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Aufbruch. Wohin

Maria Magdalena gehört zu den biblischen Gestalten, deren Faszination auf besondere Weise in Kunst, Literatur und Film ihren Niederschlag gefunden hat. Auch in dem neuen Roman von Barbe Maria Linke geht es um die Jüngerin Jesu aus Magdala. Doch nicht nur um sie.

Die Handlung umfasst vier Jahre und spielt sich 20 Jahre nach der Deutschen Einheit vornehmlich in der Uckermark ab. Allein schon die Beschreibung dieser Naturlandschaft mit einer dezenten Rückbindung an die jeweilige Stimmungslage der Protagonisten lohnt die Lektüre.

Die 60jährige Autorin Elsa arbeitet auf Wunsch ihres Exgatten und Regisseurs Rex an einer Bühnenfassung zu Maria Magdalena. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Todkrank kann sie kurz vor ihrem Sterben das Textbuch fertigstellen.

Es ist nicht Elsas erste literarische Beschäftigung mit Maria Magdalena. Ein von ihr in Angriff genommener Roman blieb unvollendet. Als „MMs Tagebuch“ ist das Fragment Teil dieser Textsammlung Sie umfasst Elsas Tagebuchaufzeichnungen, mehrere Kapitel eines die Handlung vorantreibenden und vor allem ihrer Freundin Lena gewidmeten Erzähltextes sowie einzelne an ihren Freund und Geliebten K. adressierte Briefe. Barbe Maria Linke kennzeichnet ihr Buch nicht als Roman, sondern als „Stationen, Skizzen, Bilder“, die sich zu einem Ganzen fügen.

Das fiktive Tagebuch zeigt eine Maria, die – vom Blick Jesu am See Gennesaret getroffen – von Sehnsucht erfüllt wird. In der Hoffnung, Jesus werde bei ihr einkehren, spannt sie vor ihrem Haus ein Tuch mit einem Willkommensgruß. Doch nicht ER klopft bei ihr an, sondern eine um ein Nachtlager bittende mittellose Alte, die – gleichsam als Jesu Botschaft – am nächsten Morgen für sie einen religiös symbolträchtigen Granatapfel zurücklässt.

Später ist es Judas, der bei ihr als verfolgter Zelot Schutz findet. Er verspricht, sie zu Jesus zu führen. Dies allerdings unter der Bedingung, dass sie versucht, Jesus mit ihren fraulichen Reizen für die Rebellion gegen die Römer zu gewinnen. Doch unterwegs verrät er Maria, indem er sie allein in der Einöde zurücklässt. Zu Tode erschöpft, erfährt Maria im Zustand des Deliriums ihre Begegnung mit Jesus. Und dies als Teil seiner Versuchung in der Wüste. Jesus ringt sich durch zum Verzicht. „Ich begehre dich, das ist wahr. Aber ich werde dich nicht zur Frau nehmen. Wirst du mich trotzdem begleiten? Ich brauche eine Gefährtin, der ich vertrauen kann, eine, die mich liebt, wie du. Eine die bei mit bleibt, wenn…“ Und in ihrem Traum antwortet Maria unter Tränen: „Wie könnte ich dich verlassen, jetzt, da ich dich gefunden habe.“ (197)

Wichtiger als dieses Fragment ist die Personenkonstellation in ihrer Auseinandersetzung mit Maria Magdalena. Neben der Hauptfigur Elsa ist es die für die Rolle der Magdalena vorgesehene Schauspielerin Lena, die zu ihrer Freundin wird. Dazu Elsas jüngerer Bruder Jan, ein Tänzer und Manager von Tanzgruppen, sowie der geheimnisumwobene K., Elsas Freund und Geliebter. Immer wieder drehen sich ihre Gespräche, angeregt durch das Neue Testament und Begegnung mit Kunst, Literatur und Film, um Maria Magdalena und ihre Bedeutung für das eigene Leben. An zwei eng miteinander verflochtenen Aspekten soll dies im Folgenden verdeutlicht werden - an der Befreiung von Dämonen und an der Bereitschaft zur Nachfolge.

Wie in Maria Magdalena, so lauern auch in Elsa Dämonen. Aufgewachsen in einem evangelischen Pfarrhaus und geprägt von der Vorstellung eines strafenden Gottes wurde ein einziger Satz zu einem ihr Leben bestimmenden Code: „Du bist nicht wichtig.“ (48) Dieser Satz wird zur Schreibblockade, will sie von ihrem Thema abbringen: „Das schaffst du nie, du Winzling!“ (32) Es ist ein schmerzhafter Prozess innerer Befreiung, den Elsa erfährt. Indem sie über Maria Magdalena schreibt, bricht die Wunde ihrer Kindheit wieder aus, und zugleich wird ihr Heilung zuteil. „Du Wicht, rufen die Dämonen, wir zerstampfen dich! Kannst du sie hören, Maria? Und dann kommt eine, die zeigt, wie sie ihr Leben radikal geändert hat. Du, Maria.“ (51) Elsa wird fähig, aus ihrer Wunde heraus zu schreiben, statt sie zu lecken, wird frei von ihren inneren Dämonen. Es ist der Augenblick des Aufbruchs. „Das ist es! Aufbruch. Wohin?“ (52) Nicht von Ungefähr begegnet erstmals an dieser Stelle der Titel des Buches, allerdings versehen mit einem Fragezeichen.

Es ist ein Aufbruch zu einer möglichen Nachfolge. Die Beschäftigung mit Maria Magdalena führt unabwendbar zu Jesus, der eine radikale Umkehr proklamiert, eine Erkenntnis, die Elsa zu einer Überarbeitung des Textbuches nötigt. Denn der Ruf zur Nachfolge löst „Ängste und Verunsicherungen“ aus, die bewältigt werden müssen – literarisch wie existentiell.

Für Elsa lautet daher „die wichtigste Frage“, von deren Beantwortung es abhängt, ob sie überhaupt in der Lage ist, das Textbuch zu Maria Magdalena zu schreiben: „Was veranlasste dich, Jesus zu folgen? Es muss etwas geschehen sein, das dich von allen Konventionen frei gemacht hat. […] Fest steht, du lässt dich auf Jesus ein. Schließt das Tor, gehst fort. Fragst nicht, was kommt. Tust, was du tun musst. Wenn ich die Situation auf heute übertrage, auf mich oder auf Lena… Hätten wir deinen Mut, deine Courage, Maria?“ (51)

Das „Folge mir nach!“ verfolgt Elsa bis in den Schlaf. Sie fürchtet sich vor den Konsequenzen, vor dem, worauf letztlich alles hinausläuft, davor, „Folter und Tod des Geliebten“ auszuhalten. Doch ehe der Blick auf das Ende zielt, gilt es, den Anfang zu bedenken, die innere Voraussetzung zur Nachfolge, „alles Sorgen“ von sich abfallen zu lassen „wie altes Laub“. ((87)

Doch selbst das allein genügt nicht. Nachfolge meint letztlich die Freiheit zur Liebe, der Einladung nachzukommen: „Lebe mit mir!“ (87)

Was dies konkret bedeutet, erfährt Elsa in der Betrachtung des „Noli me tangere“ von Fra Angelico: „Das Wahrnehmen größter Nähe. Und des vollkommenen Loslassens.“ Dazu „die schwebende Spannung zwischen beiden Gestalten. Sie dürfen sich nicht näherkommen, um die Liebe nicht zu zerstören.“ Dieser Raum der Leere zwischen ihnen ist es, „der Liebe erst möglich macht.“ (88)

Die Romanhandlung zeigt, wie Elsa sich müht, diese Erkenntnis in ihrem Leben umzusetzen – in der Bewältigung des Dämons ihrer Kindheit, in ihrem Kampf gegen innere Ängste, in der Überwindung ihrer depressiven Traurigkeit um den Unfalltod ihrer Tochter Nelli, in ihrer Liebe zu K. und letztlich in der Annahme ihrer Krankheit in Erwartung des Todes. So begegnet denn auch am Ende ihres Lebens der Titel des Buches ein zweites Mal, doch nun ohne Fragezeichen. „Aufbruch. Wohin“ (306). Es ist ihr letzter Silvesterabend, und einen Tag später, am Neujahrsabend, beendet sie unter dem Eindruck des Sonnenuntergang ihren letzten, an K. adressierten Brief mit den Worten: „Wie soll ich mir vorstellen können, dass sie wiederkommt…“ (307)

Barbe Maria Linke, Aufbruch. Wohin. Stationen, Skizzen, Bilder, Geest-Verlag Vechta 2018, 329 Seiten

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