Eine Brandrede zum Niedergang der Kultur
Der europäische Literaturpreis ging in diesem Jahr an die französische Schriftstellerin Géraldine Schwarz für ihren Roman „Les Amnesiques“ sowie an den ungarischen Journalisten und Publizisten Paul Lendvai für den Essay „Orban Europe’s Strongman“. Den Ehrenpreis erhielt Pilippe Sands für „Heimkehr nach Lemberg. Zur Genese des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Aus Anlass dieser Preisverleihung hielt Krzysztof Warlikowski, Direktor des Neuen Theaters in Warschau und Vorsitzender der Jury, vor dem Europaparlament am 05. Dezember eine Brandrede zum Niedergang der Kultur in Teilen Europas.
Zur Situation in Polen sagte er: „Ich komme aus Polen, aus dem Land, das nach der Systemtransformation die gesellschaftliche Gruppe der sogenannten Intelligenz verloren hat und wo man nach und nach begann, neue Autoritäten, auch im Kultursektor, zu installieren. Gleichzeitig wurde die Kultur, ähnlich wie in anderen Lebensbereichen, zu einem Teil des freien Marktes, der eine Umkehrung der Kriterien und Werte bewirkte. Fernsehen, Presse und Medien wurden unvermeidlich zu einer Produktionsmaschine reklamehafter Oberflächlichkeit Das für die Kunst so wichtige Freisein von Interessen verlor seine Bedeutung. Alle begannen damit, den trivialen Geschmäckern und niederen Bedürfnissen zu schmeicheln. Augen und Köpfe stopfte man mit Kitsch und Dummheit. Die Menschen sollten konsumieren, die verräterischen kunstähnlichen Produkte kaufen. Dieser Prozess ist wohl für die Kultur einer Gesellschaft ruinöser als der Handel mit gefälschten Marken für die Unternehmen.
Diese Entwicklung sei nicht auf Polen beschränkt, doch Polen und die Länder Osteuropas würden sich für diese Verdummung besonders empfänglich.
Warlikowski erinnert an die Zeit des Kommunismus, als sich vor den Buchläden lange Schlangen bildeten, um eine westliche Neuerscheinung zu erwerben, etwa Becketts Dramen. Man hat damals geglaubt, durch den Erwerb solcher Bücher „Zugang zur europäischen Kultur zu erhalten, in Europa zu verbleiben. Es verging eine kurze Zeit, und die Bücher büßten ihren Rang und ihre Bedeutung ein. Die Leserschaft schrumpfte gewaltig, die Bücher verwandelten sich in Produkte. Ratgeber füllten die Regale der Buchhändlerketten, und die wahren Buchhandlungen verschwanden allmählich.
Heute verstehen 40% der Polen nicht, was sie lesen. Weitere 30% verstehen nur bis zu einem gewissen Grad. Jeder neunte Absolvent der Grundschule kann nicht lesen. Jeder sechste polnische Magister ist ein funktionaler Analphabet. 6,2 Millionen Polen befinden sich außerhalb der Schriftkultur, d. h. sie lesen NICHTS, nicht einmal Artikel in einem Klatschblatt. 40% der Polen haben Probleme, Fahrpläne und Wetterkarten zu verstehen.“
Ähnliches gäbe es auch in anderen europäischen Ländern, vor allem in solchen mit nationalistischen Bewegungen. Und Warlikowski fragt. „Ist es Zufall, dass in diesen Ländern die extrem nationalistischen Bewegungen proportional zum Niedergang der Leserschaft an Kraft gewinnen?!“ Diese Entwicklung bedrohe „Europa und die Demokratie“.
Warlikowski sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem kulturellen Niedergang und der „Abkehr Polens vom Weg der Freiheit und der Demokratie hin zu einem autoritären System und einem Staat, der den Bürgern die Prinzipien eines von der Kirche diktierten Lebens aufzwingt. Das macht mir die Wahl der extremen Rechten bei einer niedrigen Wahlbeteiligung verständlich. Dies ist die Folge von kultureller Vernachlässigung und einer zunehmenden Verdummung der Gesellschaft; eines politischen Analphabetismus, den die Populisten gern und erbarmungslos ausnutzen. Polen ist hier ein krasses Beispiel, doch nicht das einzige.“
Quelle: Warlikowski: w europarlamencie: 40% Polaków nie rozumie tego, co czyta (Warlikowski im Europaparlament: 40% der Polen verstehen nicht, was sie lesen), Gazeta Wyborzca v. 15. 12. 2018.