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Außer der Reihe: Barbe M. Linke, Auszug (Rezension)

Barbe Maria Linke, Auszug. Eine Reisebeschreibung, Geest-Verlag Vechta-Langförden 2020, S. 172.

Das Cover des neuen Romans von Barbe Maria Linke gibt Rätsel auf. „Auszug“ lautet der lapidare Titel. Dazu zwei übereinander gestellte Flächen, die untere schwarz, die obere im hellen Licht. Spiegelblick, Dunkelbild nennt Susanne Geister, die mit der Autorin befreundete Malerin, ihr Werk.

Vorerst hilft der Untertitel weiter: Eine Reiseschreibung. Mira Roth, 1983 mit ihrer Familie aus der DDR ausgewiesen, macht sich auf den Weg zu ihren Ostberliner Freunden, dem Ehepaar Laure und Paul. Und dies halb illegal. Trotz des staatlich verhängten Einreiseverbots gelingt das Wagnis durch den Erwerb eines Ausweises zu einem dreitägigen Besuch der Leipziger Messe. Doch dort kommt sie nicht an. Sie bleibt in Ostberlin. Sie folgt einem inneren Drang und fragt sich doch „was zieht mich zurück in das Land, das uns ausgespuckt hat? Ausgesondert. Eine Schaufel Dreck. Entsorgt in den Westen.“ (11)

Nach wenigen Zeilen wird deutlich, dass es sich um einen autobiographischen Roman handelt. Barbe Maria Linke und ihr Mann Dietmar gehörten wie etliche andere evangelische Pfarrer der unabhängigen Friedensbewegung an. Das brachte sie in Konflikt mit ihrer Kirchenleitung. Die Öffnung ihres Kirchenraums für kulturelle Veranstaltungen und Diskussionen, für die es sonst wo keinen Platz gab, rief die Staatsicherheit auf den Plan, die ihrerseits die kirchlichen Oberen wissen ließ, man wolle doch nicht das gute Verhältnis zwischen Staat und Kirche durch einzelne Hitzköpfe aufs Spiel setzen.

Dieser Konflikt kommt im Roman mehrfach zur Sprache. So bei der Vorladung durch den Superintendenten: „Der Mann mit den kurzen Beinen holte tief Luft, bevor er sagte: Es gibt nur eins! Ruhe muss wieder einkehren! Hören Sie, Bruder Roth, Ruhe!“ (11) Ein Versetzung in ein verlassenes Mecklenburger Dorf lehnt Pfarrer Roth ab. Am Ende muss er mit Frau und Kindern binnen 24 Stunden die DDR verlassen, abgeschoben in die Bundesrepublik, in die „Entsorgungseinrichtung unbeugsam gewordener DDR-Bürger.“ (67) Die Familie nimmt ihren Wohnsitz in Westberlin, wo Bruder Roth allerdings zur Strafe nicht wieder als Pfarrer tätig werden darf, denn – so die zynische Begründung – der Hirte verlässt seine Herde nicht.

Getrennt von ihren Freunden, suchen die Roths dennoch den Kontakt zu ihnen. Ein Drittland bietet sich dazu an. Dem dient eine zweite Reisebeschreibung. Sie führt Mira und Carl in das tschechische Franzensbad, wo sie drei Tage mit Laure und Paul verleben. Diese Reise wird im Detail geschildert, schöpft aber nicht in Verbindung mit Miras Ostberlinbesuch den Bedeutungsgehalt des Untertitels voll aus. Er kann auch als eine Reise ins eigene Innere verstanden werden, ausgelöst durch die in Ostberlin wie in Franzensbad geführten Gespräche. In ihnen kommt, mehr bei Mira und Laure, weniger bei Carl und Paul, das Vergessene und Verdrängte, das im Dunklen Liegende ans Licht. Oftmals in einem schmerzhaften Prozess.

Und wo das Dunkle ans Licht, die Enge der Angst zur Freiheit drängt, da spielen Träume eine Rolle. Im Roman werden gleich mehrere erzählt: Krokodile bewegen sich auf Laure und ihre Tochter zu. „Es dampft gelb aus ihren Mäulern. Vor Schreck bleibe ich stehen. Doch das Wunder geschieht. Die Krokodile gehen an uns vorbei.“ (96) Wie mächtig die innere Sehnsucht wirkt, ins Offene und Freie zu gelangen, erlebt Laure in einem weiteren Traum: „Ich gehe durch den unendlich langen Raum, als hätte ich ein Ziel. Höre die Stimmen der Frauen in meinem Rücken, die im Halbdunkel arbeiten. Am Ende des Raums eine Tür, die ich öffne, hinter der zwei fremde Vögel sitzen, weißblau der eine Vogel, der andere weißrot. Öffne die nächste Tür, fordern die Vögel. Immer nur: Öffne die Tür.“ (140)

Damit erklärt sich das Rätsel von Titel und Titelbild. „Auszug“ meint das Fragment einer auf wenige Tage verdichtete freundschaftliche Begegnung, bei der der Blick auf den anderen zum Spiegel eigenen Erkennens wird und das im Dunkel Verborgene ans Licht gelangt.

Was in den Gesprächen ans Licht kommt, das sind die Repressionen eines menschenverachtenden Systems. Ein Satz aus einer Dissertation reicht, um eine hoffnungsvolle wissenschaftliche Karriere im Ansatz zu zerstören. Statt an der Universität zu arbeiten, verdient nun der Betroffene sein Brot als Hilfspfleger, wartet seit sechs Jahren auf die Genehmigung seiner Ausreise. (33f) Gerade die berufliche Diskriminierung und die lange, ungewisse Wartezeit auf eine Ausreise in den Westen, Methoden, die auch an anderer Stelle des Romans beschrieben werden (81), zielen wie manches andere ganz bewusst auf die Zersetzung der Person. Ein weiteres Beispiel ist der Psychoterror, der auf Unangepasste ausgeübt wird. Mira erlebt ihn mit ihren Studienkollegen. Es ist der Oktober 1965. Kommunalwahlen stehen an, für die es lediglich die Einheitsliste der Nationalen Front gibt. Man spricht sich ab, nicht zur „Wahl“ zu gehen. Eigens ausgewählte Jurastudenten setzen den Theologiestudenten des ersten Semesters hart zu. „Schluss jetzt! Geht zur Wahl. Kommt eurer verdammten Pflicht endlich nach!“ (27) Der Dekan sowie der Oberassistent für Marxismus-Leninismus reisen eigens aus Berlin an, bearbeiten sie in schier endlosen Gesprächen, drohen mit der Exmatrikulation. Doch bis auf zwei Kommilitonen widerstehen sie dem Druck.

Innere Verletzungen, traumatische Erfahrungen kommen zur Sprache. Bis zu dem Wiedersehen in Franzensbad hat Laure verschwiegen, dass sie mit 19 Jahren verhaftet worden war und vier Monate in U-Haft saß, ehe sie unter Auflagen frei kam. Auf einem Berliner Pfingsttreffen der FDJ hatte sie einen Westberliner Jungen getroffen, Freundschaft geschlossen, sich verliebt. Die Stasi konstruierte daraus eine versuchte Republikflucht und warf ihr aufgrund harmloser, bei ihr gefundener Fotos zudem Spionage vor. Man zwang sie, ihren Freund nach Ostberlin zu bitten, wo er gleichfalls verhaftet und verurteilt wurde.

Was bedeutet es, sich jahrzehntelang an das Schweigegebot der Stasi zu halten, in permanenter Angst zu leben, die hemmt, sich zu wehren wie Mira und Carl? Laure möchte der Last ihres Lebens entfliehen, in den Westen gehen, Freiheit gewinnen. Doch Paul möchte trotz allem bleiben, verkriecht sich in das Gartenhaus mit einem in den offenen Himmel weisenden Pfeil. Auf ihn hatte Laure, hinter dem Küchenfenster stehend, einen Winter und einen Frühling lang gestarrt. Sie wollte ihn fotografieren und vermochte es nicht. (134; 153)

Was verleiht die Kraft, unter derart repressiven Bedingungen zu leben? Es sind die heimische Landschaft, das soziale Netz freundschaftlicher Verbundenheit, die in Ausgelassenheit gefeierten Feste. Ein Gefühl von Heimat, auch wenn man es sich nicht eingesteht. Bei Mira bedurfte es eines äußeren Anstoßes, um sich dessen zu vergewissern. „Auf einmal entdeckte ich ein Wort, das vorher nie eine Rolle spielte, Heimat.“ (143) Ein Gefühl der Verbundenheit mit dem, was war. Mira spürt es bei sich: „Es ist, als klebe die Vergangenheit immer noch an ihrer Haut, als sauge sie sich fest.“ (44)

Und Halt bietet den Unangepassten die Kunst, vor allem die Literatur. Christa Wolf, Jurek Becker, Trakl… Zuweilen sind es wenige Worte, die hellsichtig und nicht verführbar machen. „So zahlt unser Jahrhundert heim denen, die seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung trauten.“ (83) Es sind Worte von Czesław Miłosz. Carl zitiert sie auf der Fahrt nach Franzensbad.

„Auszug“ ist letztlich ein Roman über die Freundschaft. Darauf verweist der als Leitwort gewählte Text der Bettina von Armin, entnommen einem Brief an die Günderode: „…wenn ich nicht lernte dir meine Seele geben, / nackt und bloß. / Freundschaft, das ist der Umgang der Geister, nackt und bloß.“ An diesen Worten ist die Freundschaft zwischen den beiden voneinander getrennten Ehepaaren zu messen, vor allen die zwischen Mira und Laure, die besonders eindringlich erzählt wird. Als Mira von Laures Ängsten erfährt, von ihrem Leiden unter dem Schweigegebot der Stasi, sagt sie: „Und ich wusste von all dem nichts. Freundschaft nackt und bloß, sagst du Bettina. Du wirst sie gelebt haben. Und ich? Verstecke ich mich nicht? Was muss ich vor den anderen verbergen? […] Wie viele Häute abfallen müssen, bevor du ein Mensch wirst.“ (95f)

Sich dem anderen gegenüber nackt und bloß geben, dieser Maßstab wahrer Freundschaft findet sich im Text mehrfach. Diesem Anspruch auszuweichen, das ist die wahre Gefährdung einer Freundschaft. Wie kann sie dauern, wenn die Mauer die Freunde trennt? Reicht der briefliche Austausch? Reichen gelegentliche Kurzbesuche? Führen nicht die unterschiedlichen Lebenswelten in West und Ost dazu, dass man einander fremd wird? Paul schreibt von seiner Angst, „es könnte etwas zwischen uns treten, unverhofft und ungewollt und unüberbrückbar.“ Und Mira fragt sich: „Ist es nicht längst zwischen uns getreten? Leise und schleichend?“ (47) Mira selbst erlebt das Trennende, flüstert es und schreit es dann aus sich heraus: „Ich komme hier nicht mehr an!“ (69) Es ist der Mehlstaub der Fremdheit, der sich bei ihrem Besuch über alles legt, was ihr doch so vertraut war. „Mein Kopf wusste es: Hier habe ich gelebt. Gibt es das, dass du Wege gehst, die du kennst, die du hundertmal gegangen bist, und doch sind es fremde Wege?“ (48)

Und es ist die Angst, den anderen zu verletzen durch das, was man sagt, was man von sich preisgibt. „Die Angst, dich mit meinen Gedanken, meinen Fragen, meinem Sosein zu verlieren, saß tief.“(101) Daher das Ausloten, was man dem anderen zumuten kann. Ein Schweigen aus Rücksichtnahme, das gleichfalls trennend wirkt, Vertrauen vermissen lässt, die Freundschaft gefährdet.

Diese Gefährdung gab es längst vor dem Mauerbau. So als Mira erfährt, dass Laure ihre Tochter zu den Jungen Pionieren schicken werde, um ihr, wie sie sagt, die Zukunft nicht zu verbauen. Mira reagiert abweisend, mit Unverständnis. Denn den wahren Grund kennt sie nicht, den sagt Laure nicht, das auf ihr lastende Schweigegebot der Stasi, ihre Angst vor erneuter Verhaftung. Mira erinnert sich: „Ich versuchte, meine Enttäuschung und meinen Ärger herunterzuschlucken. Ich weiß noch, wie sehr ich mich anstrengen musste, ein verbindendes Wort zu finden.“ (125)

„Auszug“ ist kein Hoheslied auf die Freundschaft. Es ist ein Roman, der das Ringen um Freundschaft zeigt, der ihre Gefährdung offen legt, das Trennende, die Ängste, auch die Angst, vor ihrem Anspruch zu versagen, davor, sich dem anderen gegenüber bedingungslos zu öffnen, nackt und bloß.

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