top of page

Ein Dokumentarfilm erschüttert Polens Kirche

Über viele Jahre fühlten sich Polens Bischöfe auf einer Insel der Seligen. Während in den USA und im streng katholischen Irland die Kirche durch die klerikalen Missbrauchsfälle in eine tiefe Krise geriet, die Gläubigen ihr den Rücken kehrten und der Episkopat seine Autorität einbüßte, schien Polen von derartigen Skandalen verschont zu sein. Zwar gab es den einen oder anderen bedauerlichen Einzelfall, der in der Öffentlichkeit kaum Beachtung fand, so dass man keinen Grund, sich mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs von Priestern an Kindern und Jugendlichen ernsthaft auseinanderzusetzen.

Inzwischen hat Polens Kirche die Wirklichkeit eingeholt. Mit dem im letzten Jahr ausgestrahlten Film „Kler“ (Klerus), den Millionen Polen gesehen haben, wurden die kirchlichen Missbrauchsfälle zu einen außerhalb und innerhalb der Kirche heißt diskutierten Problem. Und nun gibt es einen neuen Film, der den sexuellen Missbrauch von Priestern zum Thema hat. Im Unterschieid zu „Kler“ handelt es sich nicht um einen auf wahre Begebenheiten beruhenden Spielfilm, sondern um eine filmische Dokumentation. Sie läuft nicht in Kinosälen, sondern ist auf YouTube sehen. Weil die Brüder Sekielski, der eine Produzent, der andere Regisseur des Films, keine öffentlichen Gelder erhielten, hatten sie über eine Internetplattform um Spenden gebeten und diese reichlich erhalten, so dass sie ihr Vorhaben realisieren konnten. In nur wenigen Tagen wurde dieser Dokumentarfilm mehr als zehnmillionenfach angeklickt und übertrifft damit sogar bei weitem die Zahl derer, die „Kler“ gesehen haben.

Ein gut gewählter Titel

Der Dokumentarfilm läuft unter dem gut gewählten Titel „Tylko nie mów nikomu“ (Sage es nur keinem). Er verweist auf die von den ihrer Macht bewussten Tätern praktizierte Drohung, mit der sie die Opfer zum Schweigen brachten. Ihnen wurde eingeschärft, auch zum eigenen Schutz den Mund zu halten, denn man würde ihnen ohnehin nicht glauben. So manches Opfer hat in der Tat schmerzlich erfahren müssen, dass die eigenen Eltern ihren Aussagen keinen Glauben schenkten, sie für diese Anschuldigungen sogar bestraft wurden. Man hielt offenbar einen Priester für einen Heiligen, traute ihm derlei Taten nicht zu. Oder man befürchtete, im Falle einer Anzeige als „Nestbeschmutzer“ abgestempelt zu werden. Und wer sich als Opfer im Erwachsenenalter dazu durchgerungen hatte, den schuldig gewordenen Priester bei der Kurie anzuzeigen, der erlebte in der Regel eine demütigende Abweisung. Doch mit „Sag es nur keinem“ scheint der Damm des Schweigens gebrochen. Immer mehr Opfer melden sich zu Wort, so dass die Brüder Sekielski einen zweiten Dokumentarfilm ankündigen sowie ein Buch, das die im Film nicht gezeigten Dokumente enthalten wird.

Die Wirkkraft des Films

Die Wirkkraft dieses Dokumentarfilms beruht darauf, dass von den Opfern die an ihnen verübten sexuellen Handlungen und ihre leidvollen Traumatisierungen im Detail geschildert werden. Mit verdeckter Kamera wurden die Aussagen der ihren Opfern konfrontierten Täter aufgenommen, mitunter auch diese erschütternde Zeugnisse sexueller Not und Eingeständnisse persönlicher Schuld. Auf diese Weise wird das ganze Ausmaß an Missbrauchsfällen in der polnischen Kirche deutlich, die von Bischöfen praktizierte Verharmlosung und Vertuschung, die Versetzung straffällig gewordener Priester von Diözese zu Diözese, von Pfarrei zu Pfarrei.

Und es gibt besonders spektakuläre Fälle. So den des Marianerpaters Eugeniusz Makulski, Erbauer und langjähriger Kustos der der Gottesmutter geweihten Wallfahrtskirche in Licheń; ein Bauwerk der Superlative: die größte Kirche in Polen mit dem höchsten Kirchturm und der schwersten Glocke. Erstellt aus den Spenden der Gläubigen, von denen auch Makulski und seine Familie auf korrupte Weise profitierten, wurde sie nach zehnjähriger Bauzeit fertiggestellt. Eingeweiht hat sie der „polnische“ Papst Johannes Paul II. persönlich und in den Rang einer Basilika erhoben. Ein Denkmal des Papstes mit dem zu seinen Füßen knienden Makulski erinnert daran. Es wurde nach Ausstrahlung des Films auf kirchliche Anordnung vorerst verhüllt und so den Blicken entzogen. Doch die Ortsbevölkerung verlangt bereits seine Beseitigung. Doch was wird mit dem Kirchenfenster der Basilika, in dem sich Eugeniusz Makulski zusammen mit Johannes Paul II. und einer Kinderschar verewigt hat?

Makulski hat Ministranten missbraucht und sich seinen Chauffeur und Gärtner als Liebhaber gehalten. Als er deswegen ins Gerede kam, entließ er ihn. Und als jener dieses Verhältnis offenlegte und auch auf die ihm reichlich gemachten Geschenke verwies, wurde dies als persönliche Rache abgetan.

Ein weiterer spektakulärer Fall ist der des Danziger Priesters Cybula. Er war während der Präsidentschaft von Lech Wałęsa dessen Kaplan und Beichtvater. Am Amtssitz des Präsidenten galt er als Graue Eminenz.

Eine breite Palette kirchlicher Reaktionen

Die zahlreichen Reaktionen auf „Sag es nur keinem“ zeigen, unter welchem Druck sich die „polnische“ Kirche befindet. Es fehlt nicht an Stimmen aus dem klerikalen Lager, die – in alter Gewohnheit – in dieser Dokumentation nichts weiter als einen gezielten Angriff auf die Kirche sehen. Die Mehrzahl der Bischöfe hüllt sich, zumindest vorerst, in Schweigen. Der Danziger Erzbischof Sławoj Leszek Głódź, der sich bereits geweigert hatte, den Fall des schwer belasteten Prälaten Jankowski, ein inzwischen verstorbener hoch geschätzter Held der „Solidarność“ untersuchen zu lassen, gibt zu verstehen, dass ihn dieser Dokumentarfilm nichts angehe. Er sieht keinen Grund, sich zu seinem Verhalten gegenüber den Missbrauchsfällen in seiner Diözese erklären, sich an die eigene Brust zu schlagen und um Vergebung zu bitten. Auch Bischof Jan Tyrawa, Ordinarius der Diözese Bydgoszcz, der einen rechtmäßig verurteilten pädophilen Priester in sein Bistum aufgenommen hatte, verhält sich auf ähnliche Weise. Er reagierte zunächst nicht auf die Forderung des Rates der Stadt, sich zu diesem im Film erhobenen Vorwurf zu äußern. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit ließ er durch eine, von ihm nicht unterzeichnete Stellungnahme der Kurie mitteilen, dass der in dem Film dargestellte Vorgang nicht den Tatsachen entsprechen würde.

Doch es gibt auch Beispiele einer sehr schnellen Reaktion kirchlicher Amtsträger. So erklärte der Ordensoberer der Marianer nach Kenntnisnahme von den sexuellen Verbrechen seines Ordensbruders Eugeniusz Makulski: „Mit großem Schmerz erfüllt uns das Leiden der Opfer der von Menschen der Kirche verübten Verbrechen der Pädophilie. Nichts kann dieses Unrecht wieder gutmachen.“ In dem Dokument heißt es weiter, dass Eugeniusz Makulski jegliche seelsorgliche Tätigkeit untersagt wurde und der Fall dem Heiligen Stuhl gemeldet werde. Der polnische Primas, Erzbischof Wojciech Polak, äußerte sich mit den Worten: „Der Film von Tomasz Sekielski hat mich tief bewegt. Das gewaltige Leiden der Opfer weckt Schmerz und Abscheu. Vor Augen habe ich das Drama der Geschädigten, mit denen ich persönlich zu tun hatte. Ich danke allen, die den Mut haben, von ihren Leiden zu sprechen. Ich bitte um jede von Menschen der Kirche verübte Verletzung um Vergebung.“

Mit einer unmissverständlichen Aussage meldete sich der Pressesprecher der Diözese Bielsko-Biały zu Wort: „Geradezu peinlich lautet die Bitte um Verzeihung, nicht anders wie jede andere Erklärung. […] Ich befürchte, dass uns eine Wanderung durch die Wüste bevorsteht.“ Damit spielt er auf den Wüstenzug Israels an und suggeriert, dass die mit den kirchlichen Missbrauchsfällen entstandene Krise nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist, sondern eine ganze Generation in Anspruch nehmen werde.

Aus den Reihen der Laien kam die Forderung nach einem Amtsverzicht jener Bischöfe, die durch Vertuschung von Missbrauchsfällen und die Versetzung pädophiler Priester von Pfarrei zu Pfarrei schuldig geworden sind. Kritisiert wurden auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, und der Krakauer Metropolit Marek Jędraszewski. Auf der drei Wochen zurückliegenden Bischofskonferenz hatte der eine unter Hinweis darauf, dass es auf der ganzen Welt sexuellen Missbrauch gäbe, die Skandale in der polnischen Kirche faktisch relativiert, und der andere verwahrte sich gegen den von Papst Franziskus gebrauchten Begriff „Null Toleranz“ und brachte ihn wenig überzeugend mit dem Totalitarismus des Nationalsozialismus und des Bolschewismus in Zusammenhang. Doch nicht nur wegen dieser Äußerungen verdiene jene Bischofskonferenz Kritik. Ihr Defizit zeige sich angesichts von „Sag es nur keinem“ vor allem in der Abstraktheit der auf ihr behandelten Thematik. Es seien die Opfer unerwähnt geblieben, kein Name der Täter sei genannt worden, keine anschaulichen Beispiel seien zur Sprache gekommen und die so notwendige Frage nach den Umständen und Ursachen der Pädophilie in der Kirche habe man sich erspart. Es reiche auch nicht, wenn die Aufklärung der Verbrechen pädophiler Priester durch die Kirche selbst erfolge, nach westlichem Vorbild bedürfe es dazu einer unabhängigen Expertengruppe; doch zu einem solchen Schritt sei der polnische Episkopat offensichtlich nicht breit.

Handeln dringend erforderlich

Angesichts dieser Krise besteht dringender Handlungsbedarf. Primas Wojciech Polak hat aus diesem Grund seine geplante Reise nach Südkorea abgesagt. Er teilte zudem mit, dass im Juni der im Vatikan mit den Missbrauchsfällen befasste 2. Sekretär der Glaubenskongregation auf seine Einladung hin nach Polen kommt. Auch wenn diese Reise seit längerem geplant war und mit dem Dokumentarfilm in keinem direkten Zusammenhang steht, so ist doch zu erwarten, dass es bei diesem Besuch vor allem um die durch die Missbrauchsfälle ausgelöste Krise und ihre Bewältigung gehen wird. In diesem Zusammenhang ist eine Initiative erwähnenswert, die von verschiedenen innerkirchlichen, Priester und Laien umfassende Gruppen ausgeht. Eine Delegation wird sich nach Rom begeben, um den Papst persönlich zu treffen. Man möchte ihm den Dokumentarfilm aushändigen und eine Übersicht der auf ihn Bezug nehmenden Presseberichte überreichen. Vor allem aber wird er eine Liste jener Bischöfe erhalten, die in der Behandlung der Missbrauchsfälle versagt haben. Man hofft, dass der Papst nach dem Vorbild Chiles reagieren wird. Dort hatten alle Bischöfe dem Papst ihren Rücktritt angeboten, den er aber nur von einigen, belasteten Bischöfen angenommen hat. Ein solches Verfahren liegt auch deswegen nahe, weil das im Juni in Kraft tretende Motu proprio „Vos estis lux mundi“ ausdrücklich ein Prozedere vorsieht, bei dem auch die Bischöfe zur Verantwortung gezogen werden können.

Politische Nebenwirkungen

Die Brüder Sekielski verfolgten mit ihrem Dokumentarfilm keinerlei politische Absichten, und doch zeigt sich die nationalkonservative Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) samt ihrer Regierung über das Echo, das „Sag es nur keinem“ in Kirche und Gesellschaft gefunden hat, äußerst beunruhigt. Im unmittelbaren Vorfeld der Europawahlen, die auch als Seismograph für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen gewertet werden, kommt PiS diese Dokumentation höchst ungelegen. Sie trifft gleichsam ihr Selbstverständnis nationaler Identität ins Mark: Ganz im Geist der Endecja der Zwischenkriegszeit hat Parteichef Kaczyński noch vor wenigen Wochen öffentlich betont, dass jeder Pole, ob gläubig oder nicht, die Kirche zu schätzen habe, denn die sei ein wesentliches Element nationaler Identität. Und wer die Kirche angreife, der attackiere damit das Polentum. Erscheint damit die durch die Missbrauchsfälle offenbar gewordene kirchliche Krise zugleich als Krise des Polentuns? Und was ist angesichts der Vielzahl an Fällen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern durch pädophile Priester belegen, der landauf, landab verkündete Wahlslogan noch wert, die polnischen Kinder seien in höchster Gefahr, weil sie durch Auflagen der EU sexuell verführt würden? Und nur wenn PiS diese Wahl gewinnen werde, könnte diese Gefahr abgewendet werden?

PiS bedient sich angesichts der für Partei und Regierung bedrohlichen politischen Nebenwirkung dieses Dokumentarfilms einer doppelten Strategie: Einerseits versucht man, übrigens mit wenig Erfolg, die Wirkung der Dokumentation dadurch einzuschränken, dass sie von den staatlichen Medien ignoriert oder als eine kirchenfeindliche Aktion diffamiert wird, andererseits setzt man sich an die Spitze eines Kampfes gegen Pädophilie, doch ohne näher auf den Film der Brüder Sekielski einzugehen. So twitterte Staatspräsident Andrzej Duda: „Der Film beeindruckt. Eines ist sicher. Gegen Pädophilie müssen wir rücksichtslos und überall ankämpfen. Überall dort, wo eine erwachsene Person auf schändliche Weise Kinder missbraucht.“ Der Hinweis auf den titellosen Film wird zum Ausgangspunkt einer allgemein gehaltenen Aussage, die zugleich von der in „Sag es nur keinem“ dokumentierten Problematik ablenkt. Entsprechend negativ fielen denn auch die Kommentare in den sozialen Medien aus.

Auch mit einem Gesetzesvorhaben war PiS schnell bei der Hand. Es sieht für den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen eine Haftstrafe bis maximal 30 Jahren vor. Die erste Lesung fand bereits im Sejm statt. Die Opposition kritisierte, dass die Vorlage keine Strafbestimmungen für Verschweigen und Vertuschen von Missbrauchsfällen vorsieht und fordert zudem unter Hinweis darauf, dass traumatisierte Opfer erst nach Jahrzehnten die Kraft finden, sich über das an ihnen verübte Verbrechen zu äußern, eine Verlängerung der Verjährungsfrist. Nach dem für die PiS-Regierung üblichen Schnellverfahren wurde das Gesetz, das u. a. eine Aufhebung der Verjährungsfrist vorsieht, am 17. Mai verabschiedet. Die Frage ist allerdings, ob die von PiS verfolgte Strategie zum gewünschten Erfolg führt. Dies scheint eher unwahrscheinlich. Eine erste Umfrage zeigt, dass das Bündnis der proeuropäischen Parteien kurz vor der Europawahl gegenüber PiS 10 Punkte zulegen konnte.

Follow Us
  • Twitter Basic Black
  • Facebook Basic Black
  • Black Google+ Icon
Recent Posts
bottom of page