Monika Sznajderman, Die Pfefferfälscher. Geschichte einer Familie.
Monika Sznajderman, Die Pfefferfälscher. Geschichre einer Familie. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Martin Pollack, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2018, S. 277.
„Habe ich das Recht, die Schatten heraufzurufen, die du mit aller Kraft vergessen wolltest? Bin ich überhaupt imstande, irgendetwas zu begreifen? Ich weiß es nicht. Aber ich denke ständig darüber nach. Schließlich habe ich Jahrzehnte im Schatten des Schweigens zugebracht.“ (118)
Diese Sätze der Autorin können als Motto ihres Buches dienen. Sie äußerst ihre Selbstzweifel, ob sie das bewusst machen und ihren Lesern vermitteln kann und darf. Was ihr Vater, denn um ihn geht es vor allem, der einzige Überlebende des jüdischen Zweigs ihrer Familie, der verdrängt hat, um, wie er einmal sagte, sich „irgendwie an das anzupassen, was später kam.“ (13) Aber Monika Sznajderman, die Tochter, sah sich durch das biblische Gebot „zachor“ in die Pflicht genommen; sie nahm den mühsamen „Kampf gegen das Vergessen“ auf und schuf diesen Band notwendiger Erinnerung. (92) Dabei ging es ihr in erster Linie um die Sammlung der Fakten, die ihr Vater mit wenigen Fragmenten preisgab, aus denen sie versuchte, sie zu einer Erzählung zu verarbeiten. Zu Hilfe kam ihr zudem, dass ein Teil ihrer väterlichen Verwandtschaft in den 1920er Jahren nach Übersee ausgewandert war und mit den in Polen zurückgebliebenen Verwandten einen regen Kontakt unterhielt. Dieses Material an Briefen und Fotos hatte man sorgsam aufbewahrt und der Autorin zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise konnte sie, ergänzt durch eigene Recherchen, die Vergangenheit ihrer jüdischen Vorfahren bis zu ihrer mörderischen Vernichtung rekonstruieren, so dass der Leser über deren persönliches Schicksal hinaus eine Vorstellung vom reichen jüdische Leben gewinnt, das sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Polen abspielte.
Die Autorin durchbricht nicht nur die „Schatten des Schweigens“ ihrer jüdischen, sondern auch ihrer polnischen Verwandtschaft. Während der jüdische Teil ihrer in Polen lebenden Vorfahren bis auf ihren Vater im Holocaust umkam, überlebte sie Krieg und Okkupation. Ihre Lebenswege aufzuzeichnen, bedurfte es keiner mühevollen Recherche, war sie doch in ihrem Schoß aufgewachsen und hatte bereits in Kinderjahren ihren Geschichten gelauscht. Doch ein weißer Fleck blieb, eine die Autorin quälende Frage: Wie verhielt sich ihre polnische Verwandtschaft zu ihren ihrer Würde und ihres Lebens beraubten jüdischen Nachbarn? Über dieser Antwort lag gleichfalls ein „Schatten des Schweigens, und die Autorin verwendet viele Seiten ihres Buches, dieses Dunkel zu durchdringen.
Seit Jahrhunderten war der jüdische Zweig der Familie in Radom ansässig. Ein Drittel der 85 000 Einwohner der Stadt waren Juden. Sie lebten in einer geschlossenen Gemeinschaft, waren beinahe autark und interhielten zum polnischen Nachbarviertel kaum Kontakt. Die jüdische Verwandtschaft der Autorin war streng orthodox; ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als kleine Handwerker. Als einzigem von ihnen war Monika Sznajdermans Großvater der soziale Aufstieg gelungen, dies aber um den Preis einer radikalen Trennung von dieser jüdischen Welt. Als Warschauer Medizinstudent und späterer Arzt legte er seinen jiddischen Vornamen Icek ab und nannte sich fortan Ignacy. Zusammen mit dem Namen „änderte mein Großvater sein gesamtes bisheriges Leben.“ (60) Er wurde zu einem assimilierten Juden, „der sich seiner Herkunft schämte.“ (63)
Seinem jüdischen Schicksal entging er dennoch nicht. Während sich sein jüngerer Sohn Marek, der Vater der Autorin, aus dem Warschauer Getto auf die arische Seite retten konnte, ging er mit dem jüngeren Sohn Aluś 1942 am Ende seiner Kraft und unfähig die tägliche Spannung weiter auszuhalten „freiwillig zum Umschlagplatz, von wo sie nach Treblinka fuhren“, um dort vergast zu werden. (74)
1942 wurde das Getto in Radom liquidiert, die jüdische Bevölkerung in Viehwaggons getrieben und in Treblinka ermordet. Kaum hatte sie ihre Häuser verlassen, da wurden diese bereits von polnischen Mitbewohnern ausgeraubt. „Durch die menschenleeren Straßen rollen Fuhrwerke. Und auf diese wurde alles geladen, was nur Platz hatte. […] Die Sachen fuhren in neue, christliche Häuser und bekamen ein neues, christliches Leben.“ (95)
Wer von den wenigen geretteten Juden nach Kriegsende in seine Heimatstadt zurückkehrte, fand dort keine Bleibe. In der Nacht von 10. auf den 11. August 1945 wurden in einem Haus vier Juden ermordet – als wirkungsvolle Abschreckung für jeden, der als Überlebender des Holocaust gehofft hatte, in Radom ein neues Leben beginnen zu können.
Auch Monika Sznajdermans jüdische Großmutter Amelia überlebte den Krieg nicht. Die Ehe mit ihrem Mann war 1933 geschieden worden. Vor den anrückenden deutschen Truppen flüchtete sie mit ihren beiden Kindern nach Osten. Sie fiel nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion einem von Ukrainern angezettelten Pogrom zum Opfer. Ihre beiden jungen Söhne schlugen sich nach Warschau durch und begaben sich in die Obhut ihres als Arzt im Getto tätigen Vaters.
Marek, Monika Sznajdermans Vater, wurde bald außerhalb des Warschauer Gettos aufgegriffen und erlebte als Junge eine wahre Odyssee durch etliche Konzentrationslager. Er überlebte mehrere Selektionen. Auf einem der Todesmärsche gegen Kriegsende gelang ihm nahe Nossen die Flucht. Die Autorin reflektiert am Schicksal ihres Vaters die Unwahrscheinlichkeit seiner Rettung, gegen alle Logik der Vernichtungsmaschinerie. Ihm, wie anderen Geretteten, bleibt sie im Grunde unerklärbar. Sie nennen es Schicksal, Zufall, Glück – Begriffe, welche die Ratlosigkeit nur verdecken. Die Autorin sieht sich damit einem grundsätzlichen Problem gegenüber, nämlich dass wir für das, was in Auschwitz geschehen ist, „keine Sprache, weder Begriffe noch Kategorien besitzen.“ (134) Sie zitiert den italienische Philosophen Giorgio Agamben: Auschwitz ist jener Ort, wo „der Ausnahmezustand vollkommen mit der Regel zusammenfällt und die Extremsituation zum Paradigma des Alltäglichen wird.“ (134)
Marek Sznajderman zählt zu den wenigen Geretteten, die Auschwitz in ihrem Leben nicht eingeholt hat; er wurde nicht wie so manch anderer in den Wahnsinn oder Selbstmord getrieben. Wie sein Vater studierte er nach dem Krieg Medizin, wurde Kardiologe und bekannte an einem seiner späteren Geburtstage: „Am 9. Mai 1945 war ich mutterseelenallein. […] Und heute, schaut nur – heute habe ich die Familie wieder aufgebaut.“ (138)
Die 1958 geborene Autorin ist im Schoß des weit verzweigten Teils ihrer polnischen Familie aufgewachsen, die den Krieg relativ ungestört überlebt hatte. Nachdem es längst keine Synagogen mehr gab, die Gettos liquidiert und Millionen Juden in den Gaskammern ermordet worden waren, gab es bis 1944, bis kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, unweit von Lublin, wo auch ihre polnische Familie ihre Gutshöfe besaß, die traditionellen Pferderennen, zu denen sich, auf einer von den Deutschen getrennten Tribüne, der polnische, für seine Pferdezucht bekannte Landadel versammelte. Die Autorin wünscht sich, dass damals ihre polnischen Angehörigen nicht unter den Zuschauern waren. „Ich fürchte jedoch, dass es anders war.“(191) Manch einer aus ihrer Familie – so ihre Vermutung – war wohl dem Schicksal der Juden gegenüber gleichgültig, andere haben sie vielleicht bedauert. Den Juden geholfen, hat niemand. Gesellschaftlich und politisch war man antisemitisch eingestellt, las das unter dem Landadel verbreitete Organ der Nationalen Partei „Der Kampf“. Dieses Blatt bedachte noch im Krieg die Politik des Okkupanten den Juden gegenüber mit Lob, begrüßte die „Schaffung der Gettos.“ (205) Man erträumte sich ein judenfreies Polen. Die Autorin kommt zu dem Schluss: „Für viele, wenn nicht für die Mehrheit der Polen existierten ihre jüdischen Nachbarn durch Jahrhunderte ausschließlich als Bezugspunkt für ihre eigenen, polnischen Ansichten und Gefühle: ausnahmsweise und bestenfalls als ein weltvoller Bestandteil ihrer persönlichen Welt, in den meisten Fällen jedoch als düsteres Objekt von Neid und Hass, als sündige Projektion des Abscheus und der Begierde, als wirtschaftliches Problem und als politische Frage, die erlegt werden musste, als, kurz gesagt, Emanation unüberwindlicher Fremdheit, aber nicht als wahrhaftige menschliche Wesen aus Fleisch und Blut.“ (215)
Vom Schicksal eingeholt wurde der polnische Teil der Familie nach dem Krieg mit Beginn kommunistischer Herrschaft. Ihre Gutshöfe wurden enteignet und verfielen mit der Zeit, überwuchert von der Natur, „das symbolische Ende des Landadels,“ (177) Ein Onkel der Autorin, der mit der Nationalen Partei eng verbunden und im Untergrund gegen die neuen kommunistischen Herren aktiv war, wurde gefasst, gefoltert und zu lebenslanger Haft verurteilt, kam aber 1956 mit dem Ende des Stalinismus wieder frei.
Die letzten Sätze ihres Buches widmet die Autorin ihrer Mutter Małgorzata aus dem Hause Lacherts: „Ihr ist es zu verdanken, dass geschehen ist, was unmöglich erschien: dass sich die Geschicke der Lipskis, Lacherts, Ciświckis und Mottys mit den Geschicken der Rosenbergs, Weissbaums, Flamenbaums und Sznajdermans verbinden konnten. [… ] Ihr ist es zu verdanken, dass diese Geschichte ein gar nicht so trauriges Ende finden muss.“ (261)