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Die deutsch-polnische Nachbarschaft – vielschichtig und wechselhaft

Am 22. Februar 1990 definierte der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski (1926 – 2010) unter dem Eindruck der Zwei-plus-vier-Gespräche, zu denen er hinzugezogen worden war, das deutsch-polnische Verhältnis als „Interessengemeinschaft“, ein Begriff, der sich für einige Jahre einer gewissen Konjunktur erfreute, bis er – leider - seine Bedeutung wieder einbüßte. Grund für diese positive Bezeichnung der nachbarlichen Beziehungen war die Tatsache, dass es in den Gesprächen der Vertreter der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten gelungen war, die bevorstehende Wiedervereinigung Deutschlands mit der völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze sowie mit dem beide Staaten umfassenden Prozess europäischer Integration zu verbinden.

Deutsch-polnischer Antagonismus der Vergangenheit

Nie zuvor hatte ein polnischer Politiker jemals von einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft gesprochen Die Vergangenheit war vielmehr über Jahrhunderte durch einen deutsch-polnischen Antagonismus bestimmt gewesen, wie dies an zwei tief im kollektiven Bewusstsein beider Nationen verankerten Stereotypen deutlich wird: Im „Drang nach Osten“, einem ursprünglich deutschen Begriffs, der den Kolonialanspruch auf Gebiete der von Heinrich von Treitschke (1834–1896) so genannten „halbbarbarischen“ Polen betont, sahen diese eine dem deutschen Wesen eigene aggressive Expansionspolitik, die sie in der Zeit der polnischen Teilungen erfahren hatten. Den letzten Beweis für die Gefährlichkeit dieses „Drangs“ lieferte Hitlers mit äußerster Brutalität geführte Eroberungs- und Vernichtungspolitik.

Der Begriff „polnische Wirtschaft“, das zweite Stereotyp, findet sich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts in den Briefen des Polenreisenden Johann Georg Forster (1754-1794), in denen er sich über den in Polen angetroffenen Schmutz und die Verschwendungssucht des Adels mokiert. Es fungiert als polnisches Gegenbild zum deutschen, Sauberkeit, Sparsamkeit und Effizienz betonenden Selbstbild. Zudem diente es in der Geschichte in Zusammenhang mit dem „Drang nach Osten“ als Legitimierung preußisch-deutscher Eroberungssucht, wie dies etwa aus Hitlers verhängnisvollen völkisch-rassistischer Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, nach der Eroberung Polens, hervorgeht: „Städte und Dörfer sind verwahrlost, die Straßen mit geringsten Ausnahmen verlottert und verkommen. Wer zum ersten Mal dieses Land zwei oder drei Wochen besichtigt, der erhält erst einen Begriff vom Sinn des Wortes ‚Polnische Wirtschaft‘.“ Der Posener Germanist Hubert Orłowski kommt in seiner umfangreichen Monographie zu dem Schluss, dieses Stereotyp besitze einen „antidialogischen Charakter“, der eine deutsch-polnische Verständigung verhindere.

Als Konsequenz ergibt sich die Notwendigkeit einer Überwindung beider Stereotypen, die anderenfalls einen Fatalismus ewiger deutsch-polnischer Feindschaft begründen würden. Zum Glück können sie, besiegelt durch die von Außenminister Skubiszewski definierte Interessengemeinschaft, spätestens mit der Neuordnung der deutsch-polnischen Beziehungen nach der europäischen Wende als überwunden gelten. Was allerdings nicht ausschließt, dass sie unter veränderten Umständen erneut abrufbar wären.

Die Bedeutung der historischen Erinnerung

Deutsche und Polen sind durch eine über tausend Jahre währende gemeinsame Vergangenheit verbunden – mit mal positiven, mal negativen Erfahrungen. Diese Vergangenheit bleibt uns – der Besuch Ottos III. am Grab seines Freundes Adalbert ebenso wie die in Polen und an Polen verübten Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Und diese historischen Erfahrungen, die Deutsche und Polen miteinander gemacht haben, fanden ihren Ausdruck in Literatur , Film und bildender Kunst, verfestigten sich zu Bildern, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind.

Diese Vergangenheit bestimmt unsere Erinnerung und ist damit für unsere wechselseitigen Beziehungen im Heute wie im Morgen von Bedeutung. Dabei kommt es nicht nur auf das Was, sondern auch auf das Wie unserer Erinnerung an. Hier vollzog sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wandel: In der ersten Nachkriegsphase bestimmten in Polen die erfahrenen Erniedrigungen und Gräuel das nationale Gedächtnis, und dies mit der Konsequenz, dass uns Deutschen jede Humanität abgesprochen wurde. Und auf deutscher Seite prägten der Verlust der Ostgebiete und das Schicksal der Vertriebenen die allgemeine Bewusstseinslage.

Damit führte zunächst über die Erinnerung kein Weg zueinander. Sie blockierte vielmehr, noch verstärkt durch die Ost-West-Spaltung, jede Möglichkeit eines Dialogs und wechselseitiger Beziehungen. So blieb auf deutscher Seite ein Bewusstsein der Schuld an den in Polen und an Polen verübten Verbrechen weitgehend ausgeblendet und ihr Zusammenhang mit dem Heimatverlust und dem Vertriebenenschicksal unreflektiert. Der Bund der Vertriebenen bestand, von der Politik unterstützt, auf einem „Recht auf Heimat“ und stellte damit Polens Anspruch auf die einstigen deutschen Ostgebiete in Frage. Und in Polen sah man sich durch den „deutschen Revisionismus“ erneut bedroht. Zudem war eingedenk des Übermaßes erlittenen Leids die Zeit noch nicht reif, die Erinnerung an die „Zehn Gerechten“ zuzulassen, und von der Vorstellung eines auf Vernichtung ausgerichteten „deutschen Wesens“ abzurücken.

Der Durchbruch zu einem Wandel der historischen Erinnerung vollzog sich deutscherseits Mitte der 1960er Jahre. Der erste öffentlichkeitswirksame Anstoß war die evangelische Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ vom 1. Oktober 1965. In ihr heißt es, „daß das Erbe einer bösen Vergangenheit dem deutschen Volk eine besondere Verpflichtung auferlegt, in der Zukunft das Lebensrecht des polnischen Volkes zu respektieren und ihm den Raum zu lassen, dessen es zu einer Entfaltung bedarf.“ Daraus folgern die Autoren, dass „eine deutsche Regierung heute zögern muss, einen Rechtsanspruch auf die Rückgabe von Gebieten zu erheben, deren Besitz wegen des Verlustes von Ostpolen zu einer wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeit für Polen geworden ist.“

Den Durchbruch auf polnischer Seite brachte der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965 mit den bewegenden Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Sie erinnern an die tausendjährige Nachbarschaft, erwähnen die zahleichen positiven Verbindungen und wechselseitigen Einflüsse, verschweigen aber auch nicht die Schrecken des Krieges, der „für uns Polen als totale Vernichtung, als Ausrottung gedacht war.“ Und sie erinnern daran, dass es in der Zeit des Nationalsozialismus auch deutsche Widerstandskämpfer und Märtyrer gegeben hat.

In beiden Texten, die noch durch den Antwortbrief der deutschen Bischöfe und das Memorandum des Bensberger Kreises zu ergänzen wären, wird die Fixierung auf das eigene Leiden aufgebrochen und auch des anderen und seiner Not gedacht. Mit all diesen Aussagen wurde der Grundstein für eine auf Versöhnung basierende und die jeweiligen nationalen Bedingtheiten wahrende Politik gelegt, die sich gegen zahleiche Widerstände sowohl in Polen als auch in der Bundesrepublik Schritt für Schritt durchsetzen konnte und die die von Außenminister Skubiszewski geprägte Formel einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft letztlich ermöglichte.

Was diese Interessengemeinschaft konkret bedeutet, das findet seinen Ausdruck in dem am 17. Juni 1991 unterzeichneten deutsch-polnischen Vertrag über „gute Nahbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“. Mit ihm verbindet sich gemäß der Präambel der Wunsch, „feste Grundlagen für ein freundschaftliches Zusammenleben zu schaffen und die Politik der dauerhaften Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen fortzusetzen.“

Trotz Nachbarschaftsvertrag ein Ende der Interessengemeinschaft

Der Vertrag besitzt bis heute seine Gültigkeit, aber er ist nicht mehr Ausdruck einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft. Im gegenwärtigen national-konservativen Regierungslager mehren sich die Stimmen, die sich für eine Neuverhandlung des Vertrages aussprechen. Zwar gab es 2016 aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Vertrages wechselseitige Staatsbesuche, die allerdings nicht darüber hinwegtäuschen konnten, dass man von einer gemeinsamen politischen Basis derzeit weit entfernt ist. So blieb der polnische Außenminister Witold Waszczykowski in einem Interview die Antwort auf die Frage schuldig, ob „man noch, wie 1991, von einer deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft sprechen könne“. Er verwies lediglich auf die in der Tat engen Wirtschaftsbeziehungen und die Partnerschaft in der NATO. Den Begriff „Interessengemeinschaft“ benutzte er indes nicht.

Die Aussage von Waszczykowski zeigt, dass sich die polnischen Interessen im Verhältnis zur Bundesrepublik auf „enge Wirtschaftsbeziehungen“ sowie auf die durch die Zugehörigkeit zur NATO gewährleiste nationale Sicherheit beschränken.

Mit ihrer Regierungsübernahme im Herbst 2015 setzte denn auch die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) neue, sich von der Vorgängerregierung deutlich abhebende Prioritäten. So äußerte ihr Chef Jarosław Kaczyński, der ohne ein Regierungsamt zu bekleiden die Geschicke Polens bestimmt, kurz nach der gewonnenen Parlamentswahl, er sehe innerhalb der EU nicht in Deutschland, sondern in Großbritannien Polens engsten Partner. Die Art und Weise, wie die britische Regierung gegenüber der Europäischen Kommission ihre Interessen vertrete, sei vorbildlich für Polen. Doch zu einem „Polexit“ will es Kaczyński, wie er nach dem „Brexit“ erklärte, nicht kommen lassen. Nicht ein Austritt aus der EU ist sein Ziel, sondern ihre Reform in Richtung auf eine Union der Vaterländer unter weitgehender Wahrung der eigenen Souveränität, also eine Konzeption, die – entgegen der deutschen Politik - anstelle einer fortschreitenden Integration der Mitgliedstaaten auf eine Desintegration der Europäischen Union hinausläuft. Auf diesem Hintergrund ist der gegenwärtige Konflikt der polnischen Regierung mit der Europäischen Kommission zu verstehen. So beschreitet sie gegen alle Einwände und Warnungen der Europäischen Kommission unter Verletzung der für eine Zugehörigkeit zur EU unbedingt erforderlichen Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien konsequent den Weg zu einer „souveränen Demokratie“ und verabschiedet unter Missachtung der Rechte der Opposition die dazu dienlichen Gesetze.

Der Politologe Aleksander Smolar kommt in seiner Analyse des politischen Konzepts von Kaczyński zu dem Schluss, dass sich dieses „an den geopolitischen Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen“ orientiere. Es ist jene geschichtliche Epoche der folgenschweren, zu zwei verheerenden Kriegen führenden Kämpfe zwischen den Nationalstaaten, in denen „die Großen die Kleinen dominieren wollen und die Kleinen Koalitionen gegen die Großen bilden.“ Obgleich sich die Europäische Union als Überwinderin eben dieser Geschichtsepoche und als Garant einer dauerhaften europäischen Friedensordnung begreift, sehe Kaczyński in der EU eine Institution, in der die Kleinen weiterhin von den Großen dominiert würden. Daraus resultiere, so Smolar, sein „Widerwille gegen Deutschland“ sowie sein Bemühen, „Widerstand gegen das stärkste Land in Europa zu organisieren.“

Eine erste Phase der Verschlechterung deutsch-polnischer Beziehungen

Zu einer ersten die „Politik dauerhafter Verständigung und Versöhnung“ missachtenden Verschlechterung der Beziehungen kam es Anfang des neuen Jahrtausends. Und der Anstoß dazu kam von deutscher Seite. Das Vorhaben des Bundes der Vertriebenen, in unmittelbarer Nähe des Berliner Holocaustdenkmals ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten, sorgte in Polen für Empörung. Zeitgleich fand in der deutschen Öffentlichkeit die Erinnerung an die Opfer alliierter Luftangriffe und das Schicksal der Vertriebenen in zahlreichen Fernsehdokumentationen, Buchveröffentlichungen und Zeitschriftenbeiträgen ein breites Echo. In all dem sah man in Polen, und dies durchaus zu Recht, eine Verschiebung in der deutschen Gedächtniskultur von einem bislang vorherrschenden Täter- zu einem Opferbewusstsein.

Zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts trug die Ostpreußische Landsmannschaft mit der Gründung der „Preußischen Treuhand“ bei. Diese erhob den Anspruch auf Rückerstattung des – wie es in ihrer Verlautbarung heißt – in ihrer alten Heimat „konfiszierten“ Eigentums. Als sie ihre Absicht bekundete, diese Ansprüche vor dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte einzuklagen, verabschiedete der polnische Sejm am 10. September 2004 nach einer äußerst emotional geführten Debatte fast einstimmig eine Resolution, mit der die damals linke Regierung aufgefordert wurde, mit der deutschen Regierung über eine Entschädigung für die im Zweiten Weltkrieg erlittenen Schäden zu verhandeln. Die Gemüter beruhigten sich wieder, als ein von der polnischen Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Schluss kam, dass es für derlei Reparationsansprüche keine Rechtsgrundlage gibt, und als der Europäische Gerichtshof die Klage der „Preußischen Treuhand“ abwies.

Für erneute Aufregung sorgte dann allerdings der Bau der am 8. September 2005 in Anwesenheit von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin beschlossenen, die Ukraine und Polen bewusst umgehenden Ostseepipeline. Der polnische Außenminister Sikorski sah in diesem mit Polen nicht abgesprochenen Vorgehen eine Analogie zum Hitler-Stalin-Pakt unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Angesichts dieser im Widerspruch zu einer auf Versöhnung basierenden Politik stehenden Entwicklung sahen sich die deutschen und polnischen Bischöfe zu einer „Gemeinsamen Erklärung“ veranlasst, in der es heißt: „Mit Sorge müssen wir seit einiger Zeit sehen, dass die Erinnerung an die finstersten Stunden unserer gemeinsamen Geschichte nicht nur den Geist der Versöhnung gebiert, sondern auch alte Wunden, die noch nicht geheilt sind, wieder aufreißt und den Ungeist des Aufrechnens hervorbringt. […] Der Jahrestag des Briefwechsels ist uns Anlass, solcher Verantwortungslosigkeit im gegenseitigen Verhältnis mit allem Nachdruck zu widersprechen.“

Deutschfeindlichkeit unter der gegenwärtigen national-konservativen Regierung

Und wieder erleben wir eine Zeit solcher Verantwortungslosigkeit, die unseren Widerspruch erfordert. Am 1. August gedachte man, wie in jedem Jahr, in Polen der 63 Tage des heldenhaften und zugleich tragischen Warschauer Aufstands. In diesem Jahr war die Erinnerung von einer stark deutschfeindlichen Propaganda überlagert. Die rechtskonservativen Zeitungen titelten: „Deutsche, verfälscht nicht die Geschichte.“ Dazu der Hinweis, dass Hitler demokratisch gewählt worden sei und seine Enkel die Polen nicht über Demokratie zu belehren hätten. In Warschau waren Plakate mit drastischen Szenen zu sehen, so mit einem deutschen Soldaten, der ein Kind tötet, oder eine Fotomontage des zerstörten Warschau mit der Aussage „die Deutschen sind Mörder“, und dies in englischen Lettern, damit auch die zahlreichen ausländischen Touristen die Botschaft verstehen. Und die Rechtsradikalen, die unter der jetzigen Regierung einen deutlichen Aufschwung erleben, zogen mit der dem Aufstand entliehenen Parole „Jedem Deutschen eine Kugel“ durch Warschaus Straßen.

Derlei Töne bildeten die Begleitmusik zu einer Initiative, mit der die nationalkonservative Regierung über die im Potsdamer Abkommen getroffene Regelung hinaus nunmehr versucht, Deutschland für die Kriegsverwüstungen im Zweiten Weltkrieg haftbar zu machen und nach über 70 Jahren die Geschichte zurückzudrehen. Eine Expertengruppe bereitet die Berechnung der Schadenssumme sowie eine entsprechende Klage vor. Ob man wirklich glaubt, mit dieser selbst von den Vorgängerregierungen bislang als völkerrechtlich aussichtslos eingeschätzten Forderung Erfolg zu haben? Oder ist die zu erwartende juristische Niederlage bereits kalkuliert? Denn auch aus ihr lässt sich nationales Kapital schlagen und das eigene Elektorat durch Verbreiten einer antideutschen Stimmung zufrieden stellen, um so die Voraussetzungen für eine Wiederwahl zu verbessern. Es ist dies eine gegenüber der eigenen Gesellschaft unwürdige Manipulation.

Die regierenden Nationalkonservativen tun mit ihrer Propaganda gegenwärtig so, als gäbe es keine andere, deutschfreundliche Erinnerungskultur, nicht den Briefwechsel der Bischöfe am Ende des Konzils als Grundlage beiderseitiger Versöhnung, nicht die zahlreichen Hilfssendungen nach Verhängung des Kriegsrechts, nicht die bereitwillige Aufnahme von Akteuren der Solidarność, nicht die inzwischen gewachsenen vielen deutsch-polnischen Freundschaften. Mit dieser Aufzählung möchte ich nicht den Eindruck erwecken, wir hätten damit als Deutsche den Polen im Zweiten Weltkrieg zugefügten Schaden wieder gut gemacht. Es gibt materielle, physische und psychische Verluste, besonders solche an Menschenleben, die durch keine Reparationszahlungen beglichen werden können. Was in der Vergangenheit geschehen ist, vergeht nicht. Wir müssen, Deutsche wie Polen, mit ihr leben. Die Frage ist nur, wie, welchen Platz die Geschehnisse der Vergangenheit in unserer Gedächtniskultur einnehmen, welche Konsequenzen wir aus ihnen für die Gegenwart und die Zukunft ziehen, auf welche Weise wir die im kollektiven Bewusstsein bewahrte Vergangenheit abrufen – im Ungeist der Feindschaft oder im Geist der Versöhnung.

Das besonders Gravierende an den jetzigen Reparationsforderungen ist die Tatsache, dass mit ihnen die deutsch-polnische Versöhnung als solche in Frage gestellt wird. Als der PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk im Sejm ein Gutachten beantragte, das die rechtlichen Möglichkeiten für Reparationsforderungen gegenüber der Bundesrepublik prüfen und feststellen soll, tat er dies mit dem Hinweis darauf, dass „wir Polen über viele Jahre mit den Phrasen einer polnisch-deutschen Versöhnung betrogen wurden.“ Im nationalkonservativen Lager spricht man daher von „Versöhnungsideologie“ sowie – im negativen Sinn – von „Versöhnungspolitik“ der deutschen Regierung und aller polnischen Vorgängerregierungen von PiS. Das Gerede von „Versöhnung“ sei – so Professor Stanisław Żerko vom Posener Westinstitut - reine Heuchelei, und die so genannte „ethische Rhetorik“ diene allein dem Zweck, Reparationszahlungen zu vermeiden.

Der Kniefall von Willy Brandt – reine Heuchelei? Die Umarmung zwischen Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki – pure Berechnung?

Wie sehr die durch den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils initiierte und politisch wirksam gewordene Versöhnung derzeit bedroht ist, zeigt unter anderem der Appell der zur zwischenkirchlichen Kontaktgruppe gehörenden polnischen Bischöfe. Darin heißt es einleitend: „Versöhnung ist ein Wort, das seit über einem Vierteljahrhundert die polnisch-deutschen Beziehungen bestimmt. Sie ist ein großer Wert, den zu gewinnen es gelungen ist und den wir dank der Bemühungen nicht allein von Politkern, sondern von zahlreichen Menschen guten Willens beiderseits der Grenze aufrechterhalten. Allerdings sind wir uns bewusst, dass man ihn leicht durch unüberlegte Entscheidungen, aber auch durch leichtfertiges Reden verlieren kann. Zugleich erinnern wir daran, dass es eine patriotische Pflicht ist, sich eingedenk der Wahrheit bezüglich der Würde eines jeden Menschen sich für die soziale Aussöhnung zu engagieren, übermäßige politische Emotionen zu glätten, den Bereich möglicher und für Polen unabdingbarer Zusammenarbeit über Spaltungen hinweg auszuweiten sowie das öffentliche Leben vor unnötiger Politisierung zu bewahren.“

In der gegenwärtigen Situation kommt es darauf an, den unschätzbaren Wert der Versöhnung als Grundlage deutsch-polnischer Beziehungen zu betonen und zu bewahren. Die von Jarosław Kaczyński negativ titulierte „Versöhnungspolitik“ verstieß keineswegs gegen die Interessen Polens, sie entsprach ihnen vielmehr, wie dies auch – mit Ausnahme seiner Partei – von allen polnischen Regierungen nach 1989 gesehen und stets bekräftigt wurde. Man mag sich fragen, welchen Geschichtsverlauf die deutsch-polnischen und die europäischen Beziehungen genommen hätten, wären sie nicht durch Versöhnung, sondern durch eine feindliche Narration bestimmt gewesen.

Nationales Narrativ als politische Grundorientierung

Diese feindliche Narration bestimmt gegenwärtig die Politik der national-konservativen Regierung. Sie steht in enger Verbindung zu ihrer von Smolar aufgewiesenen, sich „an den geopolitischen Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen“ orientierenden politischen Konzeption. Begründet wurde sie im 19. Jahrhundert durch den Verlust der Eigenstaatlichkeit, durch Erfahrungen nationaler Erniedrigung, durch Bestrebungen der Germanisierung und Russifizierung, durch die heldenhaften, wenngleich vergeblichen Aufstände in der langen Phase der polnischen Teilungen. Diese Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in Literatur und Kunst und bestimmten durch schulische und familiäre Erziehung das nationale Selbstbild. Es formte mit der Betonung der eigenen Opferrolle das Bewusstsein eines mit einem heroischen Widerstand verbundenen nationalen Martyriums, geht aber mit einer Verdrängung geschichtlicher Inhalte einher, die in dieses Bild nicht hineinpassen oder es gar in Frage stellen. Dieses nationale Selbstverständnis ständiger Bedrohung durch äußere und innere Feinde war und ist traditionsbildend. In der Zwischenkriegszeit war es Roman Dmowski (1864-1939), der Führer der polnischen Rechten, der mit seiner politischen Konzeption dieser nationalen Narration Ausdruck verlieh. Bereits 1908 hatte er in seiner Schrift „Niemcy, Rosja i kwestia polska“ (Deutsche, Russland und die polnische Frage) seine von einem überhöhten Begriff der Nation bestimmte Vorstellung einer Wiedergeburt Polens entwickelt. Mit der Idealisierung der Nation verband sich bei ihm die Furcht vor ihrer Bedrohung. Diese ging für seine von ihm 1897 gegründete National-Demokratische Partei, der sogenannten Endecja, vor allem von Deutschland aus.

In Dmowskis gesellschafts-politischem Programm spielte zudem die katholische Kirche eine bedeutende Rolle. Der Führer der Endecja sah gemäß seiner 1927 erschienenen Schrift „Kościół, naród, państwo“ (Kirche, Nation, Staat) in der katholischen Religion die Verankerung von Polentums und Staat. Er fand damit innerhalb der Kirche weitgehende Zustimmung, so dass der Klerus in seiner Mehrheit der Endecja zuneigte und damit die politische Instrumentalisierung katholischen Glaubens in Kauf nahm. Die jetzige national-konservative polnische Regierung ist von diesem Geist bestimmt, und große Teile der Kirche, allen voran Pater Tadeusz Rydzyk mit seinem Medienimperium, sind ihr zu Diensten.

Die gegenwärtige Verschlechterung des deutsch-polnischen Verhältnisses und die damit verbundene Deutschfeindlichkeit dürften ohne Berücksichtigung dieses nationalen Narrativs kaum erklärbar sein. Ihm weiß sich Jarosław Kaczyński samt seiner Partei und Regierung verpflichtet. Sie orientieren sich in Verfolgung ihrer Politik des angeblich „guten Wandels“ an eben diesem im 19. Jahrhundert begründeten, durch die Endecja tradierten nationalen Selbstbild. Durch einschneidende personelle Eingriffe in die Besetzung von Museen und Theaterhäusern sowie durch entsprechende schulische Programme soll sichergestellt werden, dass Kunst und Bildung durch Vermittlung jenes durch Martyrium und Heroismus bestimmte Selbstbild die Grundlage für ihre stark national geprägte Politik bilden. Und mit den nunmehr seit über sieben Jahren am 10. eines jeden Monats stattfindenden Manifestationen in Erinnerung an den Absturz der Präsidentenmaschine über dem Flughafen von Smolensk am 10. April 2010 verfolgt Kaczyński das Ziel, jenem Unfall durch Umdeutung im Sinne eines feindlichen Anschlags den Rang eines nationalen Martyriums sowie den eines Gründungsmythos für die von ihm angestrebte IV. Republik zu verleihen.

Zu den im Regierungslager immer wieder zu hörenden Floskeln gehört der Appell, „sich von den Knien zu erheben“. Dies setzt voraus, dass man zuvor von irgendwelchen Mächten in die Knie gezwungen wurde. Die werden denn auch von der national-konservativen Regierung und den ihr nahestehenden Medien beim Namen genannt. Als Beispiel sei auf das Titelblatt der Zeitschrift „Wprost“ vom Januar 2016 (2/2916) verwiesen. Unter der Überschrift „Sie wollen erneut die Oberhoheit über Polen“ zeigt es auf der Grundlage einer retuschierten Lagebesprechung Hitlers mit Mussolini und Generälen folgende Szene: Im Zentrum Angela Merkel, ganz in der Pose Hitlers über eine Generalstabskarte gebeugt, flankiert von Martin Schulz, Jean-Claude Juncker, Günther Oettinger, und Guy Verhofstadt, dem Chef der Liberalen im Europaparlament. Allesamt in Naziuniform. Und im Hintergrund die Europafahne.

Anlass für dieses Titelblatt sind die Einsprüche der abgebildeten Politiker gegen die von der PiS-Regierung vollzogenen, mit den Grundlagen der Europäischen Union unvereinbaren Rechtsbrüche sowie ihre Mahnung, zur Rechtstaatlichkeit zurückzukehren. Derlei ebenso berechtigte wie notwendige Stellungnahmen werden regelmäßig von der polnischen Regierung und in den national-konservativen Medien als Versuch einer die Souveränität des Landes bedrohenden Einmischung und Fremdbestimmung sowie als antipolnische Agitation zurückgewiesen.

Für diese die Realität verkehrende Denkweise lieferte auch Kaczyński selbst einen Beitrag. Im Vorfeld ihres Gesprächen mit Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsidentin Beata Szydło und Jarosław Kaczyński dienenden Warschaubesuchs von Angela Merkel am 7. Februar 2017 sagte er in einem Radio Szczecin (Stettin) gewährten Interview: „Ich werde gezwungen sein, der Kanzlerin zu sagen, dass Deutschland entscheiden muss, welche Art von Beziehungen es mit Polen haben will. Denn es ist unmöglich, Polen anzuprangern und sämtlicher Übel zu beschuldigen und gleichzeitig auf gute Beziehungen zu hoffen.“

Kaczyńskis Äußerung änderte allerdings nichts daran, dass Merkels Warschaubesuch in den national-konservativen Medien als ein Ereignis von geradezu historischer Bedeutung gewertet wurde. Man sah in ihm einen Akt der Huldigung, wie ihn Albrecht von Brandenburg am 10. April 1525 vor König Zygmund I. auf dem Krakauer Ring vollzogen hatte, indem er den säkularisierten Ordensstaat als Lehen dem König unterstellte – ein Ereignis, das durch das großformatige Historiengemälde von Jan Matejko tief im polnischen Nationalbewusstsein verankert ist. Man mag in einer solch enthusiastischen, den diplomatischen Anlass verkennenden Überhöhung eine Kompensation des polnischen Minderwertigkeitskomplex sehen und solcher Berichterstattung kein sonderliches politisches Gewicht beimessen. Aber auch das ist ein Zeichen für die Wirkkraft des von der gegenwärtigen polnischen Regierung gepflegten und als Grundlage ihrer Politik genutzten nationalen Narrativs.

Hier zitiert nach H. von Zitzewitz, Das deutsche Polenbild in der Geschichte. Entstehung – Einflüsse – Auswirkungen, Köln 1991, . 88.

M. Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen von 1932-1945, Würzburg 1963, Bd. 2, S. 1360.

H. Orłowski, „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996.

Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, Hannover 1965, S. 178.

Ebd., S. 201.

„Einige Aspekte unserer Zusammenarbeit müssen wir kritisch betrachten“. DIALOG-Gespräch mit Witold Waszczykowski, dem Außenminister der Republik Polen, Dialog. Deutsch-polnisches Magazin, Nr. 115, 01/2016, S. 28.

Zum Begriff der „souveränen Demokratie“ vgl. meinen Beitrag „Die polnische Regierung vollzieht einen Systemwandel“, in: imprimatur 1/2016, Anm. 3.

Reinold Vetter, Säbelrasseln? Polen und der NATO-Gipfel, Polen-Analysen Nr. 185 v. 05. 07. 2016, S. 3.

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