Der Fall des Priesters Wojciech Lemański
Im März 2015 wandte sich Adam Michnik, Chefredakteur von Polens auflagestärksten Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, gemeinsam mit einem seiner Kollegen in einem offenen Brief an Papst Franziskus. Den unmittelbaren Anlass bildete ihre Sorge um das Schicksal des 55jährigen Pfarrers Wojciech Lemański, der von Erzbischof Henryk Hoser, Ordinarius der Diözese Warschau-Praga, zunächst seines Amtes enthoben, dann suspendiert worden war. Und nun ohne kirchlichen Unterhalt bei seinem Vater lebt. Um sicher zu gehen, dass der Adressat auch Kenntnis von diesem Schreiben erhielt, wurde es Anfang April in der italienischen Zeitung „La Repubblika“ veröffentlicht.
Bei der „Gazeta Wyborcza“ handelt es sich um ein Organ, das wegen seiner kirchenkritischen Berichterstattung vom rechtskonservativen Teil polnischer Bischöfe und Katholiken als kirchenfeindlich eingestuft und entsprechend attackiert wird. Dagegen betonen die Initiatoren des offenen Briefes, der eine ungetauft, der andere ein nicht praktizierender Katholik, ihre „große Wertschätzung der historischen Rolle der katholischen Kirche“ in Polen. Sie zeigen sich allerdings „beunruhigt über manche Haltungen und Äußerungen des Klerus, die auf die Menschen verletzend wirken und das gesellschaftliche Leben in Polen negativ beeinflussen.“ Eine dieser negativen Auswirkung kirchlichen Handelns sehen sie in dem Fall des Priesters Lemański, der seit Jahren weit über den kirchlichen Raum hinaus die Öffentlichkeit in Polen beschäftigt.
Was sind die Gründe für den Konflikt zwischen Erzbischof Hoser und dem ihm unterstellten Priester Lemański, der letztendlich zu dessen Suspendierung führte?
Den Juden verbunden
Zum Karfreitag 2001 versah der Danziger Prälat Henryk Jankowski das in den polnischen Kirchen übliche Heilige Grab mit der Inschrift. „Juden ermordeten den Herrn Jesus und die Propheten, und sie verfolgten auch uns.“ Als Kontrast zu diesem Skandal legte Pfarrer Lemański in seiner Kirche die Jesusfigur auf einen verkohlten Strohhaufen und überschrieb die Szene mit dem Wort „Verzeiht“. Am Kreuz befestigte er eine Tafel, auf der lediglich die beiden Buchstaben „Je“ zu lesen waren, die in der Doppelbedeutung „Jesus“ und „Jedwabne“ ergänzt werden konnten und damit auf jenen Ort verwiesen, an dem im Zweiten Weltkrieg Polen ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt hatten. Der Chefradakteuer der katholischen Monatszeitschrift „Więź“ sorgte dafür, dass diese Gestaltung des Heiligen Grabes und damit auch Pfarrer Lemański in Polen bekannt wurden.
Seit dieser Zeit ist Pfarrer Lemański immer wieder durch seine positive Einstellung zu den „älteren Brüdern im Glauben“ aufgefallen. Zum 60. Jahrestag der an den Juden in Jedwabne verübten Verbrechen war er einer von lediglich zwei Priestern, die an der Gedenkfeier teilnahmen. In seiner Gemeinde gründete er ein Komitee zum Gedenken an die während des Holocaust in der Umgebung ermordeten Juden. Jeweils am 19. August, dem Tag, an dem 1942 die Juden der Stadt, immerhin die Hälfte ihrer Bewohner, aus dem Getto zu ihrer Vernichtung nach Treblinka transportiert worden waren, organisiert er einen Marsch des Gedenkens und des Gebets. Mit derlei Aktivitäten gab er seinen Landsleuten, zumal Bischöfen und Priestern, ein Beispiel und erteilte ihnen eine deutliche Mahnung, dass es ihre Gewissenspflicht sei, ihrer ermordeten jüdischen Mitbürger zu gedenken. Aufgrund dieser zeugnishaften Verbundenheit mit dem Schicksal der Juden wurde Lemański Mitglied des Polnischen Rats von Christen und Juden und nahm damit landesweit am christlich-jüdischen Dialog teil.
Als erstes Anzeichen eines aufkommenden Konflikts kann die 2006 ausgesprochene Versetzung des bisherigen Stadtpfarrers Lemański in das Dorf Jasienica verstanden werden. Jedenfalls werteten seine priesterlichen Mitbrüder diese Entscheidung der Kurie als Strafversetzung. Lemański selbst dagegen sah in ihr einen normalen Vorgang und kam dem Ruf seines Bischofs ohne Widerstreben nach. Auch in seiner neuen Gemeinde setzte er sein christlich-jüdisches Engagement fort, das offenbar zunehmend das Missfallen der Priester des Dekanats fand, die denn auch beim Bischof gegen ihn intrigierten. Die Kurie entsandte eine Kommission nach Jasienica, um die gegen Pfarrer Lemański erhobenen Vorwürfe zu überprüfen. Beanstandet wurde vor allem, dass er seine Kirche mit Elementen der Synagoge ausgestattet habe. Konkret ging es um den „Thron des Wortes Gottes“ zur Aufbewahrung von Lektionar und Evangeliar in Form eines Thoraschreins. Lemański bat daraufhin seinen Ordinarius um eine Entscheidung in dieser Frage, erhielt aber keine Antwort.
Der Konflikt eskalierte, als Lemański Anfang Januar 2010 von Erzbischof Hoser vorgeladen wurde. Thema des Gesprächs war Lemańskis Engagement im christlich-jüdischen Dialog, wobei es grundsätzlich um die Frage ging, inwieweit überhaupt ein solcher Dialog mit den Juden erforderlich sei. Dabei ließ der Erzbischof durchblicken, dass nach seiner Erfahrung derlei Kontakte wenig Sinn machen. Jedenfalls fand er das Engagement seines Pfarrers für weit übertrieben und für einen Priester unangemessen. Lemański hielt dagegen, so dass das Gespräch mit wachsender Emotionalität geführt wurde. Schließlich fragte Erzbischof Hoser seinen Pfarrer rundheraus, ob er beschnitten sei. Als dieser die Frage als eines Bischofs unwürdig zurückwies, wiederholte er sie: „Sagen sie schon, ob Sie beschnitten sind, ob Sie dieser Nation angehören.“ Zutiefst verletzt kehrte Lemański nach Jasienica zurück. Über den Verlauf dieses Gesprächs informierte er unmittelbar danach seinen Vertrauten, den Chefredakteur von „Więź“. Beide wahrten über diesen skandalösen Vorgang Stillschweigen – bis ihn Lemański nach dreieinhalb Jahren auf dem Höhepunkt des Konflikts während eines Radiointerviews öffentlich machte.
Amtsenthebung und Suspendierung
Am 3. Juni 2013 verfügte Erzbischof Hoser per Dekret die Amtsenthebung von Lemański als Pfarrer von Jasienica: „Der Mangel an Wertschätzung und Gehorsam gegenüber dem Diözesanbischof und der Lehre der Bischöfe in Polen bezüglich bioethischer Fragen bewirken, dass ein weiterer Pfarrdienst unter der Amtsausübung des Diözesanbischofs unmöglich wird. Öffentlich geäußerte Ansichten erfüllen nicht die Erfordernisse des Rechts und stiften ernsten Schaden und Verwirrung in der Gemeinschaft der Kirche.“
Das Dekret enthält keinen Hinweis auf den Dissens in Fragen der Einstellung zum Judentum, wenngleich Lemański der Überzeugung ist, dass sein Engagement im christlich-jüdischen Dialog für seine Amtsenthebung mitentscheidend gewesen ist. Auch bleibt Erzbischof Hoser den Beweis schuldig, dass Lemański gegen die bioethische Lehre der Kirche konkret verstoßen hat und belässt es bei einer bloßen Behauptung. Wahr ist, dass Lemański das bioethische Dokument des Polnischen Episkopats kritisiert hat, und zwar öffentlich im Fernsehen. Doch seine Kritik betraf lediglich die für einen durchschnittlichen Leser unverständliche Sprache, ein mangelndes Mitgefühl für Frauen, die unfruchtbar sind, sowie die im Unterschied zu dem in vitro gewidmeten vatikanischen Dokument weit schärfere Verurteilung. Zudem hatte er sich gegen die Äußerung eines Mitglieds des bioethischen Rates der Bischofskonferenz gewandt, der behauptet hatte, dass es „Ärzte gibt, die beim bloßen Anblick eines Kindes bereits wissen, dass es in vitro empfangen wurde. denn es besitzt eine zusätzliche Falte, charakteristisch für einen gewissen genetischen Defekt.“ Eine Frau, die vor über 20 Jahren als erste Polin der Methode in vitro ihr Leben verdankt, hatte aus Empörung über diese Diskriminierung ihren Kirchenaustritt erklärt, von dem Lemański sie mit den Worten zurückhalten wollte: „Sie haben in der Kirche ihren Platz. Und erlauben Sie nicht, aus diesem Ort vertrieben zu werden.“
Der zweite Vorwurf betrifft Lemańskis öffentlich geäußerte Ansichten. So kritisierte er beispielsweise ein zu zögerliches Vorgehen gegen Pädophilie unter Priestern oder eine zu große Distanz der Bischöfe vom Alltagsleben der Gläubigen, zumal der Jugend. Doch seine Kritik zielte keineswegs darauf, der Kirche zu schaden, sondern im Gegenteil, Schaden von ihr fern zu halten. Auch wollte er nicht Verwirrung stiften, sondern Klarheit schaffen. Man mag auch darüber streiten, ob es von Lemański klug war, seinen Konflikt mit dem Bischof öffentlich zu machen. Aber dann wäre gleichfalls zu fragen, ob es nicht auch von Seiten seines Ordinarius unklug, ja nicht rechtens war, in welcher Weise und mit welcher Beharrlichkeit dieser den Konflikt mit seinem Priester provoziert hat. Wenn der Erzbischof beispielsweise in einem Interview mit der rechtsnationalen Zeitschrift „Do Rzeczy“ bedauert, dass Lemański nicht einsieht, wie seine öffentlichen Äußerungen von der laikalen Presse dazu benutzt werden, ihn zu attackieren, dann zeugt dies auch von einem gehörigen Mangel an Selbstkritik. Im Übrigen wurde Lemański selbst zur Zielscheibe übler Angriffe rechtskatholischer Kreise. Auf den ihm verliehenen Titel „Oberrabbiner der Diözese Warschau-Praga“ reagiert er mit einem Augenzwinkern, doch tief verletzt fühlt er sich, wenn man ihn als „verkörperten Teufel, Beelzebub oder Freimaurer“ bezeichnete.
Es hat in dem Konflikt nicht an Beschwerden und Vermittlungsversuchen gefehlt. So wandte sich der Pfarrgemeinderat von Jasienica an den Nuntius „mit der Bitte, den Erzbischof daran zu erinnern, worauf der Dienst des Bischof im Verhältnis zu den ihm anvertrauten ‚Schafen‘ beruht. In keiner Weise ist er um das Wohl der Gemeindeglieder in Jasienica besorgt und achtet es nicht.“ Eine Woche nach Erlass des Dekrets mühte sich der Chefredakteur von „Więź“ in einem persönlichen Gespräch mit dem Erzbischof um eine versöhnliche Lösung des Konflikts. Vergeblich. Am 22. August 2014 entschloss sich Erzbischof Hoser dazu, den Konflikt auf seine Weise zu beenden; er suspendierte Lemański wegen anhaltenden Ungehorsams und untersagte ihm ausdrücklich, priesterliche Kleidung zu tragen und als Priester in Erscheinung zu treten. Gegen diese Entscheidung legte Lemański beim Apostolischen Stuhl Berufung ein und übt – zum Ärger der Kurie – bis zu dessen Entscheidung weiterhin priesterliche Funktionen aus, so als Konzelebrant beim Requiem für den ehemaligen Dissidenten, späteren Außenminister und im christlich-jüdischen Dialog engagierten Bartoszewski.
Die Intervention des Chefredakteurs der „Gazeta Wyborcza“ und seines Kollegen bei Papst Franziskus blieb erfolglos. Immerhin gab es aus dem näheren Umfeld des Papstes auf den offenen Brief eine anerkennende Reaktion, die allerdings keine Rehabilitierung des von seinem Ordinarius suspendierten Priesters bwikte, der – wie die Initiatoren des offenen Briefes betonen – gegen „Konformismus und Schmeichelei“ immun ist und ganz dem Bild entspricht, das der Papst in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ von einem wahren Priester entworfen hat.
5 Jahre nach Verhängung der Suspension hat nun der Nachfolger des emeritierten Erzbischofs Hoser, Bischof Kamiński, als eine seiner ersten Entscheidungen diese aufgehoben. Damit wurde, wenngleich verspätet, dem Priester Lemański Gerechtigkeit zuteil. Doch nicht nur das. Der Konflikt zwischen ihm und seinem Bischof, zwischen ihren jeweiligen Anhängern, war im Grunde ein Streit um die Kirche in Polen, um einen christlichen Humanismus, um den Wert des Nonkonformismus in einer Institution, in der weitgehend das Recht der Entscheidung des Hierarchen unterliegt.
Es ist gewiss eine kluge Entscheidung, dass Lemański seinen priesterlichen Dienst nunmehr nicht in seiner vom Konflikt bestimmten Heimatdiözese, sondern in der Erzdiözese £ódź ausüben wird. Der dortige neue Erzbischof Ryś gilt als dialogoffen, so dass damit gerechnet werden kann, dass Lemański bei ihm Verständnis finden wird und ein neuerlicher Konflikt vermieden werden kann.
Benutzte Literatur: Michnik i Mikołajewski do Franciszka: „Ojcze Święty, piszemy do Ciebie w sprawie ks. Lemańskiego i Kościała w Polsce“ (list otwarty), http://12,75478,17707183, Michnik-i-Mikołajewski-do-Franciszka. Ksiądz Lemański ma głos, Tygodnik Powszechny 30/2013, S. 16-18. Zbigniew Nosowski, Kalendarium katastrofy, Tygodnik Powszechny 29/2013, S. 3-5. Jarosław Mikołajewski, Sprawa ks. Lemańskiego to spór o humanizm, Gazeta Wyborsza v. 14. 07. 2018.