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Belarus – eine endlose Diktatur?

Am 09. August fand in Belarus eine Präsidentschaftswahl statt, bei der das Ergebnis bereits vorher feststand. Der neue Präsident ist auch der alte, Alexander Lukaschenko, der seit 26 Jahren das Land regiert und nun seine sechste Amtszeit angetreten hat. Dies allerdings nicht auf Grund freier Wahlen, denn mit Ausnahme seiner ersten waren alle folgenden gefälscht und wurden von der internationalen Gemeinschaft auch nicht als frei und demokratisch anerkannt.

Nach verschiedenen Funktionen innerhalb der kommunistischen Partei und der Leitung von Kolchosen bewarb sich Lukaschenko 1994 mit 39 Jahren um das Präsidentenamt. Während des Wahlkampfes kam es zu zwei offensichtlich inszenierten Attacken auf ihn, die, medienwirksam genutzt, seine Popularität verstärkten und ihm den Gewinn der Wahl sicherten. Einmal an der Macht, zeigte es sich, dass er fest entschlossen war, sie nicht wieder aus der Hand zu geben. Etliche Politiker, die ihm hätten gefährlich werden können, starben eines unnatürlichen Todes. Als Auftraggeber der Morde galt Lukaschenko, den die Opposition der Bildung von Todesschwadronen bezichtigte.

Nach der weißrussischen Verfassung war die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Kadenzen begrenzt. Doch Lukaschenko hielt sich nicht daran und trat nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit nicht zurück. Er veranlasste ein „Referendum“, wonach diese verfassungsmäßige Beschränkung aufgehoben und seine ständige Wiederwahl möglich wurde. Damit kann er für sich den traurigen Ruhm in Anspruch nehmen, der in Europa am längsten regierende Diktator zu sein.

Zwischen Passivität und Protest

Man mag sich fragen, wie es möglich ist, dass eine Bevölkerung einen derart diktatorischen Präsidenten über einen so langen Zeitraum erträgt. Unabhängige Umfragen bestätigen, dass Lukaschenko trotz aller Wahlfälschungen stets mit der Unterstützung, wenn nicht der Mehrheit, so doch mit einem Teil der Bevölkerung rechnen kann. Dazu eine weißrussische Anekdote: Von den Deutschen wurden im Zweiten Weltkrieg drei Partisanen gehängt. Während der Russe und der Pole sich mit heftigem Strampeln gegen den Erstickungstod wehrten und dadurch nur umso schneller starben, hing der Weißrusse ruhig am Strick, und der Atem ging ihm nicht aus. Die Deutschen sahen es mit Verwunderung, nahmen ihn von der Schlinge und fragten ihn, warum er anders als die beiden noch am Leben sei. Und er gab zur Antwort: „Na ja, anfangs war es beschwerlich, aber dann habe ich mich daran gewöhnt.“ Dieser schwarze Humor ist eine treffliche Charakterisierung der passiven Mentalität eines Großteils der Bevölkerung, der sich in der Vergangenheit mit den keineswegs rosigen Verhältnissen zufrieden gab und lediglich hoffte, dass sie sich nicht weiter verschlechtern.

Doch die den Weißrussen zugesprochene politische Apathie ist nicht die ganze Wahrheit. Es gab und gibt immer wieder Proteste im Land, die von den Sicherheitskräften brutal aufgelöst werden und zu zahlreichen Verhaftungen und Verurteilungen führen. So war es beispielsweise nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010. Unabhängige Umfragen ergaben, dass für Lukaschenko nicht einmal die Hälfte der Wählerinnen und Wähler gestimmt hatte. Angesichts dieses Faktums kam es in Minsk und anderen Städten zu Massenprotesten. Die Sicherheitskräfte schritten ein und zerstreuten mit brutaler Gewalt die friedlichen Demonstranten. Viele wurden verhaftet, manche gefoltert.

Emigration als Alternative

Der Protest gegen das Lukaschenko-Regime äußert sich auch durch eine Abstimmung mit den Füßen. Das Land mit rund 9,5 Millionen Einwohnern verlassen vor allem junge Menschen. Nach offiziellen Angaben waren es 2018 15 000, 2019 sogar fast 21 000. Sie finden in westlichen Staaten Aufnahme, vornehmlich im benachbarten Polen. Viele von ihnen haben wohl für immer ihrer Heimat den Rücken gekehrt, andere hoffen auf einen Systemwandel, der ihnen die Rückkehr erlaubt; unter ihnen solche, die sich aus der Ferne für ein Ende der Diktatur in ihrem Land engagieren. So der Blogger Stepan Pucila, der von Warschau aus mit seinen Informationen in Belarus nicht weniger als 300 000 Empfänger erreicht. 2019 veröffentlichte er auf You Tube unter dem Titel „Lukaschenko: Untersuchungsmaterialien“ einen Film, der millionenfach angeklickt wurde und als der in Weißrussland am häufigsten angeschaute Streifen gilt.

Bürgerinitiative im Kampf gegen die Corona-Pandemie

Mit dem Ausbruch der durch COVID-19 ausgelösten Pandemie zeigt sich in Belarus ein bedeutsamer gesellschaftlicher Bewusstseinswandel. Wie in anderen autoritär regierten Staaten wurde diese drohende Gefahr auch in Belarus zunächst bagatellisiert. Als besten Schutz gegen eine Erkrankung empfahl der Diktator höchstpersönlich den Gang in die Sauna und einen gehörigen Schluck aus der Wodkaflasche. Und sollten Leute an dem Virus sterben, dann sei dies eben eine natürliche Selektion, der eben die Schwachen zum Opfer fallen. Die Bevölkerung war konsterniert. Sie wertete diese absurden Äußerungen des Präsidenten als Signal, dass von der Regierung kaum eine Hilfe zu erwarten war. Mit Anfang April stiegen die Infektionszahlen rapide und erreichten Höchstwerte von knapp unter 1000 registrierte Fälle pro Tag. Die Menschen griffen zur Selbsthilfe, nähten Gesichtsmasken, unterstützten die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, halfen in den Kliniken. Es kristallisierte sich ein Bürgergesellschaft heraus, bereit, die Geschicke des Landes in die eigene Hand zu nehmen.

Und sie erwies sich auch als Impuls für den im Mai begonnenen Wahlkampf. In den Stadtzentren bildeten sich lange Schlangen wahlberechtigter Bürgerinnen und Bürger, um sich in die Liste des einen oder anderen Rivalen von Lukaschenko einzutragen. Seit einem Vierteljahrhundert hatte es eine vergleichbare Mobilisierung nicht gegeben. In der Gesellschaft war ein deutlicher Stimmungswandel zu spüren. Die Weißrussen schienen wach geworden zu sein, bekannten sich zur eigenen Würde, hatten sich von ihrer Angst befreit, die Lukaschenko bisher die Macht sicherte – Angst vor Verlust der Arbeit, vor Verhaftung, vor Folter. Für viele war der „König“ mit einem Male nackt, ein sterblicher Mensch wie jeder andere. Die weißrussische Nobelpreisträgerin für Literatur, Swetlana Alexijewitsch, kommentierte diesen Wandel mit den Worten, ihre Landsleute hätten ihr Sklaventum nicht nur tropfen-, sondern eimerweise aus sich herausgepresst und ihre Angst vor der Macht des Sicherheitsapparats abgelegt.

Zuspitzung des Konflikts

Mit einer solchen Bürgerbewegung hatte das Lukaschenko-Regime nicht gerechnet. Mit einem Male gewannen nun Persönlichkeiten an Popularität, die mit Lukaschenko um das Präsidentenamt rivalisierten. So der frühere Banker Wiktor Babaryka, der für seine Kandidatur 430 000 Stimmen sammeln konnte. Die Reaktion des Regimes ließ nicht auf sich warten. Die staatlichen Medien geißelten den gesellschaftlichen Aufbruch als vom Ausland, zumal von Polen und Russland, gesteuert. Die sich um das Präsidentenamt bewerbenden Rivalen von Lukaschenko seien ihre kriminellen Handlanger. Sie wurden kurzerhand verhaftet und hinter Schloss und Riegel gebracht. Ihnen drohen, so auch Babaryka, hohe Haftstrafen.

Sollte das Regime geglaubt haben, auf diese Weise die gesellschaftliche Auflehnung im Keim ersticken zu können, dann hatte es sich gewaltig getäuscht. Im ganzen Land kam es zu Solidaritätsbekundungen mit den Inhaftierten. Prominente Persönlichkeiten aus Kultur, Medien und Sport schlossen sich den Protesten an.

Eine Frau forderte Lukaschenko heraus

Am 16. Juli kam es dann zu einem Bündnis der Opposition. Die offiziell registrierte Kandidatin Swetlana Tichanowskaja vereinigte sich mit den Wahlkampfteams zweier nicht zur Wahl zugelassener Kandidaten, der eine, Babaryka, verhaftet, der andere ins benachbarte Russland geflüchtet. Die drei Stäbe wurden jeweils von den Frauen des jeweiligen Wahlkampfteams geleitet, die gemeinsam auftraten und in kurzer Zeit populär wurden. Ihre Botschaft: „Wir bündeln die Kräfte auf ein einziges Ziel hin. Wir wollen mit Stolz unseren Kindern sagen können, dass wir imstande waren, dieses langandauernde diktatorische System zu verändern.“

Swetlana Tichanowskaja, 38 Jahre alt, Übersetzerin, entschloss sich, an Stelle ihres als Präsidentschaftsbewerber gleichfalls verhafteten Mannes, eines bekannten Bloggers, zu kandidieren. Überraschenderweise wurde sie registriert, was sie damit erklärt, dass Lukaschenko in ihr offenbar eine willkommene Rivalin sah, die er der Lächerlichkeit preisgeben konnte, wie er dies auch in seiner Rede an die Nation vier Tage vor der Wahl getan hat. Eine Frau als Präsidentin? Das erschien wohl dem Diktator einer, wie er glaubt, zutiefst patriarchalischen Gesellschaft geradezu als Witz.

Swetlana Tichanowskaja vertrat kein konkretes politisches Programm. Einzig und allein ging es ihr darum, eine erneute Wiederwahl von Lukaschenko zu verhindern. Das ist auch der Grund, warum sie von der Opposition gleich welcher Richtung unterstützt wurde. Im Falle ihrer Wahl würde sie sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, den Weg zu wirklich freien und ehrlichen Präsidentschaftswahlen frei zu machen und nach getaner Arbeit in einem halben Jahr von ihrem Amt zurücktreten.

Alexander Lukaschenko hatte sich jedenfalls gründlich verrechnet. Sie war kein, wie er glaubte, armes. bemitleidenswertes Mädchen, sie erwies sich vielmehr als eine charismatische Persönlichkeit. Zigtausende strömten zu ihren Wahlkundgebungen, hingen an ihren Lippen. In kürzester Zeit wurde sie zu einer nationalen Ikone.

Deutliche Zunahme der Repressionen

Doch mit dem Grad nationalen Erwachens wuchs auch die Repression. Einen Monat vor der Präsidentschaftswahl befanden sich bereits an die 700 Weißrussen in politischer Haft. Shirts mit einem patriotischen Aufdruck wurden zum Zeichen der Massenproteste. Und wer sie trug, der riskierte, auf offener Straße verhaftet zu werden.

Einem besonderen Druck sahen sich Journalisten unabhängiger Medien ausgesetzt. Im Verlauf des Wahlkampfs wurden an die 50 von ihnen verhaftet. Unter dem Vorwurf, ihre Heimatredaktionen würden sich in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands einmischen und öffentliche Unruhen anzetteln, wurde den akkreditierten ausländischen Journalisten gedroht, sie müssten das Land verlassen, falls dies nicht aufhöre. Allein in einer Woche gab es zehn solcher Fälle. Und wer aus dem Ausland seine Akkreditierung beantragt hatte, um über den Präsidentschaftswahlkampf zu berichten, blieb ohne Antwort. Auf Nachfrage erhielt er den Bescheid, zu warten. Und dies sicherlich bis lange nach dem 9. August. Begründet wurde diese Verzögerung mit der Corona-Pandemie, die es angeblich unmöglich mache, die für die Entscheidung zuständige Kommission einzuberufen.

Doch diese Maßnahmen des Lukaschenko-Regimes blieben nicht unwidersprochen. 200 Journalisten reagierten darauf mit einem an Lukaschenko gerichteten öffentlichen Appel, in dem es u. a. heißt: „Die Schamlosigkeit solcher Handlungen bewirkt einen Gegeneffekt. Der zynische Wunsch, den Bürgern zu zeigen, wie wehrlos sie den Machthabern ausgeliefert sind, diskreditiert diese vor allem selbst.“

Je näher der Wahltag heranrückte, umso mehr verschärfte Lukaschenko seine repressive Rhetorik. Er erinnerte an die Geschehnisse vom November 2013 in der benachbarten Ukraine, als es in Kiew auf dem Majdan zur Auflehnung gegen das russlandfreundliche Regime kam und in den blutigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gut 100 Freiheitskämpfer ihr Leben ließen, Präsident Wiktor Janukowytsch fluchtartig das Land verließ und der Prozess einer Demokratisierung und Hinwendung zur europäischen Union seinen Anfang nahm. Das werde es – so Lukaschenko – in Belarus nicht geben. „Wir wissen, sie wollen uns umkrempeln, uns ein Majdan am Tag der Präsidentschaftswahlen bescheren. Ich möchte alle warnen – Majdans wird es in Belarus nicht geben! Wir lassen es nicht zu, dass sich kriminelle Banden über das Land ergießen.“

Und Lukaschenko wurde noch deutlicher. Unter Hinweis auf die Ereignisse in Usbekistan im Jahr 2005, als dort eine friedliche Demonstration vom Militär blutig niedergeschlagen wurde und über 1000 Usbeken im Kugelhagel starben, sagte er: „Denkt daran, wie der frühere usbekische Präsident Karimow den Putsch niederschlug, wobei 1000 Menschen erschossen wurden. Wir haben solches nicht erlebt; darum wollen wir das nicht verstehen – zumindest manche nicht. Deswegen erinnere ich daran!“ Klarer kann man wohl seinem Volk nicht ankündigen, was es zu erwarten hat, falls es sich auflehnt.

Die zunehmenden Repressionen waren zugleich ein Zeichen dafür, dass sich Lukaschenko in seiner Macht bedroht fühlte. Fünf Tage vor dem Wahltag wandte er sich mit einer eineinhalbstündigen Rede an die Nation. Nach seinen Worten konnte man glauben, Belarus sei der Nabel der Welt. Ein ruhiges, friedliches Land, umgeben von zahlreichen Konflikten. Von Russland begehrt, das fürchte, einen seiner letzten Verbündeten zu verlieren. Vom Westens umworben, der Belarus für sich gewinnen möchte. In den Massenkundgebungen gegen seine Wiederwahl sah er das Produkt einer gezielten Gehirnwäsche in den sozialen Medien. Man wolle das Land destabilisieren, und die drei naiven Mädel seien hier das Sprachrohr. Sie würden nicht einmal verstehen, was sie da ihren Zuhörern vorlesen. Und Lukaschenko zeigte Entschlossenheit. „Wir werden das Land nicht hergeben. Denn was man liebt, das gibt man nicht her. Dazu wird es nichtkommen. Um dies zu verhindern haben wir Polizei, Militär und Sicherheitskräfte.“

Im Lager der Opposition war man überzeugt, dass – wie in der Vergangenheit – auch diese Präsidentschaftswahl gefälscht werde. Also schuf man gewisse Vorkehrungen, um dem entgegen zu wirken. Swetlana Tichanowskaja rief dazu auf, erst am Nachmittag des Wahlsonntags zur Wahl zu gehen. Das würde Wahlfälschungen erschweren. Und sie appellierte an die Mitglieder der örtlichen Wahlkomitees, die Stimmen ehrlich auszuzählen. Eine Plattform „Golos“ wurde geschaffen, auf die die von den Wählerinnen und Wählern bei der Stimmabgabe abgelichteten Stimmzettel gesammelt werden sollten als Nachweis persönlicher Wahlentscheidung. Das Regime hat darauf reagiert und – wegen der Pandemie – angeordnet, dass die Wahlkabinen ohne Vorhänge bleiben, also einsichtig sind, eine Verletzung der Verpflichtung geheimer Wahlen. Zudem blockierte es den Zugang zum Internet. Das Tragen eines weißen Armbands wurde zum Zeichen für Freiheit und Solidarität. Wer es trug, der bekannte sich damit öffentlich dazu, nicht Lukaschenko zu wählen.

Ein folgenschwerer Wahlsonntag

Der Wahltag am 9. August verlief, von einzelnen Übergriffen der Staatsmacht abgesehen, zunächst friedlich. Die Bürgerinnen und Bürger drängten in die Wahllokale, füllten ihren Wahlschein aus und warfen ihn in die Urne. Doch was mit ihrem Stimmzettel später geschah, das entzog sich ihrer Kontrolle. Wahlbeobachter der KSZE waren nicht zugelassen, eine objektive Überprüfung der Wahl fand nicht statt. Aktivisten von „Ehrliche Leute“, die versuchten, vor den Wahllokalen die Frequenz zu ermitteln und die ihre Mitbürger nach Verlassen der Wahllokale befragten, wem sie ihre Stimme gegeben hatten, wurden von den Sicherheitskräften daran gehindert oder gar inhaftiert. Wo es ihnen trotz dieser Behinderung gelang, entsprechende Auskünfte zu erhalten, zeigte es sich, dass eine deutliche Mehrheit für Swetlana Tichanowskaja gestimmt hatte.

Im Ausland konnten derlei Befragungen ungestört vorgenommen werden. Danach erhielt Alexander Lukaschenko nicht einmal 10% der Stimmen; kein überraschendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Masse der Exilweißrussen ihr Land wegen der dort herrschenden diktatorischen Verhältnisse verlassen haben.

Und bewiesen nicht den Wahlsieg von Swetlana Tichanowskaja ihre Wahlkundgebungen mit zigtausenden Teilnehmern, und das nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in weiteren 30 Städten, ja selbst in manchen Dörfern?

Dessen ungeachtet wurde noch vor Auszählung der Stimmen Lukaschenko durch die staatlichen Medien am Wahlabend zum Sieger erklärt. Er habe über 80% der Stimmen erhalten. Am Montagmorgen gab dann die Zentrale Wahlkommission das offizielle Endergebnis bekannt: 80,23% für Lukaschenko, 9,9% für Tichanowskaja. Danach wurden, wie auch bei früheren Wahlen, alle Stimmzettel verbrannt und somit eine unabhängige Überprüfung des Wallergebnisses unmöglich gemacht.

Mit der Veröffentlichung dieser Daten war der Wahlbetrug so offensichtlich, dass es am Abend des 9. August in Minsk und anderen Städten zu Massenprotesten kam, bei denen die Demonstranten Lukaschenkos Rücktritt und einen grundlegenden politischen Wandel forderten. Doch die Sicherheitskräfte waren darauf gut vorbereitet und gingen gegen die Demonstranten unter dem Einsatz von Blendgranaten, Gummigeschossen, Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken brutal vor. Erst tief in der Nacht beruhigte sich die Lage. Nach offiziellen Angaben gab es 100 Verletzte und 3000 Festnahmen. Die Zahl der Verletzten und Inhaftierten erhöhte sich von Tag zu Tag. Mindestens zwei Demonstranten verloren ihr Leben.

Doch die Gewalt vermochte es nicht, die Proteste zu unterbinden. Im Gegenteil. Sie weiteten sich aus, nahmen neue Formen an. Weißgekleidete Frauen mit Blumen in den Händen bildeten Menschenketten, sangen patriotische Lieder. Ärzte, die in den Krankenhäusern die Verletzten behandelt hatten, schlossen sich dem Protest an, Künstler lehnten sich mit viel Phantasie gegen das Lukaschenko-Regime auf. In zahlreichen Fabriken kam es zu Arbeitsniederlegungen, wenige Tage später zu einem Generalstreik.

Der wiedergewählte Präsident mied am Abend des 9. August die Öffentlichkeit. Es gab keine zur Schau gestellte Siegesfeier, keine Anhänger, die ihm öffentlich zujubelten.

Auch Swetlana Tichanowskaja zeigte sich nicht den protestierenden Massen, die sie enthusiastisch gefeiert hätten. Auf ihren Kundgebungen hatte sie immer wieder vor gewaltsamen Auseinandersetzungen gewarnt und gehofft, die Sicherheitskräfte würden nicht gegen friedliche Demonstranten gewaltsam vorgehen.

Am Morgen nach dem Wahlsonntag hatte sich Swetlana Tichanowskaja zur Zentralen Wahlkommission begeben, um gegen das Wahlergebnis Beschwerde einzulegen. Ihr Team wartete vergeblich auf ihre Rückkehr. Schon befürchtete man ihre Verhaftung. Doch dann meldete sie sich nach Stunden mit zwei Videobotschaften aus Litauen, wohin sie bereits vor ihrem Wahlkampf ihre Kinder in Sicherheit gebracht hatte. Sie habe, wie sie auf dem einen Video sagte, ihr Land aus freier Entscheidung, ohne äußeren Zwang verlassen, weil sie sich den aus dem Wahlergebnis ergebenden Belastungen nicht gewachsen fühle. Auf dem anderen Band las sie mit monotoner Stimme eine offenbar im Büro der Zentralen Wahlkommission verfasste Erklärung, in der sie ihre Anhänger dazu aufrief, sich nicht auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften einzulassen. Diese Erklärung wurde in den staatlichen Medien verbreitet, um – allerdings vergeblich – die Proteste zu stoppen.

Aus dem litauischen Exil gelang es Swetlana Tichanowskaja, in ihrer Heimat einen mit angesehenen öffentlichen Persönlichkeiten besetzten Koordinierungsrat zu bilden. Er sollte nach der Entlassung politischer Gefangener im Dialog mit der Regierung erneute Präsidentschaftswahlen vorbereiten. Doch Lukaschenko lehnte jede Art von Dialog ab. Er ging vielmehr in die Offensive und kündigte für die letzte Augustwoche an, die Ordnung im Land wiederherzustellen.

Reaktion des Auslands

Dass sich Putin und der chinesische Präsident Xi Jinping beeilten, kurz nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses Lukaschenko zu seiner Wiederwahl zu gratulieren, verwundert nicht. Schließlich sind sie vom gleichen Geist. Ihnen dienen Wahlen, ganz so wie zu kommunistischen Zeiten, einzig und allein ihrem Machterhalt. Für sie sind daher Wahlfälschungen etwas gänzlich Normales. Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte wie Meinungsfreiheit und individuelle Menschenrechte zählen für sie nicht.

Anders die Stimmen aus der Europäischen Union. Ihre führenden Politiker forderten übereinstimmend ein Ende der Gewalt. Der polnische Präsident Duda sprach sich angesichts der Ereignisse in seinem Nachbarland für die Einberufung eins Sondergipfels aus. Der Ruf nach Sanktionen wurde laut. Die Präsidenten Polens und der baltischen Staaten unterzeichneten einen gemeinsamen Appell. Sie beriefen sich auf die Erfahrungen ihrer Länder, wonach nur ein gesellschaftlicher Dialog in der Lage sei, eine derartige Krise zu lösen. Ein konstruktiver, von Polen und Lettland unterstützter Vorschlag kam aus Litauen. Er sieht unter ihrer Vermittlung nach Einstellung der Gewalttaten und Entlassung der politischen Gefangenen die Einberufung eines Nationalrates vor.

Die Möglichkeiten der Europäischen Union, auf die Ereignisse in Belarus Einfluss zu nehmen, bleiben leider gering. Ohne Russland wird es hier kaum Fortschritte geben. Und Putin verfolgt seine eigenen Interessen. Ihm dürfte an einer Schwächung der Position von Lukaschenko gelegen sein, der bislang eine gewisse Distanz zu Putin hielt und weder die Annexion der Krim anerkannt noch sein kriegerisches Abenteuer in der Ostukraine unterstützt hat. Diese Ambivalenz dürfte bei westlichen Politikern eine Rolle spielen, die kein Interesse daran haben können, etwa durch wirtschaftliche Sanktionen die Bindung von Belarus an Russland zu verstärken. So begnügte man sich innerhalb der EU auch damit, die für den Wahlbetrug und die Gewaltausübung Verantwortlichen mit Sanktionen zu belegen.

Über drei Wochen nach der Präsidentschaftswahl herrscht in Belarus eine Art Pattsituation. Lukaschenko denkt nicht an Rücktritt und verweigert jeden Dialog. Durch Verhaftung der Streikführer und Druck auf die Belegschaften gelang es ihm, eine Streikwelle zu verhindern. Gezielte Verhaftungen dienen dazu, die Opposition zu schwächen. Doch die Massenproteste gehen unvermindert weiter. Maria Kolesnikowa, eine der drei Frauen und Mitglied des Koordinierungsrates, gründete als Sammelbewegung die Partei „Miteinander“. Noch verzichtet Lukaschenko auf die Ausrufung des Kriegsrechts und damit auf den Einsatz des Militärs.

In etwa gleicht die Situation in Belarus der in Polen vor genau 40 Jahren, als mit der Gründung der „Solidarność“ der Kampf um Freiheit und Demokratie begann. Es sollte neun Jahre dauern, ehe er gewonnen war.

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