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Der Umgang der polnischen Kirche mit ihren Missbrauchsfällen

Der in den letzten Jahren öffentlich gewordene weltweit von Priestern begangene sexuelle Missbrauch Minderjähriger hat die Kirche in eine tiefe Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise gestürzt. Ans Licht gekommen ist, was jahrzehntelang nach allgemeiner Praxis vertuscht worden war. Die Bischöfe und der Vatikan hatten das Jesuswort ignoriert, wonach „nichts verborgen ist, was nicht bekannt wird.“ Und nun ruft man gleichsam „von den Dächern“, was man verheimlichen wollte. (Lk 12, 2) Die Kirche sollte nach außen vor „Flecken“ bewahrt werden (Eph 5,27), doch genau dadurch wurde sie zu einer Missgestalt, von der sich nun viele mit Abscheu abwenden.

Voller Schmerz und fassungslos nehmen Gläubige, die trotz allem der Kirche die Treue halten, den ganzen Umfang und die Details der Missbrauchsfälle zur Kenntnis. The Pennsylvania Report on Child Sexual Abus by Catholic Clersy listet auf 1300 Seiten die im Verlauf der letzten 70 Jahre begangenen Taten von 300 Priestern aus acht untersuchten Diözesen auf. Über 1000 Opfer sind zu beklagen. Allein 300 Täter in einem einzigen der 50 Bundesstaaten! Gerichte in den USA haben Bistümer zu hohen Entschädigungssummen verurteilt und damit manche von ihnen an den Rand finanziellen Ruins gebracht. Irland, einst ein Leuchtturm des Glaubens, bereitete Papst Franziskus wegen der dortigen Fülle an Kindesmissbrauch einen kühlen und kritischen Empfang. Die Bischöfe des Landes erlitten einen derartigen moralischen Autoritätsverlust, dass sie kaum wegen der plötzlich anschwellenden Säkularisierungstendenzen sowie gegen die gesetzliche Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen das Wort ergriffen.

Am 25. September stellte dann Kardinal Reinhard Marx als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz die den Zeitraum von 1946 – 2014 umfassende Missbrauchsstudie vor. Ermittelt wurde die erschreckende Anzahl von 3677 Opfern, die 1670 Kleriker zu verantworten haben. Und dabei ist diese Studie keineswegs vollständig. Kardinal Marx weiß, wieviel Vertrauen verloren gegangen ist und wie schwierig es sein wird, es zurückzugewinnen. Diese Erhebung soll keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen, sondern den Anfang ernsthafter Überlegungen bilden, wie in Zukunft, auch durch einschneidende Strukturreformen, derartige Verbrechen vermieden werden können.

Polens Kirche von diesen Fakten unberührt?

Mit 44 Diözesen und rund 300 Ordensgemeinschaften sowie mit der stattlichen Zahl von über 30 000 Priestern gleicht die polnische Kirche einer inzwischen einsamen katholischen Bastion in Europa. Doch anders als die deutschen Bischöfe hat der polnische Episkopat bis heute keine Missbrauchsstudie in Auftrag gegeben, und eine solche ist in naher Zukunft auch nicht zu erwarten. Doch der Druck der Öffentlichkeit auf die Kirche wächst. Die Medien berichten über Missbrauchsfälle. Großen Zulauf erhielt der Film „Kler“ (Klerus) über pädophile Priester und ihre Opfer. Er schlug alle Rekorde und wurde in der ersten Woche bereits von eineinhalb Millionen Polen besucht. Wohl auch unter seinem Eindruck sprachen sich in einer Umfrage der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ 73% der Respondenten für volle Transparenz im Kampf gegen die klerikale Pädophilie aus.

Gelegentlich kommt es auch zu Aktionen, die auf ihren an Minderjährige verübten sexuellen Missbrauch aufmerksam machen. So hingen unlängst am frühen Morgen an einer Warschauer Weichselbrücke Ballons mit den Namen von Opfern, und auf einem Spruchband war zu lesen „Stoppt den Missbrauch durch pädophile Priester“. Gegen sie demonstrierten am 7. Oktober in Warschau auf Einladung verschiedener Organisationen Tausende. Auf der Veranstaltung wurde eine Liste der Städte, Ortschaften und Dörfer verlesen, in denen sie ihre Verbrechen verübt hatten.

Von besonderer Bedeutung ist ein Prozess, bei dem nicht der in der Regel ohnehin finanzschwache Täter, sondern seine Ordensgemeinschaft dazu verurteilt wurde, dem Opfer eine Entschädigung von einer Million Zł., etwa 250 000 €, sowie eine lebenslange Rente zu zahlen. Die Ordensgemeinschaft legte gegen das Urteil Berufung ein, doch das Berufungsgericht bestätigte das Urteil der ersten Instanz. Die Ordensgemeinschaft erhob erneut Einspruch, so dass der Fall letztendlich durch das Oberste Gericht entschieden wird. Auch wenn es sich um keinen Musterprozess handelt, weil jeder vergleichbare Prozess individuell behandelt wird, so dürfte dieses Urteil, sollte es Bestand haben, doch richtungsweisend sein und könnte durch weitere Verfahren Polens Kirche vor enorme finanzielle Probleme stellen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Man kann nicht sagen, dass der polnische Episkopat die Augen vor dem Problem sexuellen Missbrauchs durch Priester verschließt und gänzlich untätig geblieben ist. Im März 2013 trafen die Bischöfe erste kanonische Maßnahmen für den Fall, dass Geistliche unsittlicher Handlungen an Minderjährige beschuldigt werden. Auf ihrer Sitzung am 9. Oktober 2013 verabschiedeten sie drei Dokumente, um den im Mai 2011 von der Glaubenskongregation erlassenen Vorschriften bezüglich der Vorgehensweise bei sexuellem Vergehen von Geistlichen an Kindern und Jugendlichen zu entsprechen. Damit besitzt Polens Kirche eine für alle Diözesen und Ordensgemeinschaften verbindliche Regelung, die seit langem angemahnt wurde. Bereits vor Jahren beklagte der Jesuit und Psychotherapeut Jacek Prusak die verbreitete Praxis, sexuelle Skandale von Priestern möglichst nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, um dem - wie man glaubte - guten Ruf der Kirche nicht zu schaden. Die Folge sei eine „falsche Solidarität“ des Klerus und eine Marginalisierung der Opfer, die man zudem auch noch für eine etwaige Verunglimpfung der Kirche verantwortlich mache. Bei den Tätern sei man dagegen allzu leicht zu Entschuldigungen bereit: „Die Umstände hätten ihn dazu gebracht, weil er einsam und überfordert war, nicht genügend geschützt wurde und mit dem Stress nicht zurecht kam.“ Mit der Versetzung der betroffenen Geistlichen in eine andere Pfarrei habe man die Sache für erledigt gehalten. Eine solche Praxis sei um der Opfer willen unverantwortlich. Sie bewirke, wie Erfahrungen in anderen Ländern gezeigt hätten, eine gewaltige Zunahme an kirchenfeindlicher Einstellung. Zumal das Beispiel der Kirche in den Vereinigten Staaten müsse der Kirche in Polen eine Warnung sein.

Bei den verabschiedeten Dokumenten handelt es sich um Richtlinien zu drei unterschiedlichen Komplexen. Der erste betrifft „konkrete Formen der Sorge um die Missbrauchsopfer“. Die Bischöfe sehen in ihr einen „fundamentalen Akt der Gerechtigkeit seitens der Gemeinschaft der Kirche, die Schmerz und Scham wegen der an Kindern und Jugendlichen verübten Vergehen empfindet.“ Die Bischofskonferenz verpflichtet den für den Missbrauchsfall zuständigen Ordinarius oder Ordensoberen „zu verschiedenen Formen geistiger und psychologischer Hilfeleistung gegenüber der geschädigten Person sowie gegenüber ihren Angehörigen.“

Im Wissen darum, dass durch derlei Vergehen ihrer Priester Vertrauen zerstört wird, verlangen die Bischöfe „gezielte Maßnahmen zur Wiederherstellung eines gesunden Vertrauens sowie eines für die Kontinuität pastoraler Arbeit notwendigen Klimas in einer von einem unwürdigen priesterlichen Verhalten betroffenen kirchlichen Gemeinschaft.“

Die zweite Richtlinie regelt das kanonische Prozedere im Falle eines Anfangsverdachts von Pädophilie eines Geistlichen. Im Einzelnen handelt es sich um die Verpflichtung zur Entgegennahme einer Anzeige, um die Vorgehensweise zur Untersuchung des Falls und seiner Umstände sowie bei der Sammlung von Beweisen und ihrer Dokumentation.

In jedem Einzelfall sei der geschädigten Peron deutlich zu machen, „dass es sich bei dem kanonischen Prozedere einzig und allein um einen innerkirchlichen Vorgang handelt, unbeschadet des Rechts der betroffenen Person, in Übereinstimmung mit den polnischen Rechtsvorschriften bei den staatlichen Verfolgungsorganen Anzeige zu erstatten.“ Damit sehen sich die Bischöfe selbst nicht genötigt, ihnen bekannt gewordene Fälle der Staatsanwalt mitzuteilen.

Was den in Verdacht geratenen Priester betrifft, so „kann“ ihn der kirchliche Vorgesetzte seiner pastoralen Pflichten entbinden. Er soll ihm aber „entsprechende psychologisch-therapeutische Hilfe zukommen lassen und ihm einen Wohnort anweisen.“

Wird die Glaubwürdigkeit der Anzeige aufgrund der Voruntersuchung festgestellt, dann hat der kirchliche Vorgesetzte die Angelegenheit der Glaubenskongregation zu übermitteln. Bestätigt sich dagegen der Anfangsverdacht nicht, dann ist der kirchliche Vorgesetzte gehalten, „den zu Unrecht verdächtigten Geistlichen wieder mit seinen Pflichten zu betrauen, von denen er entbunden wurde, und alles zu tun, um seinen guten Namen wieder herzustellen.“

Die dritte Richtlinie hat präventive Maßnahmen zum Inhalt. Im Fokus steht die Priesterausbildung. Bereits vor der Aufnahme eines Kandidaten ins Seminar oder ins Kloster soll mit ihm zur Erkundung seiner die Sexualsphäre betreffenden eventuellen Schwierigkeiten ein eingehendes Gespräch geführt werden, um sich über den Stand seiner sexuellen Reife bzw. über das Auftreten eventueller Abnormalitäten zu orientieren. Werden bei einem Kandidaten „Störungen im Sexualbereich, insbesondere eine tief verwurzelte homosexuelle Orientierung, festgestellt“, dann ist er abzuweisen. Im weiteren Verlauf der Priesterausbildung soll die mit der Formung sexueller Reife verbundene Thematik Gegenstand von Vorlesungen und Konferenzen sein. Auch sind Priesteramtskandidaten und angehende Ordensleute über die Handhabung von Missbrauchsfällen nach kanonischem wie nach staatlichem Recht in Kenntnis zu setzen. Vor der Zulassung zur Priesterweihe bzw. zur Ordensprofess sind die Vorgesetzten erneut zu Gesprächen mit dem Kandidaten bezüglich seiner sexuellen Reife verpflichtet.

Betont wird zudem die Notwendigkeit wirksamer Prävention zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. So heißt es in dem Text: „Prävention vor sexuellem Missbrauch an Minderjährige bildet einen integralen Bestandteil des Engagements der Kirche in der Kinder- und Jugendarbeit.“

Diese der Prävention gewidmeten Richtlinien werden ergänzt durch ein gleichfalls am 9. Oktober 2013 verabschiedetes Dokument. Es beinhaltet genaue Rahmenbestimmungen für die Tätigkeit des im Juni 2013 als Koordinator zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ernannten Jesuiten Adam Żak.

Therapeutische Hilfe, doch keine Entschädigung

Die von den Bischöfen verabschiedeten Richtlinien wurden innerhalb wie außerhalb der Kirche im Allgemeinen positiv aufgenommen. Aber es gab auch Kritik. So wurde beanstandet, dass bei Missbrauchsfällen zwar den Opfern seitens der Kirche pastorale, therapeutische und psychologische Hilfen zugesagt und die damit verbundenen Kosten übernommen werden, aber Entschädigungen nicht gezahlt würden. Dies sei Sache derer, die persönlich schuldig geworden seien. Ob dieser Standpunkt, mit dem sich Polens Bischöfe deutlich von der Praxis der Bischofskonferenzen anderer Länder unterscheiden, angesichts des erwähnten Prozesses haltbar ist, wird sich zeigen.

Ein weiterer Streitpunkt bildet die Auffassung der polnischen Bischöfe, nicht verpflichtet zu sein, ihnen bekannte Missbrauchsfälle ihrer Geistlichen den Gerichten zu melden. Sie begründen diese Weigerung mit dem Wohl der Opfer, die ja um die Möglichkeit gerichtlicher Anklage wüssten und diese selbst einreichen könnten. Wenn sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen, dann bedeute dies ja wohl, dass sie wegen der damit verbundenen psychischen Belastung den Gang zum Gericht scheuen würden. Die zuständen kirchlichen Stellen könnten die Opfer lediglich ermutigen, diesen Schritt zu tun. Im Übrigen verlange das polnische Strafrecht im Unterschied zu anderen Ländern bei pädophilen Verstößen keine Meldepflicht.

Verkündigung der Richtlinien im Schatten aktueller Missbrauchsfälle

Die Verabschiedung dieser Richtlinien stand im Schatten aktueller Missbrauchsfälle. Wenige Tage zuvor war bekannt geworden, dass der inzwischen seines Amtes enthobene Nuntius der Dominikanischen Republik, Erzbischof Józef Wesolowski, ein Pole, sexueller Vergehen an Minderjährigen beschuldigt wurde und sich vor einem Gericht verantworten musste. Gleiches galt für einen seiner engen Vertrauten, den Ordenspriester Wojciech Gil, der – von Interpol gesucht – zunächst untertauchte, dann aber in der Nähe von Krakau ausfindig gemacht wurde. Auch er wurde suspendiert und musste sich seiner Verantwortung stellen. Zudem wurden zeitgleich zwei weitere Fälle bekannt, bei denen sexueller Handlungen beschuldigten Priestern bis zur Klärung ihrer Fälle die Ausübung seelsorglicher Tätigkeit untersagt wurde.

Richtlinien allein reichen nicht

Die Richtlinien versprechen für die Zukunft Besserung. Missbrauchsfälle von Priestern soll es in Zukunft nicht mehr geben. Damit wird der Akzent auf die Prävention gelegt. Ob allerdings die in dem Präventionsdokument vorgesehenen Prüfungen der Priesteramtskandidaten die erhoffte Wirkung erbringen, ist angesichts der Tastsache, dass es zur Feststellung von pädophilen Neigungen keinen verbindlichen Test gibt, ungewiss. Worauf es vor allem ankommen dürfte, ist ein innerkirchlicher Einstellungswandel. Wenn jahrzehntelang eine Praxis der Vertuschung vorherrschte, die Opfer selten gehört, oft der Lüge bezichtigt und ihre Familien in den Pfarreien isoliert, teils geächtet wurden und man die betroffenen Priester lediglich versetzte, die dann oft am neuen Ort rückfällig wurden, dann bedarf es vor allem eines radikal anderen Denkens.

Weiterhin kaum Transparenz

Die Richtlinien sind nunmehr fünf Jahre in Kraft. Inwieweit sie eingehalten und zu einer deutlichen Eindämmung der Missbrauchsfälle beigetragen haben, bleibt ungewiss. Eine von der Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Evaluierung gibt es nicht. Auch sonst zeigen Polens Bischöfe keine Neigung, die Öffentlichkeit über das Ausmaß an klerikalen Missbrauchsfällen zu informieren, wie aus einem dem „Tygodnik Powszechny“ gewährten Interview des Koordinators Adam Żak SJ hervorgeht. Für die seit 2014 in jedem Bistum und in jeder Ordensgemeinschaft tätigen Ansprechpartner für Missbrauchsopfer besitze er zwar eine gewisse Zuständigkeit, aber keine Jurisdiktion. So wisse er denn auch auf die Frage, wieviel Opfer sich in den vier Jahren bei ihnen gemeldet und wieviele Gespräche mit welchen Ergebnissen sie geführt haben, keine Antwort. Man möge sich an die Bischöfe und Ordensoberen wenden. Offenbar werden die Daten zentral nicht gesammelt. Zwar habe die Bischofskonferenz 2014 eine solche Datensammlung in Erwägung gezogen, doch unter den Bischöfen sei es zu keiner Einigung gekommen, so dass das Ausmaß der über diese Gesprächspartner ermittelten Missbrauchsfälle unbekannt sei.

Auch auf die Frage, wie viele Priester in den letzten Jahren wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu Haftstrafen verurteilt wurden, musste P. Żak die Antwort schuldig bleiben. Er sei, wie jeder andere, auf Medienberichte angewiesen, denen zufolge es sich seit Inkrafttreten der Richtlinien um etwa 60 Priester handle. Das aber sei möglicherweise nur die „Spitze eines Eisbergs“.

Zudem scheint die Kontaktaufnahme zu den Gesprächspartnern schwierig zu sein. Nur in 18 Diözesen hat die Kurie ihren Namen, ihre Telefonnummer und Mail-Adresse veröffentlicht. Selbst den in den Pfarreien tätigen Priestern sind diese Daten weitgehend unbekannt. So berichtet P. Żak, dass er immer wieder bei Missbrauchsfällen von Gemeindepriestern um Rat angesprochen werde, die er dann an den entsprechenden Gesprächspartner verweise. All dies spricht nicht dafür, dass die von Polens Bischöfen erlassenen Richtlinien und Maßnahmen eine Gewähr bieten, den klerikalen Missbrauch Minderjähriger wirksam zu bekämpfen. Sie sind schlicht ungenügend. Hinzu kommt, dass dem polnischen Episkopat jene Einsichten, die erst durch die eingangs erwähnten Untersuchungen zum jahrzehntelangen klerikalen Kindesmissbrauch gewonnen wurden, nicht aus eigenem Bemühen zur Verfügung stehen. Sie sollen im Folgenden zur Sprache kommen.

Das ungelöste Problem der kanonischen Verurteilung ranghoher Kirchenvertreter

2002 erregte der Fall des Posener Erzbischofs Juliusz Paetz über Polens Grenzen hinaus Aufsehen. Er hatte sich nachweislich an Seminaristen sexuell vergangen. Doch die darum wussten, hüllten sich in Schweigen und unternahmen nichts. Und wer das Schweigen brach und den Erzbischof beschuldigte, wurde von ihm kirchlich gemaßregelt. Erst als sich die Betroffenen dem damaligen Dekan der Theologischen Fakultät, Prof. Tomasz Węclawski, gegenüber offenbarten und er sich ihrer annahm, kam die Angelegenheit ins Rollen. Nach langen Bemühungen und gegen manche innerkirchlichen Widerstände erreichte Prof. Węclawski schließlich 2002 den Rücktritt des Posener Metropoliten. In einem dem „Tygodnik Powszechny“ gewährten Interview hatte er das Verhalten des Erzbischofs scharf kritisiert und führenden Kirchenleuten vorgeworfen, den Skandal vertuschen zu wollen. Er selbst wurde wenig später als Dekan abgelöst und verlor auch seine Mitgliedschaft in der römischen Theologenkommission. Außer dem erzwungenen Amtsverzicht blieb Erzbischof Paetz vor jeder sonstigen kirchlichen Sanktion verschont. Er lebt weiterhin in Posen und zeigt sich mit Vorliebe bei kirchlichen Feierlichkeiten, auch als Konzelebrant, im Kreis seiner bischöflichen Amtsbrüder. Prof. Węclawski dagegen legte sein Priesteramt nieder und trat wenig später aus der Kirche aus.

Der Fall zeigt, mit welchen Anfeindungen jemand zu rechnen hat, der einen Bischof sexueller Vergehen beschuldigt, und wie schwierig es ist, überhaupt kanonisch gegen ihn vorzugehen. Dies bestätigen auch die jüngsten, bis in höchste kirchliche Ränge reichenden Enthüllungen. Besonderes Aufsehen erregte der Fall des Kardinals und ehemaligen Washingtoner Erzbischofs Theodore McCarrik, dem sexueller Missbrauch einer Elfjährigen und sexuelle Nötigung von ihm abhängiger Seminaristen zur Last gelegt wird. Weitere Bischöfe aus verschiedenen Ländern, die des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger sowie der von ihnen praktizierten Strategie der Vertuschung beschuldigt werden, sind namentlich bekannt. Offenbar ging man in der Vergangenheit davon aus, ein Bischof oder Kardinal werde derlei Vergehen niemals begehen, so dass es einer besonderen kanonischen Regelung nicht bedürfe. Daher ist es bis heute nicht klar, „an wen man sich in einer solchen Situation zu wenden hat, noch welches unabhängige Organ eine Untersuchung einleiten und einen solchen Hierarchen verurteilen kann. Die vatikanische Kommission zum Schutz Minderjähriger unterbreitete den Vorschlag eines Tribunals, das über die Bischöfe richten soll, die derlei Dinge vertuschen. Trotz Unterstützung durch Papst Franziskus konnte sich dieser Vorschlag nicht durchsetzen, und nach und nach verließen die Missbrauchsopfer die Kommission.“ Doch damit scheint dieser Lösungsvorschlag nicht vom Tisch zu sein. Die Stimmen in der Kirche mehren sich, die ein solches Tribunal für notwendig erachten, das, um wirklich unabhängig zu ein, mit weltlichen Juristen besetzt sein müsse. Sollte es dazu kommen, wäre dies eine tiefgreifende Reform des Kirchenrechts.

Absage an den Klerikalismus

Die umfangreichen Untersuchungen der von Priestern verübten Kinderschändungen belegen ihren engen Zusammenhang mit dem klerikalen Machtmissbrauch. Die Autorität, die die Priester für sich beanspruchen und die ihnen in der Regel von den Gläubigen unhinterfragt zugestanden wird, ermöglichte es ihnen, sich die Opfer ihrer Lust zu wählen. Diese Autorität wurde von ihnen bei ihren Verbrechen bewusst eingesetzt, und sie diente ihnen zugleich als Schutz vor Enttarnung. So waren die Opfer den Tätern zumeist hilflos ausgeliefert. Sie trauten sich nicht, auszusprechen und anzuklagen, was sie erlitten hatten, und brachten sie dazu den Mut auf, wurde ihnen selten geglaubt. Statt Verständnis erfuhren sie Zurechtweisung. Also schwiegen sie mit allen traumatischen Folgen solcher Verdrängung.

In seinem Schreiben an das Volk Gottes vom 20. 08. 2018 hat Papst Franzskus diese durch den „engen Zusammenhang von Macht- und Gewissensmissbrauch“ charakterisierte „Anomalität des Autoritätsverständnisses“ als Klerikalismus bezeichnet. Damit bedient er sich eines mit Vorliebe von antiklerikalen Kritikern benutzten Begriffs. Wörtlich schrieb er: „Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt, zu jeder Form von Klerikalismus Nein zu sagen.“

Es ist dies nicht die einzige Aussage dieser Art. Auffallend häufig kommt Papst Franziskus in Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen auf den Klerikalismus zu sprechen. Auf einer Pressekonferenz nannte er ihn eine „Pest in der Kirche“. Und in einem Gespräch mit dem Agnostiker Eugenius Scalfor bezeichnete er sich selbst als „entschiedenen Kirchengegner“ sobald er „einem Klerikalen gegenüber stehe“.

Diese radikale Absage an den Klerikalismus, der in Polens Kirche aufgrund ihres ausgeprägten Paternalismus besonders verbreitet ist, verlangt eine Rückbesinnung auf das Evangelium: Als die Jünger miteinander stritten, wer unter ihnen der Größte sei, sagte ihnen Jesus: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“. Zur Verdeutlichung seiner Worte stellte er ein Kind in ihre Mitte. (Mk 9, 33-36) Und als die Frau des Zebedäus für ihre beiden Söhne von Jesus die besten Plätze im Reich Gottes erbat und sich die übrigen Jünger darüber empörten, belehrte er sie: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein […]“. (Mt 20, 20-27) Als sei dies noch nicht genug an Belehrung, gab er ihnen beim Abschiedsmahl vor seinem Leiden mit der Fußwaschung ein eindrucksvolles Beispiel der für seine Nachfolge verpflichtenden Umkehrung von Herrschen in Dienen. Ein deutlicheres Zeichen für die Absage an jede Form von Klerikalismus ist kaum denkbar.

Aber reichen, so notwendig sie sind, die auf die persönliche Haltung zielenden Belehrungen und Zeichen? Sind es nicht gerade die hierarchischen Strukturen, die das in der Kirche verbreitete anormale Autoritätsverständnis ermöglichen, ja geradezu fördern? Um dem Klerikalismus wirksam entgegenzuwirken, sind evangeliumsgemäße Strukturen notwendig, eine Forderung, die auf der Basis des Zweiten Vatikanums vor über 40 Jahren erhoben, in der Kirche diskutiert und letztlich mit fadenscheinigen Argumenten von den Hierarchen zurückgewiesen wurde. So bleibt es fraglich, ob diese neu auflebende Diskussion zu Reformen führt.

Ein notwendiger Perspektivwechsel – von den Tätern zu den Opfern

Die vorliegenden Berichte über pädophile Handlungen von Priestern zeigen eines in aller Klarheit: Es ging den Verantwortlichen in der Kirche vor allem um ihre pädophilen Priester, weniger oder kaum um deren Opfer. Wurde ein Missbrauchsfall bekannt, dann war es die vorrangige Sorge des zuständigen Bischofs oder Ordensoberen, den Fall möglichst nicht bekannt werden zu lassen – als sei nicht die Tat als solche, sondern ihr Bekanntwerden der eigentliche Skandal. Entsprechend diesem Handlungsmuster beschränkte sich das kirchliche Interesse an den Opfern zumeist darauf, diese zum Schweigen zu verpflichten. Aufgrund der allgemeinen Praxis der Vertuschung wurden so nicht nur die Täter, sondern ebenso die verantwortlichen Entscheidungsträger an den Opfern schuldig.

Die Konsequenz dieser Erkenntnis muss ein Perspektivwechsel sein – von den Tätern hin zu den Opfern. Von ihnen und nicht in erster Linie von den Tätern her müssen die Missbrauchsfälle betrachtet und gewertet werden. Einen solchen Perspektivwechsel vollzieht Papst Franziskus unter dem Eindruck des Pennsylvania Report in seinem Schreiben an das Volk Gottes. Darin heißt es: „Der Schmerz dieser Opfer ist eine Klage, die zum Himmel aufsteigt und die Seele berührt, die aber für kurze Zeit nicht beachtet, versteckt, zum Schweigen gebracht wurde. Doch ihr Schrei war stärker als alle Maßnahmen, die danach strebten, sie zum Schweigen zu bringen.“ Diesen Schrei zu hören und sich der Opfer anzunehmen, das sollte bei Missbrauchsfällen die erste Sorge der Kirche sein.

Und erst wenn die Opfer Gehör finden, wenn sie das an ihnen verübte Unrecht hinausschreien können, erst dann wird das ganze Ausmaß der ihnen widerfahrenen „Gräueltaten“, wie Papst Franziskus schreibt, offenbar – ganz im Sinne des Jesuswortes, wonach es für den besser wäre, der diese „Kleinen zum Bösen verführt, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“ (Mt 18,6)

Erstveröffentlichung: imprimatur 4/2018

Jacek Prusak, Milczenie jest wyrokiem (Schweigen heißt Urteilen), in: Tygodnik Powszechny v. 18. März 2007.

http://ekai.pl/polska/zebranie­-kep/x71370/zakonczylo-sie-zebranie-plenarne-kep/?pri...

Durch eine Gesetzesnovellierung wurde diese Meldepflicht inzwischen unter Androhung von Sanktionen verpflichtend gemacht.

Adam Żak, Pytajcie biskupów (Fragt die Bischöfe), Tygodnik Powszechny v. 16. 09. 2018, S 34 – 37.

Zuzanna Radzik, Straźniczy poza kontrolą (Wächter außer Kontrolle), Tygodnik Powszechny v. 26. 08. 2018, S. 34.

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