Ein weiterer ukrainisch-russischer Konflikt
- Theo Mechtenberg
- 11. Jan. 2019
- 6 Min. Lesezeit
Nach dem seit Jahren andauernden Krieg in der Ostukraine, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Versuch des Kremls, der Ukraine den ungehinderten Zugang zum Schwarzen Meer zu verweigern, gibt es nun einen neuen Konflikt, der diesmal nicht von Russland, sondern von der Ukraine ausgeht. Er mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, denn es geht nicht um eine militärische Auseinandersetzung, sondern um die Frage, ob die Ukraine ein Recht auf eine vom Moskauer Patriarchat unabhängige orthodoxe Kirche hat oder nicht. Doch aufgrund der traditionellen Nähe der Orthodoxie zu Nation und Staat in der Ukraine wie in Russland ist auch dieser Konflikt politisch brisant. Er könnte bald in der Ukraine erhebliche innere Erschütterungen bewirken.
Die Vorgeschichte
Aus Sicht des Moskauer Patriarchats ist die Ukraine kein eigenes „kanonisches Territorium“. Daher sei es der Ukraine nicht erlaubt, auf ihrem Gebiet eine eigenständige, von Moskau unabhängige orthodoxe Kirchenordnung zu errichten. Dennoch entstanden nach dem Untergang der Sowjetunion und der Bildung einer eigenstaatlichen Ukraine neben der zahlenmäßig starken Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats zwei vom Moskauer Patriarchat losgelöste ukrainisch-orthodoxe Kirchen – die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats und die um vieles kleinere Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche. Und dies gegen den Widerstand des Moskauer Patriarchen, der ihnen die kanonische Anerkennung verweigerte und mit einem Anathema belegte.
Seit Monaten gab es von Präsident Petro Poroschenko unterstützte Bemühungen zu einem Zusammenschluss dieser beiden Kirchen zu einer vom Oberhaupt der Orthodoxie, dem Patriarchen Bartholomeos I. von Konstantinopel, kanonisch anerkannten Ukrainisch-Orthodoxen Kirche. Diese Entwicklung blieb natürlich dem Moskauer Patriarchen Kyrill II. nicht verborgen. Er berief zum 15. Oktober 2018 eine Synode aller mit ihm verbundenen Kirchen ein, die bezeichnenderweise nicht an seinem Moskauer Amtssitz stattfand, sondern in Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands, um so den Moskauer Anspruch auf das über Russland hinausreichende „kanonische Territorium“ zu unterstreichen. Vier Tage vor Beginn dieser Synode hatte der Patriarch von Konstantinopel die beiden kanonisch nicht anerkannten ukrainischen orthodoxen Kirchen aus dem Moskauer „kanonischen Territorium“ herausgelöst, sie sich selbst unterstellt, das vom Moskauer Patriarchat über beide Kirchen verhängte Anathema aufgehoben und damit die Voraussetzung zu ihrem, später von ihm anzuerkennenden Zusammenschluss geschaffen.
Als Antwort darauf beschloss die Minsker Synode den Abbruch der Beziehungen zum Patriarchen von Konstantinopel. Fortan wolle man mit Patriarch Bartholomeos keine „communio“ pflegen, eine Entscheidung, die jede Teilnahme an einer gemeinsamen Feier der Liturgie für die Zukunft ausschließt. In einem Brief stellte Patriarch Kyrill II. dem Patriarchen von Konstantinopel zudem die ewige Verdammnis in Aussicht, sollte er tatsächlich eine autokephale orthodoxe Kirche der Ukraine anerkennen und ihr seinen Segen geben. Zudem wandte er sich gegen die Absicht, dem Wunsch des ukrainischen Präsidenten entsprechend die in der Ukraine bestehende Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats nicht als „ukrainisch“, sondern ausdrücklich als „russisch“ zu bezeichnen. Dies diene lediglich dazu, sie in den Augen der Ukrainer herabzuwürdigen. Mit dieser Vermutung dürfte Kyrill II. Recht haben, doch hat er sich dies aufgrund seiner Nähe zu Putin und seiner Befürwortung der Annexion der Krim selbst zuzuschreiben.
Am 3. November unterzeichneten Patriarch Bartholomeos und Präsident Poroschenko am Sitz des Patriarchen eine Vereinbarung zur Vorbereitung einer Synode, auf der mit der Vereinigung der bislang nicht kanonischen beiden Kirchen die neue Orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet werden sollte. Sie trat in Kiew am 15. Dezember zusammen. und wählte zu ihrem Oberhaupt den in Kiew und Athen ausgebideten, aber pastoral unerfahrenen 39jährigen Metropoliten Epiphanius. Unter Anspielung auf den in der Orthodoxie üblichen Kommunionempfang unter der Gestalt des Weines sagte Präsident Poroschenko, die nationale Bedeutung dieses Ereignisses betonend: „Nach den Worten von Taras Szewczenko wird die Ukraine fortan nicht mehr aus dem Moskauer Giftkelch trinken. Dies hier ist eine Kirche ohne Putin, ohne Kyrill, den Patriarchen von Moskau und aller Russen, ohne Gebet für die russische Herrschaft und für das russische Militär, denn es ist die russische Herrschaft und es sind russische Truppen, die Ukrainer töten. Dies hier aber ist eine Kirche mit Gott.“
Mit der Gründung einer autokephalen, vom Moskauer Patriarchat unabhängigen Orthodoxen Kirche der Ukraine war der letzte Schritt zu ihrer endgültigen Anerkennung durch Patriarch Bartholomeos I. vollzogen.
Moskau auf Konfrontationskurs
Auf die sich abzeichnende Gründung einer autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine reagierte Moskau mit scharfen Attacken gegen Patriarch Bartolomeos I. Kyrill II. sprach ihm das Recht ab, die Ukraine aus dem von Moskau beanspruchten „kanonischen Territorium,“ herauszulösen und einer autokephalen ukrainischen Kirche seinen Segen zu geben. Dazu bedürfe es einer orthodoxen Weltsynode (auf der das Moskauer Patriachat den größten Einfluss gehabt hätte). Im Namen von Bartholomeos I. antwortete Metropolit Hiob, sein Vertreter im Weltrat orthodoxer Kirchen. Er verwies darauf, dass die russische Kirche selbst im XVI. Jahrhundert durch eine Entscheidung des damaligen Pariarchen von Konstantinopel und nicht durch ein Konzil autokephal geworden sei. Wie vergiftet die Atmosphäre zwischen Moskau und dem Patriarchen von Konstantinopel ist, zeigt die Entgegnung von Kyrills Sprecher: „Wir sind ernstlich besorgt über den psychischen Gesundheitszustand von Hiob. Sollte es notwendig sein, sind wir bereit, dem Bruder schnelle medizinische Hilfe zukommen zu lassen oder ihn zum Studium in eines unserer Klöster aufzunehmen.“
Der feierliche Gründungsakt in der Georgskathedrale in Istanbul
Trotz aller Warnungen aus Moskau erteilte Patriarch Batholomeos der neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine die kanonische Anerkennung. Am 5. Januar unterzeichneten der Patriarch von Konstantinopel und Metropolit Epiphanius das „Tomos“, die offizielle Gründungsurkunde. Am folgenden Sonntag, dem orthodoxen Weihnachrtsfest, überreichte Bartholomeos in einem feierlichen Akt während des Gottesdienstes an Epiphanius das „Tomos“ und als Zeichen seiner Würde das Szepter. Zur großen Entäuschung der Ukraine verlieh Barthomomeos der neu gegründeteten ukrainischen Kirche lediglich den Titel einer autokephalen Metropole, nicht aber das von ihr gewünschte Patriarchat. Dies ist offenbar eine Reaktion auf die 1993 eigenwillige Verkündigung eines Kiewer Patriarchats der schismatischen ukranischen Kirche durch den heute 90jährigen Filaret, dem aber die Beibehaltung der Bezeichnung "Patriarch" als Ehrentitel zugestanden wurde.
Doch über dieser Feier lag auch der Schatten kommender Konflikte. Dies brachte denn auch Präsident Poroschenko mit den Worten zum Ausdruck: „Beten wir, dass der Herr es nicht zu einer Provokation kommen lässt, zu einem Blutvergießen, das sich die Feinde wünschen.“
Die Fragwürdigkeit der Berufung auf das „kanonische Territorium“
Im Grunde geht es in diesem Konflikt um die Frage, welches Gewicht das von Patriarch Kyrill II. angeführter Argument des „kanonischen Territoriums“ besitzt. Ist es „dogmatisch“ als ein dem Moskauer Patriarchat wesenhaft zukommender Anspruch zu verstehen oder lediglich aus der Geschichte begründbar? Letzteres ist der Fall.
Sowohl das ukrainische als auch das russische orthodoxe Selbstverständnis basiert auf dem Gründungsmythos der Kiewer Rus. Mit der nach orthodoxem Ritus vollzogenen Taufe Vladimirs im Jahr 988 und der damit einsetzenden Christianisierung der Kiewer Rus verband sich Jahrhunderte vor dem von Moskau ausgehenden Integrationsbemühungen die erste Einigung der Ostslaven. Weil Ukrainer und Russen gleicherweise in der Taufe Vladimirs ihren historischen Ursprung sehen, ergibt sich ein die beiderseitige Geschichte prägendes Konkurrenzverhältnis. Über mehrere Jahrhunderte war Kiew das orthodoxe Zentrum der Ostslaven. Erst 1589 erhielt Moskau den Status eines eigenen Patriarchats und gewann damit zunehmend an Bedeutung. 1686 erhielt der Moskauer Patriarch durch den ökumenschen Patriarchen von Konstantinopel die Erlaubnis, sich die ukrainische Kirche gegen deren Widerstand zu unterstellen. Nach und nach verlor die Ukraine dadurch auch ihre politische Selbstständigkeit. Infolge der Säkularisierung der Kirchengüter unter Katharina II. verlor der Kiewer Metropolit 1768 auch den letzten Rest an Unabhängigkeit. Ende des 18. Jahrhunderts war die Russifizierung der Ukraine so gut wie abgeschlossen. Seit dieser Zeit waren bis 1921, in der kurzen Phase ukrainischer Selbstständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, alle Kiewer Metropoliten russischer Herkunft. Die ukrainischen Verlage unterlagen zaristischer Zensur. Der Versuch, die Bibel in ukrainischer Sprache herauszugeben, zog 1876 das Verbot nach sich, überhaupt Bücher in ukrainischer Sprache zu drucken und den Namen „Ukraine“ zu verwenden.
Damit wird deutlich, dass der Moskauer Anspruch auf ein „kanonisches Territorium“ aller Ostslaven aus der geschichtlichen Entwicklung resultiert und zugleich als Instrument politscher Macht und Unterdrückung diente.
Wie wird Moskau auf die Gründung der autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine reagieren?
Der kurze geschichtliche Rückblick zeigt, was mit der Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine für Moskau auf dem Spiel steht – kirchlich wie politisch. Noch ist die in der Ukraine bestehende Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats mit über 12 000 Pfarreien und 186 Klöstern doppelt so stark wie die Orthodoxe Kirche der Ukraine. Da ist viel zu verlieren, auch finanziell. Putin meinte denn auch in seiner großen Pressekonferenz am 19. Dezember letzten Jahres, die Ukraine habe es mit der Gründung einer eigenen Kirche allein auf deren Besitz abgesehen. In einem Interview warf er der ukrainischen Regierung gegenüber den Gläubigen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats religiöse Intoleranz vor. Ausgerechnet er, der durch seine Regierung per Gesetz die 200 000 Gläubige umfassende Gemeinschaft der Zeugen Jehovas liquidieren, ihren Besitz konfiszieren und ihre Anhänger kriminalisieren ließ. Und Putins Sprecher Dimitry Piekow drohte, Russland werde die Interessen der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats verteidigen.
Dieser Fall könnte eintreten, sollten Priester und Gläubige der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in erheblichem Maße zur Orthodoxen Kirche der Ukraine übertreten. Ob dies in naher Zukunft geschieht und wie Putin darauf reagieren wird, bleibt abzuwarten. Bis Ende 2018 haben sich lediglich an die 20 Pfarreien und zwei Bischöfe der Ukrainischen Kirche des Mosklauer Patriarchats der Orthodoxen Kirche der Ukkraine angeschlossen. Zu ernsten Konflikten dürfrte es kommen, wenn - zumal an Orten mit nur einem orthodoxen Gotteshaus - durch die Spalltung der Gläubigen es zu einem Kampf um den Besitz der Kirche kommen wird. Kirchlich wie politisch hat aber bereits jetzt die dem russischen Imperialismus dienende Idee eines „kanonischen Territoriums“ und die Konzeption Moskaus als „Drittes Rom“ und Weltzentrum der Orthodoxie erheblichen Schaden erlitten. Zudem droht der Orthodoxie ein Schisma, falls das Moskauer Patriarchat und der Patriarch von Konstantinopel die kirchliche Einheit durch ein gegenseitiges Anathema beenden würden.
Quelle: Wacław Radziwinowicz, „Tomos“ dla Ukrainy – historiczna katastrofa Putina („Tomos“ für die Ukraine – Putins historische Katastrophe) Gazeta Wyorzca v. 06. 01. 2019; W. R., Prawosławna Cerkiew Ukrainy stała się ciałem. Rosja protestuje (Die orthodoxe Kirche der Ukraine wird zu einem Leib), ebd.
Tara Szewczenko (1814-1861), ukrainischer Nationaldichter.
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