Das Spannungsverhältnis von Nationalismus und Demokratie in den postsozialistischen Staaten
Im dreißigsten Jahr des Berliner Mauerfalls fanden die Ereignisse im Herbst 1989 ein breites publizistisches Echo. Gewürdigt wurde der Freiheitswille der DDR-Bürger, die sich aus dem schützenden Raum der Kirchen auf die Straße wagten, denen sich in Leipzig und anderen Orten Tausende anschlossen und eine Bewegung in Gang setzten, durch die sich die Regierung genötigt sah, am 9. November die Mauer zu öffnen und ihren Bürgern das Jahrzehnte lang verweigerte Recht auf Reisefreiheit zu gewähren, von dem noch in der Nacht zum 10. November die Ostberliner in rauschhafter Freude reichlich Gebrauch machten.
Doch dies war erst der Anfang eines sich beschleunigenden Prozesses, in dessen Verlauf die verschiedenen oppositionellen Gruppierungen sich formierten und eine umfassende Demokratisierung der DDR einforderten und anstrebten, ohne dass sie ihr Ziel erreichten. Dass sie es verfehlen würden, zeichnete sich bereits am 19. Dezember ab, als Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden vor einer schier unübersehbaren Menschenmenge sprach, die Deutschlandfahnen schwenkten und den bisherigen Ruf „Wir sind das Volk“ in „Wir sind e i n Volk“ abwandelten. Nicht die von den oppositionellen Gruppen erstrebte Demokratisierung der DDR war letztlich das Ergebnis der Novemberproteste, sondern die ein Jahr später vollzogene Einheit der Nation. Am Verlauf dieses Prozesses wird ein gewisses Spannungsverhältnis von Demokratisierung und Nationalisierung deutlich, das für die Entwicklung aller vor der europäischen Wende zum Hegemoniebereich der Sowjetunion gehörenden Staaten von grundsätzlicher Bedeutung ist und im Folgenden näher untersucht werden soll.
Der nationale Charakter sozialistischer Staaten
Die Völker im Herrschaftsbereich der UdSSR litten nicht nur unter der Einschränkung ihrer Bürgerrechte, ihnen wurde auch die ideologische Parteidoktrin als Ersatz für ihr nationales Bewusstsein verordnet, das dem Kreml als ein die eigene Macht bedrohendes Potential galt und daher mit allen Mitteln zu unterdrücken war. Nicht zuletzt um dieses Zieles willen wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den östlichen Satelittenstaaten die Führungspositionen mit Kommunisten aus dem Moskauer Exil besetzt, die in ihren Länder die stalinistische Transformation und mit ihr die Unterdrückung nationaler Traditionen und nationaler Identität rigoros vorantrieben. Doch nach Stalins Tod wurden sie abgelöst, und an die Macht kamen die so genannten Nationalkommunisten, die im Lande geblieben waren, im Untergrund gegen den nationalsozialistischen Terror gekämpft, in Gefängnissen und Konzentrationslagern gelitten oder im westlichen Exil überlebt hatten. Sie waren gegenüber Moskau um einen gewissen Spielraum einer nationalen Interessen dienenden Politik bemüht, griffen selektiv auf das nationale Erbe und ihnen nützlich erscheinende nationalistische Strömungen zurück, doch ohne in ihren Ländern eine Versöhnung von kommunistischer Ideologie und nationaler Tradition anzustreben, geschweige denn bewirken zu können.
Der Nationalkommunismus war in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Sich gänzlich der Macht der Kremlherren zu entziehen, war allein Josip Broz Tito gelungen. Er bezog eine von Moskau unabhängige, dem nationalen Interesse dienende neutrale Position und vermochte es, sein Land aus Konflikten im Herrschaftsbereich der UdSSR herauszuhalten. So weit reichte die Unabhängigkeit des rumänischen Diktators Nikolae Ceausescu nicht. Doch auch er widersetzte sich des Öfteren der Moskauer Politik. Wenngleich Mitglied des Warschauer Paktes, nahm Rumänien 1968 dennoch nicht an der Invasion in die Tschechoslowakei teil. Und 1984 beteiligte sich Rumänien als einziger Staat des Ostblocks nicht am sowjetischen Boykott der olympischen Spiele in Los Angeles. Weil Ceausescu auf diese Weise den nationalen Stolz der Rumänen zu stillen verstand, genießt er selbst heute noch in Rumänien hohes Ansehen. Nach einer Umfrage vom Dezember 2018 gilt er mit 64% als beliebtester Präsident, noch vor dem im Herbst 2019 wiedergewählten populären Klaus Johannis (50%), der seit 2014 das Amt des Staatspräsidenten innehat.
Aufgrund des in den einzelnen sozialistischen Staaten unterschiedlich ausgeprägten Nationalkommunismus gab es in ihnen eine kontinuierliche nationalistische Strömung, deren sich die Kommunisten im Übrigen zu bedienen wussten, wenn dies ihren Interessen entsprach. So entfachte beispielsweise die kommunistische Führung Polens angesichts der Studentenunruhen im März 1968 unter dem Motto des „Antizionismus“ eine antisemitische Kampagne, mit der die von einigen jüdischen Studenten angeführte Protestbewegung diffamiert werden sollte und die Tausende Juden aus dem Land trieb. Diese „Konservierung“ des Nationalismus war denn auch der Ermöglichungsgrund dafür, dass die nationale Komponente im europäischen Umbruchsjahr und in der weiteren Entwicklung der postsozialistischen Länder eine gewichtige Rolle spielte.
In der Ukraine, in Rumänien und Bulgarien war es die kommunistische Nomenklatura, die – nun national gewendet – im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion die Macht übernahm. Und weil der nun gewonnenen Unabhängigkeit kein innerer Demokratisierungsprozess vorausgegangen war und eine ihn erst ermöglichende Zivilgesellschaft sich nicht hatte herausbilden können, konnte die demokratische Transformation nicht gelingen. Diese Länder haben denn auch noch drei Jahrzehnte nach dem europäischen Wendejahr 1989 erhebliche Demokratiedefizite und mit dem politischen Einfluss der Oligarchen, dem Krebsgeschwür der Korruption und mit einem repressiven, fremdenfendlichen Nationalismus zu kämpfen.
Gänzlich anders vollzog sich die Entwicklung in Ungarn. Massenproteste gegen das herrschende Regime gab es dort, anders als in Polen, im Herbst 1989 nicht. Kadars „Gulaschkommunismus“ war und ist in der Bevölkerung durchaus populär, was eine Umfrage aus dem Jahr 2017 belegt. Danach sind 42% der Befragten der Meinung, besser als unter Kadar habe man in den letzten 100 Jahren nicht gelebt. Sofern Demonstrationen Ende der 1980er Jahre stattfanden, handelte es sich dabei im Grunde um nationale Manifestationen, die sich u. a. gegen die Unterdrückung der ungarischen Minderheit in Rumänien richteten, wie überhaupt der Nationalismus der Ungarn wegen der enormen Gebietsverluste aufgrund des Vertrages von Trianon (1920) bis heute sehr virulent ist.
Zudem waren in keinem anderen sozialistischen Land, auch nicht in Polen, die national geprägten Reformkräfte innerhalb der kommunistischen Partei so stark wie in Ungarn. So ist es bezeichnend, dass sich die regierenden Kommunisten Anfang 1989 von dem Dogma lösten, wonach die blutigen und tragischen Ereignisse im Herbst 1956 eine den Sozialismus bedrohende „Konterrevolution“ waren. Nun hieß es, und dies durchaus zu Recht, es habe sich um einen „Volksaufstand“ gehandelt, dem im nationalen Gedächtnis ein hervorragender Platz gebühre.
Ähnlich wie in Polen verlief in Ungarn der Übergang zu einer demokratischen Ordnung auf der Basis von am Runden Tisch geschlossenen Vereinbarungen zwischen den kommunistischen Reformkräften und einer gemäßigten Opposition. Und ähnlich wie die Polen regierenden Nationalkonservativen sehen Viktor Orban und seine Fidesz darin den Geburtsfehler der Demokratie, durch den es weniger, wie sie glauben, zu einer demokratischen als vielmehr zu einer „postkommunistischen“ Entwicklung gekommen sei, die es durch eine national ausgerichtete Politik zu überwinden gelte. So erscheinen denn gegenwärtig Polen und Ungarn innerhalb der Europäischen Union als jene Staaten, bei denen das Spannungsverhältnis von Nationalismus und Demokratie besonders deutlich in Erscheinung tritt. Und dies mit der Tendenz, dass demokratische Rechtsprinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien gleicherweise von Jarosław Kaczyński und Viktor Orban den von ihnen formulierten nationalen Interessen untergeordnet werden.
Dieses Spannungsverhältnis ist für sämtliche mittel- und osteuropäischen Staaten, die einst unter sowjetischer Hegemonie standen, typisch. Sie waren im 19. und beginnende 20. Jahrhundert auf der Landkarte Europas nicht verzeichnet. Ihre Völker unterlagen dem Osmanischen Reich, der Herrschaft Österreichs, des russischen Zaren oder des Deutschen Reiches. Erst mit dem Zusammenbruch und Zerfall dieser Monarchien gewannen sie ihre Unabhängigkeit. Und die verloren sie nach gut zwei Jahrzehnten wieder durch den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und aufgrund der mit der Neuordnung Europas verbundenen Sowjetisierung. Es ist dieses Trauma des Verlustes und der stets empfundenen Bedrohung nationaler Eigenständigkeit, aus dem sich ihr Nationalismus vor allem speist. Aus diesem Trauma erwächst der Wille, endlich Herr im eigenen Haus zu sein, keiner fremden Herrschaft unterworfen. Es ist ein mit Paranoia gepaarter Nationalismus, der sich durch vermeintliche äußere und innere Feinde bedroht fühlt, der in ethnischen Minderheiten Einfallstore für Fremdeinwirkung sieht. Um die nationale Eigenständigkeit zu wahren, gelte es, das nationale Bewusstsein zu stärken. Dem dient eine Geschichtspolitik nationalen Martyriums, welche die geschichtliche Opferrolle kultiviert und die Schattenseiten eigener Verschuldung ausblendet. Man sei keineswegs, wie ihre Politiker ständig beschwören, gegen Europa, sehe aber durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union die eigenen nationalen Werte gefährdet und die Eigenständigkeit beeinträchtig, woraus sich die permanenten Konflikte mit der Europäischen Kommission erklären.
Dieses Trauma bestimmt die nationale Politik in Polen und Ungarn sowie in anderen postsozialistischen Staaten. Doch die letzte Deutungshoheit über dieses Trauma besitzen die rechtsradikalen Nationalisten. Sie sind beispielsweise die bestimmende Kraft bei der Gestaltung des polnischen Unabhängigkeitstages am 11. November. Sie sind die Organisatoren des Warschauer „Marsches der Unabhängigkeit“ an diesem Tag. Nahmen 2009 lediglich 500 Polen an ihm teil, so sind es heute bis zu 100 000. Diese Märsche, eingeleitet durch einen Gottesdient, besitzen einen religiös-nationalistischen Charakter. Unter der Maske des Patriotismus versprühen ihre Teilnehmer Hass und ermuntern mit dem Slogan „Tod den Feinden Polens“ faktisch zur Gewalt. Auf Plakaten ist zu lesen „willst du Gott nicht, wirst du Allah haben“. Eine als Gebetsruf getarnte Fremdenfeindschaft. Diese Nationalisten verstehen sich als Gotteskrieger, dazu berufen, die vaterländischen Werte gegenüber Liberalen und Homosexuellen sowie gegenüber westlicher Säkularisierung zu verteidigen und das christliche Abendland vor einer angeblich drohenden Islamisierung zu retten.
Inzwischen sind die polnischen Nationalisten international bestens vernetzt, mit Marine le Pen und ihrer Partei, mit der ungarischen Jobbik, mit Pegida und AfD. Und seit den Sejmwahlen im Oktober 2019 sind sie durch die vorwiegend von jungen Männern zwischen 18 und 35 Jahren gewählte „Konföderation für Unabhängigkeit und Freiheit“ auch im Parlament vertreten.
Am 11. November 2019 fanden sich auf Anweisung der Warschauer Kurie erstmals keine Priester für einen Eröffnungsgottesdienst des Marsches. Und es nahmen in diesem Jahr auch keine führenden Politiker der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) am „Marsch der Unabhängigkeit“ teil. Hat man die Gefahr erkannt, die von dieser nationalistischen Bewegung ausgeht? Oder diese Zurückhaltung erklärt sich aus der bevorstehenden Präsidentschaftswahl, zu der PiS Wählerschichten der politischen Mitte gewinnen möchte, die durch die Nähe zu den Rechtsextremen abgeschreckt werden.
Der Nationalismus als Nährboden rechtsextremistischer Exzesse
Die national bzw. nationalistisch geprägte Politik der mittel- und osteuropäischen Staaten schafft im Übrigen ein den Rechtsextremismus und seine Exzesse förderndes Klima. Dazu einige Beispiele: 2011, kurz nach Übernahme der Regierung durch Viktor Orban, veranstalteten Neofaschisten der Organisation „Vedero“ nahe einer Romasiedlung ein militantes Trainingslager, aus dem sie zu einem Marsch durch das Dorf aufbrachen und die Bewohner, die fluchtartig ihre Häuser verließen, in Angst und Schrecken versetzten. Im Oktober 2019 überfielen 50 schwarz gekleidete Neofaschisten in Budapest den Club „Aurora“, der sich als unabhängige Kulturinstitution für stigmatisierte Minderheiten einsetzt, insbesondere für Roma.
In beiden Fällen schritt die Polizei nicht ein.
Übergriffe auf Minderheiten, zumal auf Roma und Homosexuelle, sind in den postsozialistischen Ländern an der Tagesordnung. In Estland macht eine rechtsextreme Partei, die unlängst in den Wahlen ein gutes Ergebnis erzielte, Stimmung gegen die russische Minderheit. In Rumänien kam es kürzlich zu einer handfesten Auseinandersetzung auf einem ungarischen Friedhof.
In Kroatien sind die Symbole der Ustacha allgegenwärtig. Dieser rechtsextremistisch-terroristische Geheimbund aus dem Jahr 1929, der für ein von Österreich unabhängiges Kroatien kämpfte, erlebte 1990 unter Franjo Tudman (1922-1999) seine symbolische Renaissance. Selbst führende Politiker schmücken sich mit ihren Symbolen; die serbische Minderheit aber fühlt sich bedroht, zumal es Fälle gibt, bei denen Puppen mit den Gesichtern ihrer Vertreter öffentlich verbrannt wurden. Und mit dem Nationalismus in all diesen Ländern geht ein Antisemitismus einher. Immer wieder kommt es vor, dass Synagogen mit Hakenkreuzen beschmiert werden.
Die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Demokratie
Auf dem jüngsten Parteitag der AfD hat der scheidende Vorsitzende Alexander Gauland seine Partei mit dem Blick auf den rechten Flügel eindringlich davor gewarnt, einen revolutionären Weg zu beschreiten. Sie solle vielmehr die demokratischen Möglichkeiten nutzen, um so das gesteckte Ziel zu erreichen, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die belegen, dass Nationalisten auf demokratischem Weg, aufgrund großzügig gewährter Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie durch freie und geheime Wahlen an die Macht kamen, um dann ein autoritäres oder auch diktatorisches Regime zu errichten mit allen negativen, oftmals verheerenden Folgen für den weiteren Lauf der Geschichte.
Bedenkt man die Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Staaten ab 1989, dann zeigt sich, dass die Demokratie in diesen Ländern durch den herrschenden Nationalismus bedroht ist. Wo Politiker die Bürger zu einer Identifikation mit der ethnisch definierten Nation drängen, da tritt an die Stelle ihrer freien politischen Entscheidung und Verantwortung der von der herrschenden Partei repräsentierte, kollektive Wille der Nation, der die Gesetze des Landes und die öffentliche Meinung bestimmt. Und wo die eigene Nation rhetorisch und geschichtspolitisch überhöht wird, da geht eine solche Überhöhung zumeist auf Kosten bestimmter Feindbilder, seien es ethnische Minderheiten, äußere Mächte oder innenpolitische Gegner, denen das nationale Bewusstsein abgesprochen wird und die – nach einem Wort von Jarosław Kaczyński - zu einer „schlechten Sorte“ von Polen zählen.
Noch ein letzter Gesichtspunkt: Die in Mittel- und Osteuropa regierenden nationalistisch ausgerichteten Parteien könnten sich als Wegbereiter rechtsextremer bzw. neofaschistischer Kräfte erweisen, die in jüngster Zeit an gesellschaftlichem Einfluss gewonnen haben. Publizisten warnen bereits vor einem Szenario, demzufolge Rechtsextremisten und Neofaschisten die jetzt regierenden Nationalisten ablösen könnten. Die gegenwärtigen in der Tendenz autoritären nationalen Regime würden dann zu Diktaturen – mit allen repressiven Konsequenzen und Belastungen der internationalen Beziehungen. Gemäß dem Wort „wehret den Anfängen“ sollte diese mögliche Option ernst genommen werden. Insoweit es sich um Mitgliedstaaten der Europäischen Union handelt, sollte die Europäische Kommission entschiedener als bisher die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Demokratie betonen sowie darauf bestehen, dass diese Staaten die als Bedingung einer EU-Mitgliedschaft geltenden Kopenhagener Kriterien in vollem Umfang bejahen und politisch umsetzen.
Erstveröffentlichung: Imprimatur 1/2020