Die Andersartigkeit der „polnischen“ Kirche
Die Andersartigkeit der „polnischen“ Kirche
Anfang Januar 2018 legte das Statistische Institut der katholischen Kirche Polens (ISKK) die neusten Daten für das Jahr 2016 vor. Grundlage war die Zählung der Gottesdienstteilnehmer und Kommunikanten am 16. Oktober in sämtlichen der über 10 000 Pfarreien. Aufgrund dieser Erhebung zeigt sich ein Rückgang der sonntäglichen Teilnahme am Gottesdienst um 3,1%. und liegt gegenwärtig bei 36,7%. Sie ist – in absoluten Zahlen – erstmals unter 10 Millionen gesunken. Beim Kommunionempfang beträgt der Rückgang 1%; damit geht weniger als die Hälfte (16%) von ihnen zur Kommunion. Allerdings gibt es bedeutsame Unterschieden zwischen den einzelnen Diözesen.
Positiv zu verzeichnen ist dagegen eine Zunahme an Taufen, kirchlichen Eheschließungen sowie der Zahl der Erstkommunionkinder. Die Verbundenheit mit dem Katholizismus ist über die letzten 5 Jahre stabil. Die Zahl an Priestern beträgt 25 000, die der Ordensschwestern 18 000. Erstmals wurde die Präsenz der Pfarreien im Internet erfragt. Sie liegt im Landesdurchschnitt bei 50%.
Besonders stark ist der Rückgang religiöser Praxis in Warschau. Nur jeder vierte Warschauer geht zur Kirche; in der Erzdiözese Warschau 26%, in Warschau-Praga 30,9%. Auch der Kommunionempfang liegt unter dem Landesdurchschnitt: Erzdiözese Warschau 13%, Warschau-Praga 14%. Bei diesen Zahlen ist allerdings zu berücksichtigen, dass viele in Warschau nicht heimische Katholiken die Wochenenden in ihren Heimatpfarreien verbringen.
An Priestern besteht offenbar in Warschau kein Mangel. Die beiden Diözesen verfügen insgesamt über 1346 Geistliche. Auch das Priesterseminar überdurchschnittlich gut besetzt.
Damit dürfte trotz eines Rückgangs religiöser Praxis Polen das am meisten katholisch geprägte europäische Land sein. Über die innere Verfassung der polnischen Kirche sind diese Angaben allerdings nur von geringem Aussagewert.
Dazu sind Daten von Bedeutung, die vom European Social Survey, dem Center for Applied Science in The Apostolate sowie von polnischen Religionssoziologen erhoben wurden.
Anders als im Westen
Die Untersuchungen belegen eine große Verschiedenheit der Religiosität polnischer Katholiken zu Gläubigen in der westlichen Welt. Während 50% westlicher Katholiken nicht mehr am religiösen Leben teilnehmen, sind dies in Polen lediglich 5%. Allerdings pflegen nur 27% das tägliche Gebet.
Ein weiteres Spezifikum der polnischen Kirche ist ihr öffentlicher Charakter praktizierter Religiosität als Bekenntnis zum Polentum. In diesem Sinne äußerte sich auch Jarosław Kaczyński, der Chef der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der in der Teilnahme an religiösen Riten eine nationale Verpflichtung sieht, der auch ein Pole ohne sonstige Bindung an die Kirche nachzukommen habe.
Diese enge Verbindung der „polnischen“ Kirche mit der Nation ist angesichts der Geschichte Polens nicht verwunderlich, hat sich doch in Zeiten der Unterdrückung und Verfolgung die Kirche als schützender Hort der Nation erwiesen – in der über ein Jahrhundert währenden Phase, als Polen unter den drei Monarchien Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt war sowie im Zweiten Weltkrieg und unter kommunistischer Herrschaft. Der auch heute deutliche nationale Charakter des polnischen Katholizismus hat hier seine geschichtliche Wurzel.
Eine stark moralisch ausgerichtete Pastoral
Während in Westeuropa die Beichtstühle leer bleiben oder gar aus den Kirchen verschwunden sind, gehen immerhin 68% der Polen mindestens einmal im Jahr zur Beichte. Auch herrscht die Überzeugung vor, ohne vorherige Beichte könne man nicht zur Kommunion gehen. Das erklärt, warum im Unterschied zum Westen weniger als die Hälfte der Gottesdienstbesucher die Kommunion empfangen. Grund dafür ist ein weiteres Spezifikum der „polnischen“ Kirche - ihre stark moralisch ausgerichteten Pastoral, die vor allem die Einhaltung religiöser Pflichten betont. So wird den Gläubigen nach wie vor das Verbot von Verhütungsmitteln eingeschärft, während dies in den westlichen Kirchen kaum ein Thema ist. Selbst die Verpflichtung, am Freitag kein Fleisch zu essen, wird von den polnischen Bischöfen aufrechterhalten.
Dieser in Polen vorherrschende Legalismus ist den westlichen Kirchen fremd. Damit ist freilich nicht gesagt, Moral würde für westliche Katholiken keine Rolle spielen. Ihr Moralverhalten orientiert sich weniger an äußeren Kirchengeboten, sondern ist Ausdruck einer freien Gewissensentscheidung.
Auch Verständnis und Feier der Eucharistie sind von diesem Unterschied betroffen: In Polen herrscht immer noch der Opfergedanke vor, und Zutritt zum Tisch des Herrn gilt als besonderes Gnadenmittel persönlicher Frömmigkeit. Im westlichen Verständnis steht als sozialer Aspekt der Mahlcharakter der Eucharistie im Vordergrund, der die Gemeinschaft der Glaubenden in Christus eint und zu einer umfassenden Nächstenliebe verpflichtet.
Die Flüchtlingsfrage
Die westlichen Kirchen zeigen eine große Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Nicht nur die Bischöfe äußern sich in diesem Sinn. Es gibt auf allen kirchlichen Ebenen, bis hin zu den Pfarreien, ein beeindruckendes Engagement von Christen beider Konfessionen in der Aufnahme, Betreuung und Integration von Flüchtlingen.
In Polen ist das anders. Zwar sprechen sich auch dort die Bischöfe für die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Doch ihre Anregung, über einen „humanitären Korridor“ einige von ihnen ins Land zu holen, stößt nicht nur bei der Regierung, sondern auch bei vielen Priestern und Gläubigen auf taube Ohren. Auch die deutlichen Worte von Papst Franziskus zeigen bei ihnen kaum eine Wirkung. Zwar akzeptieren nach einer Befragung Krakauer Kleriker 70% von ihnen die Autorität des Papstes, doch mit seiner Bitte, jede Pfarrei möge eine Familie aufnehmen, erklären sich nur 30% einverstanden.
Eine Befragung von Priesteramtskandidaten verschiedener Seminare zeigt folgendes Bild: 72% meinen, dass Flüchtlinge eine Bedrohung der Sicherheit sind, und 50% sehen in ihnen eine Gefährdung der Gesundheit. 13% der Kleriker haben nichts gegen eine Beteiligung von Priestern an antiislamischen Manifestationen, und 44% sind der Auffassung, man solle den Islam in Polen verbieten. Dieses erschreckende Ergebnis erklärt sich teilweise aus der Tatsache, dass nach dieser Befragung 83% der Seminaristen ihre Informationen aus dem Medienimperium von Pater Rydzyk und anderen rechtsnationalen Publikationen beziehen, die durch ihre Aggressivität und Unterstützung einer nationalistischen Politik bekannt sind.
Ambivalente Einstellung zu Papst Franziskus
Das unterschiedliche Verständnis der Eucharistie hat auch Konsequenzen für die Einstellung zu Papst Franziskus und seiner Entscheidung, Wiederverheirateten grundsätzlich den Zugang zur vollen Teilnahme an der Eucharistie zu ermöglichen. Doch Polens Bischöfe zeigen keine Neigung, ihm auf diesem Weg zu folgen.
Nach ihrer Einstellung zu Papst Franzskus befragt, gaben polnische Katholiken widersprüchliche Antworten. Einerseits wird seine Autorität respektiert, andererseits findet seine Stimme wenig Gehör. Das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ und die Umweltenzyklika „Laudato si“ stießen in nationalkatholischen Kreisen auf Widerspruch. In ihrer Presse gibt es häufig sehr kritische Beiträge, in denen dem Papst sogar vorgeworfen wird, „die Lehre Christ zu negieren“. Nach diesen Traditionalisten, die innerhalb der „polnischen“ Kirche keineswegs eine Minderheit bilden, ist „Polen die letzte Bastion des Katholizismus, während andere Länder wegen ihres Liberalismus und ihrer Säkularisierung von der Tradition der einen Kirche Christi abweichen; ja, von dieser Tradition weicht selbst der Papst ab, und über kurz oder lang wird man den wahren Katholizismus nur noch in polnischen, traditionellen Pfarreien suchen müssen.“
Quelle: Jarema Piekutowicz, Jeden, tradyczyny, zbiorowy, niepapieski (Eine, traditionelle, kollektive, nicht päpstliche), Tygodnik Powszechny v. 14. 01. 2018.