Jung und alt – zwei Welten?
- Theo Mechtenberg
- 18. Nov. 2018
- 3 Min. Lesezeit
Dass Polen politisch zweigeeilt ist, in die Vertreter und Anhänger der westlich orientierten „Bürgerplattform“ und „Moderne“ sowie in die derzeit regierende nationalkonservative Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist keine Neuigkeit. Bedurfte es noch eines Beweises, so wurde dieser erneut durch die Selbstverwaltungswahlen vom Oktober 2018 erbracht. Der Westteil des Landes wählte die Koalition aus „Bürgerplattform“ und „Moderne“, der Osten ging an die Nationalkonservativen.
Der Historiker und Chefredakteur der Zeitschrift „Kultura Liberalna“ Jarosław Kulisz hat nun auf eine weitere gesellschaftliche Spaltung verwiesen, die er für die Zukunft Polens für besonders bedeutsam hält. Er sieht die Jugend durch den Dauerstreit der beiden politischen Lager marginalisiert und behauptet in einem der „Gazeta Wyborzca“ gewährten Interview einen tiefen Riss zwischen der Jugend und den älteren Generationen.
Seine in einem Buch breiter ausgeführte These: Während die Jugend in einen unabhängigen Staat hineingeboren wurde, gewannen die Alten ihre Lebenserfahrung in den Jahrzehnten des Kommunismus und zum Teil noch durch den Zweiten Weltkrieg. Ihr Denken und Handeln sei daher stark durch das Trauma des Verlustes der Unabhängigkeit bestimmt.
Dabei hat Kulisz insbesondere die regierenden Nationalkonservativen im Blick, die dieses Verlusttrauma kultivieren. Statt die über 100 Jahre der Aufteilung des Landes aus einer historischen Distanz zu betrachten und zu reflektieren, würden sie in dieser zurückliegenden Epoche eine Analogie zur Jetztzeit sehen. Jenes Trauma habe sich tief in das nationale Bewusstsein eingeprägt, zumal Polen nach den Teilungen seine durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs ermöglichte Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg und in den darauf folgenden Jahrzehnten des Kommunismus wieder eingebüßt habe. Dieses Trauma sei daher immer abrufbar, und es werde von den Nationalkonservativen auch abgerufen.
Selbst die diesjährige Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit am 11. November habe mit diesem Trauma in Verbindung gestanden. Mit dem Gedenken an die Rückgewinnung der Unabhängigkeit sei das Bewusstsein ihres möglichen Verlustes eng verbunden gewesen und in den Gestaltungsformen und Reden zum Ausdruck gekommen. Man glaube, der Verlust der Unabhängigkeit sei stets möglich. Auch die Menschen in der Adelsrepublik hätten sich nicht träumen lassen, dass nach einer 800järigen, zeitweise glorreichen Epoche die Unabhängigkeit verloren gehen könne. Und doch ist diese Katastrophe eingetreten. Es gelte daher, stets um die Unabhängigkeit zu kämpfen. Sie sei eben nicht gesichert, mit ihrer Bedrohung müsse man ständig rechnen.
Kulisz fordert, mit diesem Denken müsse Schluss sein. Dabei weiß er natürlich, dass die in der Zeit der Teilungen entstandene Nationalkultur durch dieses Trauma bestimmt ist und durch die Literatur und Kunst jener Zeit tradiert wird. Doch statt sich an diesem Trauma zu orientieren, ja sich mit ihm zu identifizieren, fordert er eine Distanz für eine kritische Reflexion der Vergangenheit aus der Perspektive des Heute.
Vor allem um der Jugend willen sei eine Verabschiedung von diesem Verlusttrauma erforderlich: „Schluss mit dieser ganzen militärischen Metaphorik. Das sind inadäquate und anachronistische Begriffe, über die die Jugend lacht.“ Für sie seien die konkreten Alltagsprobleme wichtig und nicht der Streit der Alten um die Konstitution. Ihr gehe es um Einhaltung des Arbeitsrechts, um gerechten Lohn. Ihr Grundsatz sei: „Sollen sich doch die Alten austoben. Wir wollen in unserem unabhängigen Staat leben, der es uns ermöglicht, unsere Freiheit frei zu gestalten und zu reisen, wohin es uns zieht.“ Dabei lehne sich die Jugend nicht gegen die Älteren auf, so dass von einem Generationskonflikt keine Rede sein könne. Die Jungen schauen nur zu, wie sie sich streiten, marschieren und patriotische Lieder singen. Ihre Welt sei das nicht.
Was der Jugend allerdings fehle, sei eine eigene politische Repräsentanz. Die finde sie nicht in den jetzigen Parteien. Sie brauche eine eigene politische Sprache, keine aus dem Ausland entlehnte, und erst recht nicht die Sprache der Rechtsradikalen, der leider ein Teil der Jugend erliege. Notwendig sei vielmehr der Glaube, dass die staatliche Unabhängigkeit Bestand habe, dass die Sicherheit Polens durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der NATO gewährleistet sei. Frei vom nationalen Trauma könne und müsse man sich den wahren Aufgaben zuwenden: „Wir sehen, dass wir trotz Phrasen und Versprechungen keine Reform des Gesundheitswesens haben. Wir sehen, dass unsere Rente in 20 Jahren ein paar groteske Groschen betragen wird. Wenn wir nicht beginnen, uns dieser Themen überparteilich und quer durch alle Generationen anzunehmen, dann ändert sich nichts. Wenn wir nicht an den Staat glauben und uns nicht mit seiner Zukunft befassen – und ständig Angst haben, der Staat könne gleich untergehen -, dann kann man sich schwerlich wundern, dass keiner die großen Reformen ernst nimmt.“
Kulisz ist Historiker. Ob seine Analyse eines tiefen Risses zwischen Alt und Jung zutrifft, muss durch Soziologen verifiziert werden. Möglich, dass er durch seine Überlegungen eine entsprechende Diskussion angeregt hat.
Quelle: Jarosław Kulisz, Niech się starzy wyszumią. A my budujmy kraj (Sollen sich die Alten austoben. Erbauen wir das Land), Gazeta Wyborzca v. 17, 11. 2018.
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