Außerhalb der Reihe: „Er zeigte ihnen seine Hände und seine Seite“ (Joh 20, 20)
Dreimal ist im österlichen Evangelium des Weißen Sonntags von Jesu Wundmalen die Rede. Die Jünger hatten sich aus Angst vor Verfolgung eingeschlossen. In ihrer äußeren und inneren Verschlossenheit erscheint ihnen der Auferstandene, zeigt ihnen die durchbohrten Hände und den Lanzenstich in seiner Seite. So werden die Wundmale für sie zu Erkenntniszeichen, dass der Gekreuzigte lebt und ihnen nahe ist.
Doch einer der Apostel fehlt in ihrem Kreis, Thomas. Als er sich ihnen später zugesellt, hört er aus ihrem Mund die frohe Botschaft: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Doch das reicht ihm nicht, um ihre Freude zu teilen. Thomas bleibt skeptisch. Er macht seinen Gauben davon abhängig, dass auch er die Male an den Händen sehen und dazu noch die offene Seite berühren kann.
Und der Auferstandene erfüllt sein Ansinnen. Bei seiner erneuten Erscheinung streckt er Thomas die durchbohrten Hände entgegen und fordert ihn auf, in seine Seite zu greifen.
Dass in diesem Text auf dreifache Weise von den Wundmalen des Auferstandenen berichtet wird, deutet darauf hin, wie wichtig sie als Element der Osterbotschaft sind. Ihre Bedeutung ist nicht auf die Funktion eines bloßen Erkennungszeichens beschränkt. Sie bezeugen zugleich, dass der Auferstandene der Gekreuzigte ist, dass mit der Auferstehung die erfahrenen Leiden nicht einfach ausgelöscht, sondern in den verklärten Leib integriert sind.
Die Wundmale sind das Signum der vorangegangenen Passion in all ihren verschiedenen Facetten; sie sind der Ausdruck moralischer, geistiger, psychischer und physischer Verwundbarkeit des Menschen.
Man kann und man soll diesen österlichen Text so lesen, als wäre er an uns persönlich gerichtet, als würden uns die durchbohrten Hände entgegengestreckt und uns die offene Seite gezeigt. Wir, die wir nicht sehen und doch glauben, sollen den HERRN in jedem erkennen, der, wie auch immer, von der Verwundbarkeit menschlichen Lebens gezeichnet ist.
Damit verbindet sich diese Osterbotschaft mit dem Gleichnis vom Weltgericht, das der Evangelist Matthäus der Passion unmittelbar voranstellt. (Mt 25, 31-44) Im Endgericht des Auferstandenen mit den Wundmalen besteht nur derjenige, der ihn in den Leidenden dieser Welt erkennt; in all jenen, denen es an allem mangelt, was sie zum Leben brauchen; die Hunger und Durst leiden, sich ausgestoßen fühlen und ohne ein Zuhause auf der Straße landen; um die sich niemand kümmert, verlassen in ihrer Krankheit und Not. Mit ihnen identifiziert sich der Auferstandene, in ihnen will er erkannt werden.
Nicht umsonst vergleicht Papst Franziskus die Kirche mit einem Feldlazarett und betont damit die Diakonie, nicht nur die in der Caritas organisierte, sondern die eines jeden Gläubigen, als ein Grundelement wahren Christseins.
Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum ausgerechnet dieser Sonntag als „Sonntag der Barmherzigkeit“ begangen wird. Die Wundmale des Auferstandenen fordern uns auf, uns in Barmherzigkeit den vielfachen menschlichen Verwundungen zuzuwenden. So wird dieses Osterevangelium in der gegenwärtigen Corona-Zeit zu einem besonderen Wegweiser. Die Angst der Jünger und ihr Rückzug in die Enge eines Raumes erinnert doch sehr an ein Leben unter der Bedingung von Ausgangssperre und Quarantäne. Tag für Tag sind wir in den Medien mit der Corona-Krise konfrontiert. Millionen von Menschen sind weltweit von dem Virus bereits infiziert, weit über Hunderttausend der Pandemie erlegen. Wie wirkt das auf uns? Was empfinden wir für die Opfer, was für die, welche sich hingebungsvoll um sie kümmern? Werden wir die Solidarität aufbringen, diese Krise und ihre Folgen zu bewältigen? Oder werden Eigennutz und Vorteilnahme die Oberhand gewinnen?
Dieses Osterevangelium belässt es nicht bei der bloße Erscheinung des Auferstandenen und dem dreimaligen Verweis auf die Wundmale. Der Auferstandene verheißt Frieden, erfüllt die Jünger mit dem Geist und sendet sie in der Kraft dieses Geistes in die so sehr verwundbare Welt. Auch uns möge dieser Friede und diese Geisteskraft zuteilwerden, damit wir unsere Lebensprobe in dieser auf vielfache Weise verwundbaren Welt bestehen können.