Der Film „Kler“
Wann geschieht es schon einmal, dass in einem Lichtspielhaus ein Film vom frühen Morgen bis in den späten Abend ununterbrochen läuft? Zwanzigmal an einem Tag. In Polen war dies der Fall. Den Film des Regisseurs Wojciech Smarzowski mit dem lapidaren Titel „Kler“ (Klerus) sahen allein in den ersten Tagen nach der Premiere eineinhalb Millionen Kinobesucher. Ein bislang unerreichter Rekord.
Doch es gibt auch Städte, in denen der Film nicht gezeigt wird; Städte, in denen die Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) das Sagen hat und sich die Kinosäle im städtischen Besitz befinden. Dort stehen sie auf Anordnung des Stadtpräsidenten für eine Vorführung dieses Filmes nicht zur Verfügung.
Der Film hat pathologische Erscheinungen innerhalb der polnischen Kirche zum Inhalt: Alkoholismus, Klerikalismus, Zölibatsprobleme, Kindesmissbrauch. Die rechtsnationalen Medien sehen in ihm einen Anschlag auf die Kirche und damit zugleich eine Verletzung der Würde der Nation. In der „Gazeta Polska“ ist geradezu von einer Verschwörung des vom „Genderismus und islamischen Horden“ bedrohten Westens die Rede. Nur in einer solchen Atmosphäre könne das Vorhaben entstanden sein, „die Polen zum Aufstand gegen die Priester aufzurufen. Nur in den Köpfen der Feinde Polens konnte ein solcher Plan entstehen.“
Überraschend zurückhaltend verhalten sich dagegen Polens Bischöfe. Und es fehlt nicht an Stimmen einzelner Ordinarien und Priester, die den Film nicht rundweg als antikirchlich ablehnen, sondern sich der in ihm angesprochenen Problematik stellen. Einer von ihnen ist der Prior des Kattowitzer Dominikanerklosters. Unter dem Titel „Ich war in dem Film `Kler`“ hat er seine Eindrücke auf der Internetplattform der Dominikaner veröffentlicht. Und er bekennt: „Für mich ist der Film „Kler“ vor allem eine Manifestation der Solidarität mit den Opfern. Sie sind hier das allerwichtigste; das allerwichtigste ist, ihnen eine Stimme zu geben an ihrer Seite zu stehen, gemeinsam mit ihnen. Im Namen aller Opfer. Kinder, Frauen, Männer … auch Priester.“ Der Film sei ein Spiegel der Wirklichkeit, und man müsse bereit sein, in ihn zu schauen, sich dem auszusetzen, was der Film zeigt.
Einige Aspekte der Filmhandlung
Doch was zeigt dieser Film? Es sind vier Kleriker, welche die Filmhandlung bestimmen: zwei Gemeindepfarrer, ein zur Kurie gehörender, für Baufragen zuständiger Priester sowie ihr Erzbischof.
Der eine Gemeindepfarrer vergeht sich sexuell an einem Ministranten. Der Fall lässt sich nicht verheimlichen. Nach einer Beerdigung stürmt eine wütende Menge auf ihn ein und zwingt ihn zur Flucht. Doch seiner Tat kann er nicht entfliehen – nicht äußerlich und vor allem nicht innerlich. Zu schwer lastet die Schuld auf ihm. Der Erzbischof zieht ihn aus dem Verkehr und schickt ihn zur Buße in ein Priesterheim. Dort trifft er jenen Kleriker, der ihn in seiner Kindheit missbraucht hat. Eine bedrückende Szene: Ein alter Mann im Rollstuhl mit erstarrtem Gesicht, die Lippen verschlossen. Kein Wort der Reue, der Entschuldigung. Keine innere Befreiung für den Gemeindepfarrer, der als Opfer zum Täter wurde, und der wenig später unter Tränen vom Altar aus seiner Gemeinde sein Schicksal und seine Schuld offenbart.
Der zweite, jüngere Pfarrer ist dem Alkohol verfallen. Verzweifelt bemüht sich seine Haushälterin, ihn von seiner Sucht abzubringen. Unter Alkoholeinfluss verursacht er mit seinem Wagen einen Unfall, bei dem ein Mann später an den Folgen der Verletzung stirbt. Doch es kommt zu keiner Beweisaufnahme. Ein Anruf des Priesters genügt, und die beiden Polizeibeamten verlassen unverrichteter Dinge den Tatort.
Unwissend, dass ihr Pfarrer den Tod des Familienvaters verschuldet hat, kommen die Angehörigen in ihrer Trauer zu ihm und bitten um die Beerdigung. Der Priester offenbart sich ihnen gegenüber nicht, erlässt ihnen aber die üblichen Stolgebühren und erhält dafür den überschwänglichen Dank der Hinterbliebenen. Er unternimmt einige halbherzige Versuche, sich der Polizei zu stellen, doch seine Haushälterin verschafft ihm ein Alibi und erspart ihm so die Haft: Beide sind übrigens ein Paar. Als sich Nachwuchs einstellt, überredet der Priester seine Geliebte zur Abtreibung, will diese aber, wenngleich vergeblich, in einem dramatischen Bemühen im letzten Augenblick verhindern. Am Ende scheidet der Priester aus dem Amt, bekennt sich zu der Frau, gießt allen Alkohol in die Spüle, und das Paar wagt einen Neuanfang.
Anders der Fall des für Baufragen zuständigen Priesters. Ein intelligenter Mann, der zielstrebig seine Karriere verfolgt. Es zieht ihn nach Rom als Mitglied einer vatikanischen Kommission. Doch sein Ordinarius gibt ihn nicht frei. Er braucht ihn für seine korrupten Machenschaften. Aber der Karrierist weiß sich zu helfen. In einem unbewachten Augenblick installiert er im Büro des Erzbischofs eine Kamera und sammelt auf diese Weise ein reiches, ihn bloßstellendes Material. Und mit diesem Material erpresst er sich die Ausreise nach Rom.
Schließlich der Erzbischof, die reine Verkörperung des Klerikalismus. Er pflegt in seiner Residenz einen herrschaftlichen Lebensstil mit vielen Gelagen, ist gebieterisch gegenüber den ihm unterstellten Klerikern, verfügt über enge Beziehungen zu Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Staat und wähnt sich dadurch über dem geltenden Recht. Bestechungsgelder fließen in reicher Fülle.
Der Regisseur hat dieser Figur groteske Züge verliehen. Ein Priester ist eigens dazu abgestellt, wie einst David bei Saul, den Erzbischof mit seiner Musik in Stunden der Depression aufzuheitern. Und im krassen Gegensatz zu seinem herrschaftlichen Gebaren sieht man ihn auf allen Vieren kriechend, von einer Domina gepeitscht.
Der Film ist voller Bilder, die sich dem Besucher tief einprägen. Gleichsam als Prolog sieht man als erstes den des Kindermissbrauchs schuldig gewordenen Pfarrer in einer engen Badewanne hockend. Kein reinigendes Wasser fließt. Eine Bild trostloser Verlassenheit. Eine bischöfliche Festtafel weckt ikonographisch die Assoziation des Abendmahlgemäldes von Leonardo da Vinci. Zufrieden darüber, die Veröffentlichung eines kirchlichen Skandals verhindert zu haben, kippen sie auf Kommando ein Glas Wodka in sich hinein. Der Betrachter spürt den Abgrund, der sich zwischen den Jüngern und ihrem Meister am Abend vor dessen Leiden und den gleichfalls zu seiner Nachfolge berufenen Klerikern auftut. Oder die Erinnerung des Karrierepriesters an seine Kindheit in einem von Schwestern geleiteten Kinderheim. Als Bettnässer wird er vor allen andern Heiminsassen gedemütigt, wird zur Strafe auf Anweisung der Schwester von einem größeren, brutalen Jungen verprügelt und dazu noch im Beisein der Schwester von einigen Zöglingen vergewaltigt.
Die letzten Bilder des Films zeigen eine pompöse Großveranstaltung mit zahlreichen Bischöfen, auf der sich der Klerus gleichsam selbst feiert. Sie findet statt auf einem dazu eigens hergerichteten Platz. Bei den Bauarbeiten waren Opfer des letzten Krieges entdeckt worden. Doch mit Schmiergeldern hatte der Erzbischof dafür gesorgt, dass die Funde nicht gemeldet und die Toten an Ort und Stelle einbetoniert wurden. Inmitten der Menge steht der unter seiner Schuld leidende Gemeindepfarrer. Er übergießt sich mit Benzin, zündet sich an; keiner versucht, die Flammen zu löschen; die Festversammlung löst sich auf, formt sich zu einem Kreis, in dessen Zentrum der kreuzförmig am Boden liegende Pfarrer langsam verglüht. Es ist das letzte Bild, mit dem die Kinobesucher entlassen werden.
Die Wirkung des Films
Einige Bischöfe haben unter dem Eindruck von „Kler“ und der durch den Film ausgelösten öffentlichen Diskussion die klerikalen Missbrauchsfälle bekannt gegeben. So auch der Oppelner Bischof Andrzej Czaja, der von sich sagt, der Film habe ihn nicht empört, sondern Anlass zum Nachdenken gegeben. Die Frucht seines Nachdenkens ist ein im sonntäglichen Gottesdienst von allen Kanzeln verlesener Hirtenbrief, in dem er zum klerikalen Kindesmissbrauch in seiner Diözese Stellung bezieht. Er nennt die Zahl der betroffenen Priester, die gegen sie verfügten kirchlichen Maßnahmen sowie die Schuldsprüche der Gerichte. Sein Mitgefühl, so Bischof Czaja, gelte in besonderer Weise den Opfern. „Wir sind angesichts des geschehenen Unrechts, das nicht wieder gut gemacht werden kann, voller Schmerz, Scham und Ratlosigkeit. […] Ihr Leiden und ihren Schmerz, das, was sie durchlitten haben, ist unvorstellbar und unmöglich beschreibbar. […] Daher kann es bezüglich eines solchen Verbrechens keine andere Option geben als Null Toleranz für die Täter und volle Unterstützung für die Opfer und ihre nächsten Angehörigen. […] Wer Kenntnis von einem sexuellen Kindermissbrauch besitzt, der hat die Pflicht, dies der Staatsanwaltschaft zu melden.“
Am Ende stellt sich die Frage, ob sich Polens Kirche als Ganzes durch „Kler“ zum Nachdenken bewegen lässt und sich die Bischofskonferenz mit dem im Film vorgestellten Grundübel des Klerikalismus als Quelle aller in ihm thematisierten pathologischen Erscheinungen ernsthaft befassen wird.