forderung nach Entschädigung zu einer Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Doch damals ging der Konflikt von deutscher Seite aus, und zwar durch die Initiative der Landsmannschaft „Ostpreußen“. Mit Gründung der „Preußischen Treuhand“ hatte sie Vermögensansprüche aus den ehemals deutschen Ostgebieten erhoben. Als sie ihre Absicht bekundete, diese vor dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte geltend zu machen, verabschiedete der polnische Sejm am 10. September 2004 nach einer äußerst emotional geführten Debatte eine Resolution, mit der die von den Postkommunisten geführte Regierung aufgefordert wurde, mit der Bundesregierung über eine Entschädigung der im Zweiten Weltkrieg erlittenen Schäden zu verhandeln. Die vom national-konservativen Lager als Reaktion auf die „Preußische Treuhand“ ins Leben gerufene „Polnische Treuhand“ unterstützte propagandistisch die Reparationsforderungen und sprach sich sogar für eine Neuverhandlung des 1991 abgeschlossenen deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages aus.
Die Situation beruhigte sich wieder, als ein von der polnischen Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Ergebnis gelangte, dass es für derlei Forderungen keine Rechtsgrundlage gebe und der Europäische Gerichtshof die Klage der „Preußischen Treuhand“ als unbegründet abgewiesen hatte.
Doch nun scheint es der PiS-Regierung mit ihren Forderungen ernst zu sein, wobei sich freilich die Frage stellt, was sie letztlich mit ihrer Initiative bezweckt. Schließlich dürfte es auch ihr klar sein, dass ihren Forderungen aufgrund der Rechtslage nicht entsprochen wird. Die Vermutung liegt nahe, dass sich PiS selbst mit der Ablehnung ihrer Forderungen innenpolitisch einiges verspricht. Doch dazu im Einzelnen später.
Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des polnischen Parlaments
Am 11. August 2017 hatte der dem parlamentarischen Club von „Recht und Gerechtigkeit“ angehörende Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk ein Gutachten beantragt, das die rechtlichen Möglichkeiten für Reparationsforderungen gegenüber der Bundesrepublik prüfen und feststellen sollte. Begründet hatte er seinen Antrag u. a. mit dem Hinweis darauf, dass „wir Polen über viele Jahre mit den Phrasen einer polnisch-deutschen Versöhnung betrogen wurden.“ Man habe gegen Polen „eine rücksichtslose und herzlose Politik der Vermeidung von Entschädigungen“ geführt. Nun sei es endlich an der Zeit, das in der Vergangenheit Versäumte nachzuholen.
Bereits am 05. September legte der wissenschaftliche Dienst des Sejm das Gutachten vor. Das 40 Seiten umfassende Dokument beginnt mit 18 Thesen: Die im Zweiten Weltkrieg erlittenen Verluste an Menschen und Gütern seien – im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerung – die höchsten aller europäischen Staaten. (1) Daher gebühre Polen seitens der Bundesrepublik Deutschland eine entsprechende Entschädigung, wobei die Feststellung, die Forderung sei verjährt, unbegründet sei. (2) Aufgrund der IV. Haager Konvention (1907), der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz sowie der an andere Staaten gezahlten Entschädigungen sei Deutschland verpflichtet, die im Zweiten Weltkrieg in Polen angerichteten Schäden zu kompensieren. (3) Die geschätzten materiellen Verluste würden über 258 Milliarden Zł. beziehungsweise 48,8 Milliarden Dollar betragen, berechnet nach dem Kurs vom September 1939. (4) 6 Millionen polnische Bürger hätten durch Verbrechen und Terror ihr Leben verloren und fast 11 Millionen seien gesundheitlich ernstlich geschädigt worden, wobei das Gutachten für diese Verluste keine Summe benennet. (5) Diese Forderungen werden sodann unter Hinweis auf die IV. Haager Konvention, die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, der Londoner Konferenz vom Januar 1947 sowie in Analogie zu den deutsch-polnischen Vereinbarungen nach Ende des Ersten Weltkriegs bekräftigt. (6 – 11) Die polnische Verzichtserklärung vom 23. September 1953 sei aus zwei Gründen unwirksam. Erstens sei nach der Verfassung für diese Erklärung der Staatsrat und nicht der Ministerrat zuständig gewesen; zweitens sei die Erklärung unter sowjetischen Druck erfolgt. (12) Die Regierung der VR Polen habe zahlreiche Versuche zur Regelung deutscher Entschädigungen unternommen, doch seien diese aufgrund der damals bestehenden Ost-West-Teilung erfolglos geblieben. (13) Das internationale Recht kenne keine Verjährung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (14) Der Zwei-plus-Vier-Vertrag (12. September 1990) habe sich mit Reparationsforderungen nicht befasst, so dass diese weiterhin bestehen würden. (15) Die deutschen Zahlungen aus dem Fonds der „Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ hätten pro Kopf lediglich 689, 97 Zł. betragen; dabei seien die meisten der fast 11 Millionen Betroffenen bereits verstorben. (15 – 17) Die Tatsache, dass Staaten, die weit weniger Verluste als Polen erlitten haben, dennoch weit höhere Zahlungen erhielten, rechtfertige zusätzlich die polnischen Forderungen. (18)
Der sich an diese Thesen anschließende umfangreiche Teil des Gutachtens dient im Wesentlichen einer historischen und juristischen Begründung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll.
Die grundsätzliche Berechtigung polnischer Reparationsforderungen
Angesichts des unermesslichen Leidens, der enormen materiellen Schäden und der schier unfassbaren Verluste an Menschenleben nach dem deutschen Überfall auf Polen und während der langjährigen Besatzungszeit steht die grundsätzliche Berechtigung polnischer Reparationsforderungen außer Frage. Diese Schreckenszeit ist zudem nicht nur Teil der polnischen, sondern auch der deutschen Erinnerungskultur. An Aufarbeitung deutscher Historiker der in Polen und an Polen begangenen Verbrechen ist kein Mangel. Die Bundesrepublik steht als Nachfolgestaat des Dritten Reiches zu ihrer historischen Verantwortung und hat dies auf vielfache Weise zum Ausdruck gebracht. Warum also ist die nach Auffassung der PiS-Regierung ungelöste Frage der Reparationsforderung ein solches Problem?
Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages
Eine erste Antwort bietet eine Erklärung des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages vom 28. August 2017, also noch vor Veröffentlichung des polnischen Gutachtens. Es sind im Wesentlichen fünf juristische Argumente, die dieser 27 Seiten umfassende Text zur Zurückweisung der polnischen Ansprüche anführt: 1. sollten aufgrund des Potsdamer Abkommens die polnischen Ansprüche in Zusammenhang mit den der UdSSR zukommenden Leistungen aus der sowjetischen Besatzungszone sowie zusätzlich aus den Westzonen befriedigt werden; 2. habe die polnische Regierung am 23. August 1953 auf Reparationsforderungen verzichtet und diesen Verzicht – wie das Gutachten wörtlich aus der polnischen Erklärung zitiert – „mit Rücksicht darauf, dass Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist und dass die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse einer friedlichen Entwicklung liegt“; 3. habe der polnische Außenminister Józef Winiewicz in Zusammenhang mit dem Warschauer Vertrag (1970) den Verzicht auf Ansprüche bekräftigt; 4. seien alle noch offenen Fragen in der Beziehung Polens zur Bundesrepublik im Zwei-plus-vier-Vertrag endgültig geregelt worden; 5. enthalte der am 17. Juni 1991 abgeschlossene deutsch-polnische Vertrag „über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ keine Ausführungen zu Reparationsforderungen, und dies aus gutem Grund, weil dann die Frage der ehemals deutschen Ostgebiete aufgeworfen wäre, woran beide Seite kein Interesse gehabt hatten.
Besonders das erste Argument verdient eine nähere Betrachtung. Die Geschichte der Reparationsforderungen zeigt, dass diese jeweils nach Ende eines Krieges dem Besiegten durch den Sieger auferlegt werden. So war es auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der Potsdamer Konferenz einigten sich die drei Siegermächte Großbritannien, USA und UdSSR auf folgenden Modus: Jeder von ihnen solle seine Reparationsforderungen aus ihrer jeweiligen Besatzungszone befriedigen. Wörtlich heißt es in dem am 2. August 1945 vereinbarten Abkommen unter Absatz IV „Reparationen aus Deutschland“: „Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnahme aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an Reparationen befriedigen.“
Am 16. August 1945 verständigten sich beide Seiten über die Abtretung der Ansprüche der UdSSR an Polen bezüglich der unter polnische Verwaltung gestellten Oder-Neiße-Gebiete. Im Gegenzug sollte Polen, über mehrere Jahre verteilt, 12 Millionen Tonnen „deutscher Kohle“ aus Oberschlesien an die UdSSR liefern. Zudem verpflichtete sich die Sowjetunion, 15% ihrer Reparationsansprüche aus ihrer Besatzungszone an Polen abzutreten.
Am 15. August 1953 teilte die Sowjetunion den Westmächten mit, Deutschland solle ab dem 1. Januar 1954 von Reparationsleistungen gänzlich befreit werden. Am 22. August 1953 unterzeichneten die Außenminister der UdSSR und der DDR, Molotow und Grotewohl, ein Protokoll zur Einstellung von Reparationsleistungen aus der DDR gegen Jahresende.
Am 23. August 1953 erklärte die Regierung der VR Polen: „Mit Rücksicht darauf, daß Deutschland seinen Verpflichtungen in bedeutendem Maße nachgekommen ist und daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse seiner friedlichen Entwicklung liegt, hat die Regierung der VR Polen den Beschluss gefasst, mit Wirkung des 1. Januars 1954 auf die Zahlungen von Reparationen an Polen zu verzichten und damit einen weiteren Beitrag zur Lösung der Frage im Geiste der Demokratie und des Friedens in Übereinstimmung mit den Interessen des polnischen Volkes und aller friedliebenden Völker zu leisten.“
Diese Verzichtserklärung bezieht sich nach deutscher Auffassung nicht nur auf die DDR, sondern auf Deutschland als Ganzes. Sie kann nach geltendem Völkerrecht nicht widerrufen werden.
Die Rechtsposition der polnischen Regierungen nach 1989
Die Rechtsposition des Verzichts auf Reparationen wurde von allen Vorgängerregierungen von PiS geteilt. Als Beispiel sei auf die mit dem Außenminister abgestimmten Aussagen der Unterstaatssekretärin Grażyna Bernatowicz vom 2. Juli 2012 verwiesen. Es handelt sich um die Antwort auf die vom Abgeordneten Jarosław Gowin am 22. Juni 2012 eingebrachte Interpellation Nr. 5933 bezüglich deutscher Entschädigungen für Personen, die als Kleinkinder Opfer deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg geworden waren.
Der Antworttext entspricht in seinem ersten Teil exakt der Argumentation des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages – ausgehend vom Potsdamer Abkommen über die Erfüllung polnischer Reparationsforderungen im Rahmen der Ansprüche der UdSSR bis zu den Verzichtserklärungen der Sowjetunion und der VR Polen. Zudem wird in diesem Dokument ausdrücklich darauf verwiesen, „dass aufgrund des Potsdamer Abkommens im Rahmen der Kriegsentschädigungen Polen die ehemaligen deutschen Ostgebiete erhielt.“ Auch habe der Regierungsvertreter der VR Polen am 23. September 1953 auf der VIII. Vollversammlung der Vereinten Nationen eindeutig die Tatsache des Verzichts auf Reparationen durch Deutschland an Polen bestätigt.“ Dieser Verzicht sei nach internationalem Recht bis heute gültig. Es fehlt in diesem Papier auch nicht der Hinweis darauf, „dass Józef Winiewicz, Vizeminister für auswärtige Angelegenheiten der VR Polen, während der Verhandlungen über den Normalisierungsvertrag mit der Bundesrepublik im November 1970 den Reparationsverzicht bekräftigte.“ Zum Abschluss dieses ersten Teils wird die Aussage des polnischen Ministerrates vom 19. November 2004 zitiert: „Die Erklärung vom 23. August 1953 wurde in Übereinstimmung mit der damaligen verfassungsmäßigen Ordnung getroffen, und ein eventueller Druck seitens der UdSSR kann nicht als Androhung von Gewalt im Sinne der Verletzung internationaler Rechtsprinzipien, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen enthalten sind, verstanden werden.“
Der zweite Teil des Dokuments beginnt mit dem Vermerk, dass die Frage „individueller Entschädigungen polnischer Kriegsopfer wiederholt Thema deutsch-polnischer Gespräche war.“ Die Ergebnisse dieser Gespräche und die Zahlungen der Bundesrepublik werden im Einzelnen aufgelistet. Im Jahr 2000 sei beiderseits vereinbart worden, dass es sich bei den 10 Milliarden DM, die der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Verfügung gestellt wurden, „sowohl um die Obergrenze als auch um die letzte zur Auszahlung kommende Quote handelt.“
Diese Rechtsposition wird auch nicht durch ein verloren geglaubtes Dokument der UNO aus dem Jahr 1969 in Frage gestellt, indem angeblich die polnischen Reparationsansprüche bekräftigt wurden. Mit einem gewissen Triumph konnte nun der PiS-Abgeordnete Mularczyk im Sejm die Wiederentdeckung des Dokuments präsentieren. Doch es enthält entgegen seiner Behauptung keine Begründung polnischer Reparationsansprüche. Davon ist in dem Text nicht die Rede, wohl aber von Ansprüchen auf Entschädigung polnischer Kriegsopfer, und das ist ein erheblicher Unterschied. Es handle sich, wie Professor Kamiński erklärt, nach zivilem wie nach internationalem Recht um zwei verschiedene Typen von Rechtsansprüchen. Und den Anspruch auf Entschädigung habe Deutschland bereits erfüllt. Professor Ruchniewicz von der Breslauer Universität liefert dazu den Nachweis, indem er detailliert die Zahlungen der Bundesrepublik auflistet und auf eine Summe von 2,5 Milliarden Euro kommt.
Doch gegenüber derlei Fakten zeigt sich die polnische Regierung unbeeindruckt. Sie hielten Ministerpräsidentin Szydło nicht davon ab, im Sejm zu verkünden, Polen warte immer noch auf Entschädigungszahlungen von der Bundesrepublik. Und der in dieser Sache übereifrige Mularczyk ließ verlauten, das Verfassungsgericht solle prüfen, ob polnische Gerichte heutige Staaten für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen können. Angesichts der Kontrolle, die PiS faktisch über das Verfassungsgericht ausübt, ist von vorneherein klar, wie dessen Entscheidung ausfallen wird. Unabhängig davon haben bereits 100 Abgeordnete von PiS entsprechende Klagen bei polnischen Gerichten anhängig gemacht. Dabei berufen sie sich auf Griechenland und Italien. In beiden Ländern hatten in der Tat Gerichte Anträgen der Kläger auf Entschädigung für Dorfbewohner, die Massakern der Wehrmacht bzw. der Waffen-SS um Opfer gefallen waren, entsprochen.
Das Problem bei diesen Gerichtsverfahren bestand allerdings darin, dass Staaten Immunität genießen und nach internationalem Recht nicht in und von Fremdländern angeklagt werden können. Doch das Immunitätsgebot wurde in der Annahme, dass es bei Kriegsverbrechen keine Anwendung finden würde, von den Gerichten negiert. Aufgrund der gefällten Urteile glaubten sich Griechenland und Italien berechtigt, Eigentum der Bundesrepublik in ihren Ländern, etwa das Goetheinstitut, zu konfiszieren, um aus dem Erlös die Ansprüche der Kläger zu befriedigen. Zur Vollstreckung der Urteile kam es jedoch nicht. Die Bundesrepublik klagte vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen die Aufhebung des Immunitätsgebots und bekam 2012 Recht. Diese Entscheidung dürfte auch im Falle polnischer Entschädigungsansprüche nicht anders ausfallen. Aber die nationalkonservative Regierung hat dann mit ihrem Elektorat einen weiteren Grund, sich als Opfer zu fühlen und die ohnehin schon bedrohliche antideutsche Stimmung weiter zu verstärken.
Reparationsforderungen und die deutsch-polnische Versöhnung
Die von der PiS-Regierung verfolgte Strategie stellt letztlich die deutsch-polnische Versöhnung in Frage. So geht etwa Professor Stanisław Żerko vom Posener Westinstitut in einem der Gazeta Wyborzca am 13. 09. 2017 gewährten Interview auf den Zusammenhang von Reparationsforderungen und Versöhnung ein. Es gelte, die „Versöhnungsideologie“ zu entlarven. Die „ethische Rhetorik“ von Versöhnung unter Berufung auf Werte wie Solidarität, die das deutsch-polnische Verhältnis weitgehend bestimmt habe, sei reine Heuchelei. Dies zeige auch die nüchterne Zurückweisung der polnischen Forderung durch die deutsche Bundesregierung, die in diesem Fall jede ethische Erwägung vermissen lasse. Aus deutscher Sicht impliziere „Versöhnung“ den Verzicht auf Reparationen; ohne Verzicht auf Reparationen keine Versöhnung! Man solle daher aufhören, von Versöhnung zu reden. Es gehe im deutsch-polnischen Verhältnis nicht um Versöhnung, sondern um Normalität, und ein normales deutsch-polnisches Verhältnis verlange nach einer Regelung der Reparationsfrage.
Der von Prof. Żerko angesprochene Zusammenhang von Versöhnung und Reparationsforderungen bedarf einer Klärung, zumal die polnischen Bischöfe der deutsch-polnischen Kontaktgruppe angesichts der gegenwärtigen Situation die im deutsch-polnischen Verhältnis unter Mühen erreichte Versöhnung gefährdet sehen und die Bewahrung ihres unschätzbaren Wertes anmahnen. Daher ist daran zu erinnern, dass der Prozess deutsch-polnischer Versöhnung 1965 durch den polnischen Episkopat mit seiner Botschaft an ihre deutschen Amtsbrüder initiiert wurde. Zu jener Zeit gab es auf polnischer Seite weder eine Forderung nach Reparationen, noch stand diese überhaupt zur Debatte. Obwohl angesichts der in Polen und an Polen verübten Verbrechen und der enormen materiellen Schäden Forderungen nach Reparationen grundsätzlich als gerechtfertigt gelten können und zum Teil ja auch erfüllt wurden, gab es doch aufgrund der damaligen politischen Verhältnisse keine reale Möglichkeit, die deutsch-polnischen Beziehungen auf der Grundlage von Reparationen zu ordnen und zu normalisieren.
Am Anfang „normaler“ deutsch-polnischer Nachkriegsbeziehungen steht somit nicht die Reparationsfrage, sondern die Versöhnung. Es ist unbestreitbar, dass die Versöhnungsinitiative der polnischen Bischöfe gegen Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) entscheidend zur Neuordnung Europas beigetragen hat, sowie dazu, dass Polen Jahrzehnte später seine Souveränität zurückgewann und Aufnahme in die europäische Gemeinschaft fand. Die von Żerko, aber auch von Jarosław Kaczyński negativ titulierte „Versöhnungspolitik“ verstieß somit nicht gegen die Interessen Polens, sie entsprach ihnen, wie dies auch – mit Ausnahme von PiS – von den polnischen Regierungen nach 1989 gesehen und stets bekräftigt wurde. Man mag sich fragen, welchen Geschichtsverlauf die deutsch-polnischen und die europäischen Beziehungen genommen hätten, wären sie nicht durch Versöhnung, sondern durch die Reparationsfrage bestimmt gewesen. Welchen Sinn macht es, heute, über sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die Reparationsfrage aufzuwerfen, welche langfristigen Konsequenzen hat dies möglicherweise für das deutsch-polnische Verhältnis und die weitere Entwicklung Europas? Dass die deutsche Regierung die polnischen Reparationsforderungen kategorisch zurückweist, statt sich mit Polen auf einen schwer abschätzbaren Weg juristischer Auseinandersetzung zu begeben, dürfte entgegen der Meinung von Professor Żerko nicht nur im deutschen, sondern auch im polnischen sowie im europäischen Interesse liegen.
Die innenpolitische Bedeutung der Reparationsforderungen
Mit ihren Reparationsforderungen verfolgt die PiS-Regierung wohl vor allem innenpolitische Ziele. So beschuldigt sie die nun oppositionelle „Bürgerplattform“ (PO), es mit ihrer „Versöhnungspolitik“ während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung versäumt zu haben, Reparationen von der Bundesrepublik einzufordern. Sie unterstellt ihr nationalen Verrat und stempelt sie ab als eine die nationalen Interessen außer Acht lassende deutsche Agentur – und dies in der Hoffnung, sie in der Bevölkerung in Misskredit zu bringen, so dass sie für die nächsten Parlamentswahlen für die eigene Wiederwahl keine Gefahr darstellt.
Doch es geht PiS mit ihren Reparationsforderungen innenpolitisch nicht nur um eine Schwächung der Opposition. Es geht ihr vermutlich auch darum, Staatspräsident Andrzej Duda, der mit seinem Veto vorerst ihre Pläne einer radikalen Justizreform blockiert hat, zu disziplinieren. Duda hat sich von der gegenwärtigen antideutschen Kampagne auffallend zurückgehalten und sich auch bislang zu den Reparationsforderungen nicht geäußert. Doch er wird diese Haltung kaum durchhalten können. Mit dem Augenblick, in dem die PiS-Regierung der Bundesrepublik mit einer offiziellen Note ihre Reparationsforderungen unterbreitet, wird er um eine Stellungnahme nicht herumkommen. Verhält er sich weiterhin passiv oder verweigert er gar PiS seine Unterstützung, dann riskiert er den Konflikt mit Kaczyński und seiner Partei, die ihm einen Mangel an nationaler Entschlossenheit unterstellen und einer bereitwilligen Nachgiebigkeit gegenüber deutschen Interessen beschuldigen dürfte, womit seine Wiederwohl höchst unwahrscheinlich würde. Schwenkt er dagegen auf den Regierungskurs ein, dann würde dies eine bedeutende Einbuße seiner außenpolitischen Selbständigkeit bedeuten, und er wäre dann der Verlierer in dem ohnehin bestehenden Konflikt mit Außenminister Waszczykowski.
Erstveröffentlichung: imprimatur 4/2017