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Maria Janion- die große Dame der polnischen Literaturwissenschaft (1926-2020)

Am 23. August verstarb 93jährig Prof. Maria Janion, die wohl bedeutendste polnische Literaturwissenschaftlerin. Geboren wurde sie am Heiligabend des Jahres 1926 unweit von Białystok. Ihre Jugend verlebte sie in Vilnius, wo während des Zweiten Weltkriegs vor ihren Augen die Juden von den deutschen Besatzern in den Tod getrieben wurden. Aus dieser traumatischen Erfahrung resultiert, wie sie einmal schieb, ihr „tragisches Mitgefühl für die Juden. Dieses Mitgefühl blieb mir für immer als Schwur, mit ihnen zu sein.“ In diesem Sinn veröffentlichte sie in Hinblick auf die Aufnahme Polens in die Europäische Union (2004) ihre Schrift „Nach Europa gemeinsam mit unseren Toten“. Sie ist ein Plädoyer der Zugehörigkeit der Juden zur nationalen Tradition sowie eine Absage an jede Art von Antisemitismus. „Wir können nicht nach Europa gehen und zugleich unsere Juden, unser gemeinsames dunkles Schicksal, aus dem Gedächtnis löschen.“

Als wahre Humanistin wusste sich Maria Janion stets auf Seiten der Opfer. Ihnen gab sie eine Stimme. Insbesondere setzte sie sich ein für die Rechte von Frauen und Minderheiten. Immer wieder warnte sie vor dem eigentümlichen, den Nationalismus kennzeichnenden Geflecht von Minderwertigkeit und Hybris. Geduldig erklärte sie, wie sich nationale Katastrophen in Würde bewältigen lassen.

Als Pfadfinderin war sie, wie viele ihrer Generation, während des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation im Rahmen der Heimatarmee (AK) aktiv. Nach Kriegsende begann sie ihre wissenschaftliche Karriere am renovierten Warschauer Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), wo sie von 1948 – 1956 tätig war. Danach lehrte sie an der Danziger Pädagogischen Hochschule. Als im März 1968 nach der vom kommunistischen System verfügten Absetzung des nationalen Dramas „Die Totenfeier“ die Studenten auf die Straße gingen und für kulturelle Freiheit zu demonstrierten, verlor Maria Janion, die mit ihnen sympathisiert hatte, ihre Stellung, Zwei Jahre später konnte sie ihre akademische Laufbahn an der 1970 neu gegründeten Danziger Universität, der sie zeitlebens treu blieb, fortsetzen.

Seit den 1970er Jahren gehörte sie zur Opposition. Sie ist Mitunterzeichnerin des Briefes der Intellektuellen zur Unterstützung der streikenden Arbeiter vom August 1980.

Nach dem Ende des Kommunismus war sie der Überzeugung, dass es mit der gewonnenen Freiheit neuer kultureller Entwürfe bedürfe. Dem diente ihre Schrift „Das Ende des romantischen Paradigmas“. Sie löste eine breite Diskussion aus. Prof. Janion sah sich Attacken nationalistischer Kreise ausgesetzt, die ihr vorwarfen, die Nationaldichter Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Cyprian Kamil Norwid aus dem nationalen Kanon streichen zu wollen. Ein Missverständnis. Die nationale Bedeutung dieser Romantiker stand für sie selbstverständlich außer Frage. Der Glaube, dass aus dem Martyrium der Nation in der langen Phase der Unterdrückung, der Aufteilung des Landes, des Verlustes der Eigenstaatlichkeit, als Frucht der erbrachten Opfer der Morgen der Freiheit anbrechen werde, hatte sich schließlich als wahr erwiesen, indem durch seine Kraft die Nation vor ihrem Untergang bewahrt und die Wiedergeburt Polens möglich wurde. Aber konnte dieses romantische Paradigma auch für die nun angebrochene Freiheit Geltung beanspruchen? War es für die nun geforderte gesellschaftspolitische Gestaltung nicht dysfunktional? Janion empfand jedenfalls die überlieferte romantische Tradition als Korsett patriotischer Pflichten sowie zur Pflege eines Opferkults für das nun geforderte individuelle und gesellschaftliche Verhalten als nicht mehr geeignet. Sie meinte, dass es an der Zeit sei, Freiheit und Verantwortung neu zu bedenken damit neue schöpferische Ideen und Initiativen zur Formung des sozialen Lebens bereit stünden.

Dazu sei es erforderlich, die Enge der Selbstgefangenheit in die eigene nationale Tradition aufzubrechen und den Anschluss an die Weite der Weltliteratur zu suchen. Mit sieben Bänden ihrer „Transgression“ lieferte Janion dazu die Grundlage. Die von ihr ausgewählten Texte wurden in ihrem legendären Seminar interpretiert, diskutiert und auf ihre kulturelle Adaption geprüft.

Vor allem diese Seminare haben ihre einstigen Studentinnen und Studenten in dankbarer Erinnerung. Janion nahm sie in diesen Stunden mit auf die Suche nach neuen Antworten auf ewige Fragen. Sie schärfte ihren kritischen Blick auf die eigene nationale Tradition von Literatur und Geschichte und machte sie damit immun gegen die Verlockungen des Nationalismus.

In ihrem geistigen Schaffen war Maria Janion schier unermüdlich. Ihr Arbeitstag reichte von 6.00 früh bis Mitternacht. Pausen kannte sie kaum. Bei jeder Arbeitsunterbrechung schlug ihr, wie sie einmal sagte, das Gewissen.

Zu ihrem 80. Geburtstag bescherte man ihr eine Art Stammbaum. Sie selbst bildete den mächtigen Stamm. An 40 Ästen waren die Namen ihrer Doktorandinnen und Doktoranden verzeichnet, an den Zweigen die von rund 400 Magistern. Ein eindrucksvolles Zeugnis für ihren Einfluss auf die nachwachsende wissenschaftliche Generation! Wie nachhaltig dieser Einfluss ist, das lässt sich an der Fülle der Nachrufe aus ihrem Schülerkreis ermessen.

1996 ging sie in den Ruhestand, war aber weiterhin geistig produktiv. Eine Bibliographie aus dem Jahr 2006 vermerkt 723 Titel, darunter die von Dutzenden Büchern.

An ihrem 90. Geburtstag fühlte sich Maria Janion schon sehr schwach, Sie wollte keine Gäste, weil ihr die Kraft zu einem Gespräch fehle. Nach ihren Wünschen gefragt, verrät ihre Antwort eine gewisse Resignation. Ihr Traum von einem neuen Paradigma hat sich leider nicht erfüllt, wie die weiterhin einem romantischen Modell verpflichtete Geschichts- und Kulturpolitik von PiS und ein in der Gesellschaft präsenter Antisemitismus sowie eine bedrohliche Homophobie zeigen. So bedauerte sie, „dass vieles in eine falsche Richtung geht. Doch wegen meines Alters fällt es mir nicht leicht, an die Zukunft zu denken. Ich wünsche mir für Polen eine kluge und ehrliche Regierung. Privat habe ich ganz minimalistische Wünsche. Ich hätte gerne zu einem Geburtstag, also unter dem Weihnachtsbaum, einen Haufen guter Bücher und ein paar bequeme, warme Winterstrümpfe.“

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