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Orbańs Pflege des nationalen Traumas

Man stelle sich vor, Bundeskanzlerin Angela Merkel ließe sich gemeinsam mit einem Staatsgast vor einer Deutschlandkarte in den Grenzen von 1938 fotografieren. Die Veröffentlichung eines solchen Bildes wäre ein Skandal sondergleichen. Er würde ein politisches Erdbeben auslösen und der Kanzlerin ihr Amt kosten.

Nichts dergleichen geschah, als der ungarische Premier Viktor Orbań sich mit seinem polnischen Kollegen Tadeusz Morawiecki vor einer Ungarnkarte in den Grenzen vor 1920 ablichten ließ, also vor dem Vertrag von Trianon, durch den Ungarn 2/3 seines Territoriums einbüßte und von den 21 Millionen Ungarn sich gut 14 Millionen mit einem Male außerhalb der Landesgrenzen versetzt sahen, vor allem in Rumänien und der Slowakei. Allerdings bleibt zu bedenken, dass Ungarn vor der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Donaumonarchie war und die Magyaren in diesem großräumigen Königreich eine Minderheit darstellten.

Man kann verstehen, dass für die Ungarn das „Friedensdiktat“, wie sie über Parteigrenzen hinweg den Vertrag von Trianon nennen, ein nationales Trauma ist, allerdings ein Trauma, das von Orbań und seiner nationalistischen Fidesz-Partei sorgfältig gepflegt wird. So zelebriert Orbań nicht etwa trotz, sondern geradezu wegen Trianon die nationale Einheit aller Ungarn. Den 4. Juni, den Tag der Unterzeichnung des Vertrages, begeht Ungarn als Staatsfeiertag nationaler Einheit. Die Fahnen wehen auf halbmast. Auf zahlreichen Kundgebungen wird an die „Schmach“ von Trianon erinnert und die Einheit der Nation beschworen.

Auch sonst fehlt es nicht an Belegen für die Pflege dieses Traumas. Die Wetterkarte im Fernsehen umfasst, dunkelgrün gekennzeichnet, Ungarn in den Grenzen vor 1920, in deren Rahmen die jetzige Landesfläche grau eigezeichnet ist. Nahe der Grenze zur Slowakei befindet sich in der Kleinstadt Sátoraljańjhely ein an Großungarn erinnernder nationaler Kreuzweg. Die 14 Kapellen tragen Namen von Städten außerhalb des jetzigen Staatsgebiets. Errichtet wurde dieses nationale Kalvaria 1936 aus Anlass des 15. Jahrestages von Trianon. Man wollte mit dieser nationalen Kultstätte, wie in der Information zu lesen ist, „dem Nachbarvolk verkünden, dass Ungarn wieder von Neuem eine Einheit sein wird.“

In dem unweit von Budapest gelegenen Ort Várpalota gibt es ein Trianon gewidmetes Museum. Vor dem Gebäude hängt die Staatsflagge ständig auf halbmast. Im Inneren wird der Besucher mit den Folgen des „Friedensdiktats konfrontiert: Mit den für diese nationale Katastrophe verantwortlichen Politkern, mit den erlittenen territorialen und materiellen Verlusten, mit revisionistischen Plakaten der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Besuch des Museums ist Teil des Schulprogramms und dient einer Festigung nationaler Identität auf der Basis der Tragödie von Trianon. Für die in den „verlorenen Gebieten“ ansässigen Ungarn ist der Eintritt frei.

Erwähnenswert ist schließlich noch eine Trianon gewidmete Rockoper, die am 4. Juni, am Tag nationaler Einheit, zur Aufführung gelangt. Das Ensemble umfasst 15 bekannte ungarische Musiker, 20 Schauspieler, 100 Statisten und dutzende Pferde. Die Zuschauer erleben ein pompöses, jede nationale Selbstkritik entbehrendes Spektakel. Die Kollaboration mit Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg wird ebenso ausgeblendet wie Ungarns Anteil am Holocaust. Dafür ein nationales Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an den einen Gott. Ich glaube an das eine Vaterland. Ich glaube an die ewige göttliche Gerechtigkeit. Ich glaube an die Auferstehung Ungarns. Amen.“

Auch wenn Orbań keine Grenzkorrekturen fordert, wobei diese mit der Mitgliedschaft in der Europäische Union unvereinbar und ohnehin nicht durchsetzbar wären, so ist doch dieser propagandistische, auf eine ferne Zukunft zielende Revisionismus ein gefährliches Spiel.

Quelle: Dominik Héjj, Jeszcze będziemy jednością (Wir werden noch eine Einheit sein), Tygodnik Powszechny v. 29. 07. 2018, S. 56 – 59.

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