Polens Kirche im Niedergang?
Die Frage erscheint auf den ersten Blick absurd. Immerhin bekennen sich 90% der Polen als Katholiken. Auch wenn die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher rückläufig ist, die Kirchen sind immer noch gut gefüllt. Zwar gibt es deutlich weniger Priester- und Ordensberufe als noch vor wenigen Jahren, aber man ist noch weit davon entfernt, wie im Westen Priesterseminare und Ordenshäuser schließen zu müssen. Und Polens Bischöfen mangelt es nicht an Machtbewusstsein. Ihr politischer Einfluss ist nach wie vor beträchtlich, so dass sich gegen ihre Interessen schwerlich Politik machen lässt.
Andererseits gibt es ernste Krisenphänomene; allen voran die Fülle an klerikalen Missbrauchsfällen. Die Filme „Kler“ und „Sag es nur keinem“ brachten ans Licht, was sich lange Zeit an Klerikalismus und Kindermissbrauch im Verborgenen abgespielt hat. Ein weiterer Film dieser Art ist noch für diesen Monat angekündigt. Und diese Filme zeigten Wirkung. Unter ihrem Eindruck wandten sich viele Gläubige von der Kirche ab, unter ihnen prominente Namen.
An Kirchenkritik mangelte es in der Vergangenheit nicht. Kam sie von außen, wurde sie als Ausdruck grundsätzlicher Kirchenfeindschaft abgetan. Und kritische Stimmen aus dem Inneren der Kirche, von Priestern und Laien eines offenen Katholizismus, fanden kein Gehör.
Nun gibt es erstmals eine deutliche Kritik aus dem sonst mit der Kirche eng verbundenen konservativen Lager. Sie geht sogar teilweise über das weit hinaus, was bislang an Kritik geäußert wurde. Konkret handelt es sich um ein im konservativen Verlag Fronda erschienenes Buch des bekannten konservativen Journalisten Tomasz Terlikowski. In Anlehnung an Joh 8,32 wählte er als Titel „Nur die Wahrheit macht frei“. Es geht um die Krise der Kirche, zu der Terlikowski etliche Gesprächspartner um ihre Meinung bat. Es kommen in diesem Interviewband Fragen zur Sprache, die bisher nur von Vertretern eines offenen Katholizismus gestellt wurden: Warum soll ein geweihter Theologe besser sein als eine Theologin? Muss man unbedingt an der Zölibatsverpflichtung festhalten? Trägt der Zölibat nicht geradezu zur Perversion unter dem Klerus bei? Bleibt der Zugang von Frauen zum Priestertum ein ewiges Tabu?
Die Kritik macht auch vor hochgestellten kirchlichen Würdenträgern nicht Halt, nicht vor Kardinal Dziwisz, dem langjährigen Sekretär von Johannes Paul II., nicht vor dem Krakauer Erzbischof Jęsdraszewski, der in der Homosexualität eine „Seuche“ sieht und der in früheren Jahren über den sexueller Vergehen an Seminaristen schuldig gewordenen Posener Erzbischof Paetz seine schützende Hand gehalten hat.
Es bleibt in diesem Interviewband nicht bei allgemeinen Aussagen. Der als konservativ, doch sehr eigenständig bekannte Priester Isakowicz-Zaleski bringt geradezu Ungeheures zur Sprache: Ein Bischof habe seine Priester als „Meine lieben bąbelski“ angeredet und sich damit eines vulgären Ausdrucks bedient, der so viel bedeutet wie „jemanden einen blasen“. Und Isakowicz-Zaleski sagt, er habe Kenntnis davon, dass Neupriester gleich nach ihrer Primiz eine Orgie gefeiert und am Tatort Präservative sowie eine zerrissene Unterhose zurückgelassen hätten. Welch eine Leidenschaft! Geradezu beispielhaft für so manche laue Beziehung.
Der Sexuologe und Psychotherapeut Bogdan Stelmach berichtet von einem Priester, der als junger Mann bei dem Versuch eines Geschlechtsverkehrs mit einem Mädchen Abscheu gegenüber Frauen empfunden habe und daher unfähig gewesen sei, den Akt zu vollziehen. Er habe darin seine Berufung zum priesterlichen Zölibat gesehen. Die Kommission, die über seine Aufnahme ins Seminar zu entscheiden hatte, habe seinen Bericht enthusiastisch aufgenommen. Später habe dieser Mann als Priester Karriere gemacht und zahlreiche Insassen eines Kinderheims missbraucht. Nach all dem, was er in seinem Beruf erfahren habe, so Dr. Stelmach, sei er der Überzeugung, dass die Mehrzahl der Priester sowie Teile des Episkopats in Wahrheit ungläubig seien, es aber sehr gut verstehen würden, ihren Atheismus zu maskieren.
Andrzej Kobyliński, Priester und Theologieprofessor, hält die polnischen Katholiken weitgehend für religiöse Analphabeten. Man sei zwar katholisch, doch von Theologie habe man nicht die blasseste Ahnung. Je geringer ihre religiöse Bildung, umso fanatischer ihr Katholizismus. Kritisch sieht er zudem die verbreitete Konzentration auf Gesundbeten, Wunder, böse Geister und Exorzismen. 2016 habe man im Nationalheiligtum der Schwarzen Madonna in Tschenstochau über ganz Polen einen Exorzismus gesprochen – ein geradezu häretischer Vorgang.
Dr. Sabina Zalewska sieht bei vielen Klerikern den wahren Grund ihrer „Berufung“ in der Flucht vor ihrer Mutter, um sich auf diese Weise aus ihrer Abhängigkeit zu befreien. Die Folge sei eine schwer überwindbare Angst vor Frauen, was die sexuelle Reifung der Seminaristen und späteren Priester verhindere und den sexuellen Missbrauch begünstige.
Fasst man den Inhalt von „Nur die Wahrheit macht frei“ zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild der polnischen Kirche: aufs Ganze gesehen intellektuell schwach, ein begrenzter Denkhorizont der Hierarchie, ein opportunistischer, sexuell und emotional unreifer Klerus. Diese Gemengelage gleiche einer Zeitbombe, die über kurz oder lang explodieren werde. Terlikowski hält als Folge ein Schisma für wahrscheinlich, vorausgesetzt, es werde ein neuer Luther auftreten, der allerdings derzeit nicht in Sicht sei.
Quelle: Krzysztof Varga, Jeźeli Terlikowski jedzie po arcybiskupie Józefie Michaliku, to wiedzcie, źe coś się dzieje (Wenn Terlikowski zu Erzbischof Józef Michalik fährt, dann wisst ihr, dass sich etwas tut),Gazeta Wyborcza v. 16. 03. 2020.