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Die Nation ist nicht heilig Zum Gedenken an Maria Janion (1926-2020)

Am 23. August verstarb 93jährig Prof. Maria Janion, die wohl bedeutendste polnische Literaturwissenschaftlerin. Geboren wurde sie am Heiligabend des Jahres 1926 unweit von Białystok. Ihre Jugend verlebte sie in Vilnius, wo sie während des Zweiten Weltkriegs sowohl die sowjetische als auch die deutsche Besatzung erlebte, ehe sie nach 1945 „repatriiert“ wurde.

Wie viele ihrer Generation leistete sie während der Okkupation als junge Pfadfinderin im Rahmen der Heimatarmee (AK) aktiven Widerstand. Nach Kriegsende begann sie ihre wissenschaftliche Karriere am renovierten Warschauer Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), wo sie von 1948 – 1956 tätig war. Danach lehrte sie an der Danziger Pädagogischen Hochschule. Als im März 1968 nach der vom kommunistischen System verfügten Absetzung des nationalen Dramas „Die Totenfeier“ die Studenten auf die Straße gingen, um für kulturelle Freiheit zu demonstrieren, verlor Maria Janion, die mit ihnen sympathisiert hatte, ihre Stellung, Zwei Jahre später konnte sie ihre akademische Laufbahn an der 1970 neu gegründeten Danziger Universität, der sie zeitlebens treu blieb, fortsetzen.

In ihrem geistigen Schaffen war Maria Janion schier unermüdlich. Ihr Arbeitstag reichte von 6.00 früh bis Mitternacht. Pausen machte sie kaum. Bei jeder Arbeitsunterbrechung schlug ihr, wie sie einmal sagte, das Gewissen.

Legendär sind ihre Seminare, die ihre einstigen Studentinnen und Studenten in dankbarer Erinnerung bewahren. Janion nahm sie in diesen Stunden mit auf die Suche nach dem Sinn literarischer Texte. Sie schärfte ihren kritischen Blick auf die nationale Tradition von Literatur und Geschichte sowie für die Gefahr, sie im politischen Interesse nationalistisch zu missbrauchen.

1996 ging sie in den Ruhestand, war aber weiterhin produktiv. Eine Bibliographie aus dem Jahr 2006 vermerkt 723 Titel, darunter die von Dutzenden Büchern.

Zu ihrem 80. Geburtstag erhielt Maria Janion ein besonderes Geschenk, eine Art Stammbaum. Sie selbst bildet den mächtigen Stamm. An 40 Ästen sind die Namen ihrer Doktorandinnen und Doktoranden verzeichnet, an den Zweigen die von rund 400 Magistern. Ein eindrucksvolles Zeugnis für ihren Einfluss auf die nachwachsende wissenschaftliche Generation! Wie stark diese Verbundenheit ist, das lässt sich an den zahlreichen Nachrufen aus ihrem Schülerkreis ermessen.

Janions Auseinandersetzung mit der Romantik, mit ihrer literarischen Bewältigung der Leiden der Nation, mit ihrem Messianismus sowie mit der Problematik gegenwärtiger politischer Instrumentalisierung findet ihren Ausdruck in dem Dokumentarfilm der Regisseurin Agnieszka Arnold „Bunt Janion“ (2005) (Janions Rebellion). Er zeigt die emeritierte Literaturwissenschaftlerin in ihrer mit Büchern überbordenden Wohnung. Ehemalige Studentinnen und Studenten sowie nahe Weggefährten kommen zu Wort. Der Film führt eindrucksvoll vor Augen, dass Maria Janion drei Generationen modern denkender und bedeutender polnischer Humanisten geformt hat. Manche von ihnen wählten die akademische Laufbahn oder sind im Medienbereich tätig, andere machten sich einen Namen als Schriftsteller und etliche verließen Polen und leben im Ausland.

Janions Verhältnis zu den Juden

Vilnius war in ihrer Kindheit eine Stadt ethnischer Vielfalt. Litauer, Polen, Deutsche und Juden lebten miteinander in enger Nachbarschaft. Aber der in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Antisemitismus war auch in Vilnius spürbar. In vielen katholischen Haushalten war die antisemitische, von P. Maximilian Kolbe redigierte Zeitschrift „Mały Dziennik“ zu finden; so auch bei Janions Tante. Maria las sie eifrig, doch wie sie in einem Interview aus dem Jahr 2006 sagte, bewirkte die Lektüre bei ihr das genaue Gegenteil, Neugier und Faszination für die Juden.

Während des Zweiten Weltkriegs erlebte sie, wie die Juden von den deutschen Besatzern durch die Straßen der Stadt in den Tod getrieben wurden. Aus dieser traumatischen Erfahrung resultiert, wie sie einmal schrieb, ihr „tragisches Mitgefühl für die Juden. „Dieses Mitgefühl blieb mir für immer als Schwur, mit ihnen zu sein.“ In diesem Sinn veröffentlichte sie in Hinblick auf die Aufnahme Polens in die Europäische Union (2004) ihre Schrift „Nach Europa, doch gemeinsam mit unseren Toten“ (2000). Diese Schrift ist ein Plädoyer der Zugehörigkeit der Juden zur nationalen Tradition sowie eine Absage an jede Art von Antisemitismus. „Wir können nicht nach Europa gehen und zugleich unsere Juden, unser gemeinsames dunkles Schicksal, aus dem Gedächtnis löschen.“ Die Schrift löste eine lebhafte und kontroverse Diskussion aus, in der nationalistische Kreise Janion mangelnde Liebe zur eigenen Nation vorwarfen.

Als 1968 im Zusammenhang mit den Protesten der Studenten das kommunistische Regime die Büchse der Pandora öffnete und dem Antisemitismus freien Lauf ließ, wurde Maria Janion selbst zur Jüdin gestempelt, nicht der Herkunft, wohl aber des Geistes nach. Mit dieser Begründung wurde ihr versagt, an der Warschauer Universität als Polonistin zu arbeiten.

Expertin der polnischen Romantik

Maria Janion gilt als die Expertin der polnischen Romantik. Unter einer Vielfalt unterschiedlicher Aspekte hat sie dieser Hochblüte polnischer Nationalliteratur zahlreiche Bücher gewidmet. Um ihre spätere kritische Auseinandersetzung mit der bis heute nachwirkenden romantischen Tradition zu verstehen, sei hier wenigstens in Umrissen auf die Bedingtheit der polnischen Romantik und ihre zentralen Themen verwiesen.

Es gibt Völker, die seit ihrer Staatsgründung eine kontinuierliche, durch keine Katastrophe unterbrochene Geschichte besitzen. Andere haben sich ihre Unabhängigkeit in kürzester Zeit und dauerhaft erkämpft. Und es gibt Polen, dessen Geschichte über ein Jahrtausend zurückreicht, das im Mittelalter unter der Dynastie der Jagiellonen ein Großreich bildete, dann aber als Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund von drei Teilungen seine Eigenstaatlichkeit verlor und über ein Jahrhundert deutscher, österreichischer und russischer Herrschaft unterworfen war. Dieses der polnischen Romantik zugrunde liegende Verlusttrauma kennzeichnet das nationale Selbstverständnis.

Mit diesem Trauma verbindet sich der unerschütterliche romantische Glaube an die Rückgewinnung nationaler Eigenständigkeit, wie er in der polnischen Nationalhymne seinen Ausdruck findet: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben.“ In der Zeit der Teilungen als Lied der Legionäre im Dienste Napoleons entstanden, bringt sie den Glauben an Polens Wiedergeburt zum Ausdruck. Diesem Glauben ist es zu verdanken, dass Polen als Nation in der langen Phase der Unfreiheit nicht unterging, sondern 1918 in der Lage war, als Nation die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs gegebene Gunst der Stunde zu nutzen.

Der Kampf um Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit wurde nicht nur mit der Waffe geführt, sondern auch mit der Feder des Schriftstellers. Die Zeit des politischen Niedergangs war zugleich die Zeit der Hochblüte polnischer Nationalkultur. Sie brachte mit Cyprian Norwid (1809-1849), Juliusz Słowacki (1909-1849) und Adam Mickiewicz (1798-1855) drei Dichter von Weltrang hervor, die in ihren Werken, jeder auf seine Art, der nationalen Trauer Ausdruck verliehen, zugleich aber in der Verbindung von Glaube und Freiheit die Hoffnung weckten auf ein Ende der Drangsal und auf die staatliche Neugeburt. Im Rückgriff auf den christlichen Glauben, in Analogie zu Tod und Auferstehung Christi, verlieh Adam Mickiewicz dem Kampf gegen die Unterdrücker und dem Leiden der Nation einen spezifischen Sinn: Eine Überhöhung der Leiden der Nation, die in einen Messianismus gipfelt, der das unterdrückte und um seine Freiheit kämpfende Polen zum „Christus der Nationen“ erhebt.

Das Ende des romantischen Paradigmas

Nach dem Ende des Kommunismus war Maria Janion der Überzeugung, dass es mit der gewonnenen Freiheit neuer kultureller Entwürfe bedürfe. Sie verkündete das Ende des romantischen Paradigmas und löste damit eine breite Diskussion aus. Sie sah sich Attacken nationalistischer Kreise ausgesetzt, die ihr vorwarfen, die Nationaldichter Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Cyprian Kamil Norwid aus dem nationalen Kanon streichen zu wollen. Ein Missverständnis. Die nationale Bedeutung dieser Romantiker stand für sie selbstverständlich außer Frage. Der Glaube, dass aus dem Martyrium der Nation in der langen Phase der Unterdrückung, der Aufteilung des Landes, des Verlustes der Eigenstaatlichkeit, als Frucht der erbrachten Opfer der Morgen der Freiheit anbrechen werde, hatte sich schließlich als wahr erwiesen.

Aber konnte dieses romantische Paradigma auch für die nun angebrochene Freiheit Geltung beanspruchen? War es für die nun geforderte gesellschaftspolitische Gestaltung nicht dysfunktional? Janion empfand jedenfalls die überlieferte romantische Tradition als Korsett patriotischer Pflichten sowie zur Pflege eines Opferkults für das nun geforderte individuelle und gesellschaftliche Verhalten als nicht mehr geeignet. Sie meinte, dass es an der Zeit sei, Freiheit und Verantwortung neu zu bedenken damit neue schöpferische Ideen und Initiativen zur Formung des sozialen Lebens bereit stünden.

Dazu sei es erforderlich, die Enge der Selbstgefangenheit in die eigene nationale Tradition aufzubrechen und den Anschluss an die Weite der Weltliteratur zu suchen. Mit sieben Bänden ihrer „Transgression“ lieferte Janion dazu die Grundlage. Die von ihr ausgewählten Texte wurden in ihrem legendären Seminar interpretiert, diskutiert und auf ihre kulturelle Adaption geprüft.

Was bedeutet „Nation“?

In der Auseinandersetzung mit der romantischen Tradition ist die Frage nach dem Verständnis von Nation von entscheidender Bedeutung. Janion wandte sich immer wieder entschieden gegen jede Art von Überhöhung der Nation, wie sie in Sprache und Handlungen von PiS und der von ihr gebildeten Regierung zum Ausdruck kommt. Sie braucht ihr Feindbild, sei es der Antisemitismus, sei es die Homophobie einer so genannten „LGBT-Ideologie“.

Janion betont: „Die Nation schafft sich weder selbst noch ist sie gottgegeben – wie dies manche Romantiker meinten, sondern sie ist ein zwischenmenschliches, kommunikatives Konstrukt – also eine auf Vorstellungen beruhende politische bzw. soziale Gemeinschaft.“ Das in der Romantik ausgeprägte Verständnis der Nation könne keinen absoluten Rang beanspruchen. Es sei ideengeschichtlich und damit historisch bedingt.

Ist dem so, dann schließt dies ein Verständnis aus, wonach die Nation eine heilige, gleichsam aufgrund übernatürlicher Kräfte geprägte Gemeinschaft ist. Weil jedoch weite Teile der polnischen Gesellschaft an der Vorstellung der Heiligkeit der Nation festhalten, haben wir es mit einem Konflikt zwischen einem säkularen Verständnis der Nation als eines sozialen Konstrukts und der von PiS sowie seitens der Kirche geförderten Idee einer religiös überhöhten Nation zu tun. Dieser Konflikt bestimmt die Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik der Kaczyński-Partei. Ihr geht es u. a. darum, durch die von ihr veranlasste Umgestaltung des Warschauer Historischen Museums, durch die Gründung zahlreicher neuer Museen sowie durch eine entsprechende Gestaltung der schulischen Lehrpläne einen Patriotismus der traditionellen romantischen Überzeugung zu fördern, die Nation sei ein Absolutum. Dies bringt diese Auffassung in Widerspruch zur Religion, der man sich bedient. Anders gesagt: Indem man sich zur Überhöhung der Nation, so wie in der Romantik geschehen, christlich-religiöser Elemente bedient, wird der christliche Glaube auf unzulässige Weise national instrumentalisiert. Janion verweist in diesem Zusammenhang auf den polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz, der im religiös verbrämten Patriotismus geradezu eine Gotteslästerung sah und dafür von nationalistischen Kreisen als „antinational“ scharf attackiert wurde.

Absage an den Messianismus

Die Überhöhung der Nation wird im Messianismus der Romantik besonders deutlich. Dazu ein Fragment aus den „Büchern der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft“. Verfasst hat es Adam Mickiewicz nach dem verlorenen Novemberaufstand (1830/31), um dem leidvollen Schicksal seines Volkes eine sinnstiftende Deutung zu verleihen: „Die polnische Nation wurde gemartert und ins Grab gelegt, worauf die Könige riefen: ‚Getötet und bestattet haben wir die Freiheit.‘ Doch ihr Rufen war Dummheit. Mit ihrem letzten Verbrechen ward das Maß ihrer Untaten voll, und ihre Macht endete, da ihr Jubel am größten. Denn die polnische Nation starb nicht. Zwar liegt ihr Leib im Grab, doch ihre Seele erstand von der Erde, das heißt, sie entwich aus dem öffentlichen Leben, in den Abgrund, in das verborgene Leben der unter Unfreiheit leidenden Völker in der Heimat und außerhalb ihrer – um ihre Leiden zu schauen. Doch am dritten Tag kehrt die Seele in den Leib zurück und die Nation ersteht von den Toten und befreit alle Völker Europas aus der Knechtschaft.“

Diese Analogie zum Martertod Jesu, zu seinem Abstieg ins Totenreich und zu seiner Auferstehung macht Polen zu einer auserwählten Nation, dazu berufen, die Völker Europas in die Freiheit zu führen. Janion verweist in diesem Zusammenhang auf Zygmunt Krasiński (1812-1859), der in seinen Briefen an die damaligen politischen Autoritäten Europas unter Hinweis auf die Opfer, die Polen für Europa gebracht habe, den Anspruch auf Unabhängigkeit seines Landes erhob, ohne die es kein Gleichgewicht Europas geben könne. Die Briefe seien, wie Janion anmerkt, wirkungslos geblieben. Es habe sich gezeigt, dass Europa im 19. Jahrhundert ohne ein unabhängiges Polen gut zurechtgekommen sei.

Aus dieser Erfahrung resultiert die bis in die Gegenwart nachwirkende, in PiS und ihrer Politik lebendige Überzeugung, Polen habe sich unentwegt für Europa geopfert, ohne dass dies honoriert worden wäre. Als Beispiel erwähnt Janion den polnisch-sowjetischen Krieg von 1920, in dem Polen durch das „Wunder an der Weichsel“, wie man glaubt, Europa vor dem Bolschewismus gerettet und sich erneut als Vormauer Europas erwiesen habe, ohne dass dies im Bewusstsein der Westeuropäer eine Rolle spiele. Wenn heute die Nationaldemokraten für sich in Anspruch nehmen, das wahre Europa zu repräsentieren, und bei ihnen immer wieder eine ablehnende Haltung gegenüber der Europäischen Union und ihren Institutionen erkennbar sowie ein moralischer Verfall Westeuropas behauptet wird, dann erkläre sich dies auf dem Hintergrund des aus der Romantik überlieferten Messianismus.

Maria Janion sagt von sich, sie habe im Leben einen Wandel vollzogen. Einst habe sie geglaubt, der polnische Messianismus sei keine Selbstüberhebung und wenn, dann eine allein im Leiden, nicht aber eine, die Gewalt beinhalte. Diese Auffassung hat sie korrigiert: „Auch Selbstüberhebung im Leiden ist eine Selbstüberhebung wie jede andere, ist etwas, das Herzen versteinert und nicht imstande ist, anderen gegenüber Empathie zu empfinden.“ Damit spielt sie auf die unter der PiS-Regierung deutliche Tendenz an, über die eigenen Leiden das zu vergessen und zu verdrängen, was man anderen angetan hat, womit die erforderliche Selbstreinigung des nationalen Gedächtnisses zum Schaden der Nation unterbleibt.

Die Fragwürdigkeit einer „Theologie der Nation“

Dass die polnische Romantik mit ihrem Verständnis der auserwählten Nation und ihres Messianismus Auswirkungen auf die Religionsauffassung hat, dürfte aus dem bislang Gesagten bereits hervorgegangen sein. Auch Janion verweist auf die Problematik einer Sakralisierung des Säkularen und die dadurch bedingte Säkularisierung des Sakralen, ohne sie allerdings im Einzelnen zu erörtern.

Dieser Sachverhalt erklärt, warum Polens Kirche in ihren bischöflichen Aussagen, in ihrer Verkündigung, in der Feier der Kirchenfeste sowie in ihrer Volksfrömmigkeit stark national geprägt ist. Auch säkulare Ereignisse finden eine religiös-nationale Deutung. Dies zeigte sich beispielsweise an der von Jarosław Kaczyński betriebenen Sinnstiftung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, bei der mit den beinahe hundert politisch und gesellschaftlich hochrangigen Persönlichkeiten auch der damalige Präsident, sein Zwillingsbruder Lech, ums Leben kamen. Jahrzehntelang wurde dieser Unfall als Attentat fremder Mächte ausgegeben und ganz im Sinne der Romantik als nationales Martyrium interpretiert, das die Auferstehung eines neuen, sich gegen das Vierteljahrhundert einer „postkommunistischen Ära“ der III. Republik abhebenden Polens begründe.

Zudem verfügt Polen über eine eigene „Theologie der Nation“. Ihr Begründer ist der heute 91järige Theologieprofessor Czesław Stanisław Bartnik, der an der katholischen Universität Lublin (KUL) lehrte. Zehn Bischöfe und eine Kardinal zählen zu seinen Schülern. Mit verschiedenen öffentlichen Erklärungen erweist er sich als Befürworter der von Kaczyński verfolgten national-katholischen Politik. Bartnik ist eng mit Pater Rydzyk und seinem Medienimperium verbunden, das er häufig als Sprachrohr seiner „Theologie der Nation“ zu nutzen weiß. Der verlieh ihm denn auch den Titel „Prophet der Nation“ .

Entsprechend seiner 1988 erschienenen Schrift „Die Polnische Theologie der Nation“ ist die Nation kein bloßes Konstrukt, sondern gottgegeben und von Gott auserwählt. Sie besitzt einen Subjektcharakter, verfügt über „Seele“ und „Geist“. Ihr ist das Individuum ein- und untergeordnet. Wörtlich schreibt Bartnik: „Das Individuum ist eine in der Nation, durch die Nation und für die Nation lebende Person.“ In diesem Sinn sei die Nation heilig. Wer sich nicht im höchsten Maße mit ihr, ihrer Geschichte und ihrer religiös-kulturellen Tradition identifiziere, übe an ihr Verrat.

Zu fragen ist jedoch nach der Vertretbarkeit dieser aus der Romantik resultierenden „Theologie der Nation“ und ihrer Neigung zu einer heilsgeschichtlichen Interpretation nationaler Geschichte. Aufgabe der Theologie in Polen wäre es eigentlich, die unaufhebbare Differenz von christlicher Heils- und säkularer Weltgeschichte zu wahren und auf die mit einer „Theologie der Nation“ verbundene Gefahr einer Sakralisierung der eigenen Nation zu verweisen, zumal eine solche Sakralisierung einen gegenwärtig virulenten, stark fremdenfeindlichen Nationalismus fördert. Diese kritische Funktion wird jedoch von polnischen Theologen nur vereinzelt wahrgenommene, und wenn, dann sehen sie sich häufig dem Vorwurf eines mangelnden Patriotismus konfrontiert.

An ihrem 90. Geburtstag fühlte sich Maria Janion schon sehr schwach, Sie wollte keine Gäste, weil ihr die Kraft zu einem Gespräch fehle. Nach ihren Wünschen gefragt, verrät ihre Antwort eine gewisse Resignation. Ihr Traum von einem neuen Paradigma hat sich leider nicht erfüllt, wie die weiterhin einem romantischen Modell verpflichtete Geschichts- und Kulturpolitik von PiS und ein in der Gesellschaft präsenter Antisemitismus sowie eine bedrohliche Homophobie zeigen. So bedauerte sie, „dass vieles in eine falsche Richtung geht. Doch wegen meines Alters fällt es mir nicht leicht, an die Zukunft zu denken. Ich wünsche mir für Polen eine kluge und ehrliche Regierung. Privat habe ich ganz minimalistische Wünsche. Ich hätte gerne zu einem Geburtstag, also unter dem Weihnachtsbaum, einen Haufen guter Bücher und ein paar bequeme, warme Winterstrümpfe.“

Am 23. August verstarb 93jährig Prof. Maria Janion, die wohl bedeutendste polnische Literaturwissenschaftlerin. Geboren wurde sie am Heiligabend des Jahres 1926 unweit von Białystok. Ihre Jugend verlebte sie in Vilnius, wo sie während des Zweiten Weltkriegs sowohl die sowjetische als auch die deutsche Besatzung erlebte, ehe sie nach 1945 „repatriiert“ wurde.

Wie viele ihrer Generation leistete sie während der Okkupation als junge Pfadfinderin im Rahmen der Heimatarmee (AK) aktiven Widerstand. Nach Kriegsende begann sie ihre wissenschaftliche Karriere am renovierten Warschauer Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), wo sie von 1948 – 1956 tätig war. Danach lehrte sie an der Danziger Pädagogischen Hochschule. Als im März 1968 nach der vom kommunistischen System verfügten Absetzung des nationalen Dramas „Die Totenfeier“ die Studenten auf die Straße gingen, um für kulturelle Freiheit zu demonstrieren, verlor Maria Janion, die mit ihnen sympathisiert hatte, ihre Stellung, Zwei Jahre später konnte sie ihre akademische Laufbahn an der 1970 neu gegründeten Danziger Universität, der sie zeitlebens treu blieb, fortsetzen.

In ihrem geistigen Schaffen war Maria Janion schier unermüdlich. Ihr Arbeitstag reichte von 6.00 früh bis Mitternacht. Pausen machte sie kaum. Bei jeder Arbeitsunterbrechung schlug ihr, wie sie einmal sagte, das Gewissen.

Legendär sind ihre Seminare, die ihre einstigen Studentinnen und Studenten in dankbarer Erinnerung bewahren. Janion nahm sie in diesen Stunden mit auf die Suche nach dem Sinn literarischer Texte. Sie schärfte ihren kritischen Blick auf die nationale Tradition von Literatur und Geschichte sowie für die Gefahr, sie im politischen Interesse nationalistisch zu missbrauchen.

1996 ging sie in den Ruhestand, war aber weiterhin produktiv. Eine Bibliographie aus dem Jahr 2006 vermerkt 723 Titel, darunter die von Dutzenden Büchern.

Zu ihrem 80. Geburtstag erhielt Maria Janion ein besonderes Geschenk, eine Art Stammbaum. Sie selbst bildet den mächtigen Stamm. An 40 Ästen sind die Namen ihrer Doktorandinnen und Doktoranden verzeichnet, an den Zweigen die von rund 400 Magistern. Ein eindrucksvolles Zeugnis für ihren Einfluss auf die nachwachsende wissenschaftliche Generation! Wie stark diese Verbundenheit ist, das lässt sich an den zahlreichen Nachrufen aus ihrem Schülerkreis ermessen.

Janions Auseinandersetzung mit der Romantik, mit ihrer literarischen Bewältigung der Leiden der Nation, mit ihrem Messianismus sowie mit der Problematik gegenwärtiger politischer Instrumentalisierung findet ihren Ausdruck in dem Dokumentarfilm der Regisseurin Agnieszka Arnold „Bunt Janion“ (2005) (Janions Rebellion). Er zeigt die emeritierte Literaturwissenschaftlerin in ihrer mit Büchern überbordenden Wohnung. Ehemalige Studentinnen und Studenten sowie nahe Weggefährten kommen zu Wort. Der Film führt eindrucksvoll vor Augen, dass Maria Janion drei Generationen modern denkender und bedeutender polnischer Humanisten geformt hat. Manche von ihnen wählten die akademische Laufbahn oder sind im Medienbereich tätig, andere machten sich einen Namen als Schriftsteller und etliche verließen Polen und leben im Ausland.

Janions Verhältnis zu den Juden

Vilnius war in ihrer Kindheit eine Stadt ethnischer Vielfalt. Litauer, Polen, Deutsche und Juden lebten miteinander in enger Nachbarschaft. Aber der in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Antisemitismus war auch in Vilnius spürbar. In vielen katholischen Haushalten war die antisemitische, von P. Maximilian Kolbe redigierte Zeitschrift „Mały Dziennik“ zu finden; so auch bei Janions Tante. Maria las sie eifrig, doch wie sie in einem Interview aus dem Jahr 2006 sagte, bewirkte die Lektüre bei ihr das genaue Gegenteil, Neugier und Faszination für die Juden.

Während des Zweiten Weltkriegs erlebte sie, wie die Juden von den deutschen Besatzern durch die Straßen der Stadt in den Tod getrieben wurden. Aus dieser traumatischen Erfahrung resultiert, wie sie einmal schrieb, ihr „tragisches Mitgefühl für die Juden. „Dieses Mitgefühl blieb mir für immer als Schwur, mit ihnen zu sein.“ In diesem Sinn veröffentlichte sie in Hinblick auf die Aufnahme Polens in die Europäische Union (2004) ihre Schrift „Nach Europa, doch gemeinsam mit unseren Toten“ (2000). Diese Schrift ist ein Plädoyer der Zugehörigkeit der Juden zur nationalen Tradition sowie eine Absage an jede Art von Antisemitismus. „Wir können nicht nach Europa gehen und zugleich unsere Juden, unser gemeinsames dunkles Schicksal, aus dem Gedächtnis löschen.“ Die Schrift löste eine lebhafte und kontroverse Diskussion aus, in der nationalistische Kreise Janion mangelnde Liebe zur eigenen Nation vorwarfen.

Als 1968 im Zusammenhang mit den Protesten der Studenten das kommunistische Regime die Büchse der Pandora öffnete und dem Antisemitismus freien Lauf ließ, wurde Maria Janion selbst zur Jüdin gestempelt, nicht der Herkunft, wohl aber des Geistes nach. Mit dieser Begründung wurde ihr versagt, an der Warschauer Universität als Polonistin zu arbeiten.

Expertin der polnischen Romantik

Maria Janion gilt als die Expertin der polnischen Romantik. Unter einer Vielfalt unterschiedlicher Aspekte hat sie dieser Hochblüte polnischer Nationalliteratur zahlreiche Bücher gewidmet. Um ihre spätere kritische Auseinandersetzung mit der bis heute nachwirkenden romantischen Tradition zu verstehen, sei hier wenigstens in Umrissen auf die Bedingtheit der polnischen Romantik und ihre zentralen Themen verwiesen.

Es gibt Völker, die seit ihrer Staatsgründung eine kontinuierliche, durch keine Katastrophe unterbrochene Geschichte besitzen. Andere haben sich ihre Unabhängigkeit in kürzester Zeit und dauerhaft erkämpft. Und es gibt Polen, dessen Geschichte über ein Jahrtausend zurückreicht, das im Mittelalter unter der Dynastie der Jagiellonen ein Großreich bildete, dann aber als Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund von drei Teilungen seine Eigenstaatlichkeit verlor und über ein Jahrhundert deutscher, österreichischer und russischer Herrschaft unterworfen war. Dieses der polnischen Romantik zugrunde liegende Verlusttrauma kennzeichnet das nationale Selbstverständnis.

Mit diesem Trauma verbindet sich der unerschütterliche romantische Glaube an die Rückgewinnung nationaler Eigenständigkeit, wie er in der polnischen Nationalhymne seinen Ausdruck findet: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben.“ In der Zeit der Teilungen als Lied der Legionäre im Dienste Napoleons entstanden, bringt sie den Glauben an Polens Wiedergeburt zum Ausdruck. Diesem Glauben ist es zu verdanken, dass Polen als Nation in der langen Phase der Unfreiheit nicht unterging, sondern 1918 in der Lage war, als Nation die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs gegebene Gunst der Stunde zu nutzen.

Der Kampf um Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit wurde nicht nur mit der Waffe geführt, sondern auch mit der Feder des Schriftstellers. Die Zeit des politischen Niedergangs war zugleich die Zeit der Hochblüte polnischer Nationalkultur. Sie brachte mit Cyprian Norwid (1809-1849), Juliusz Słowacki (1909-1849) und Adam Mickiewicz (1798-1855) drei Dichter von Weltrang hervor, die in ihren Werken, jeder auf seine Art, der nationalen Trauer Ausdruck verliehen, zugleich aber in der Verbindung von Glaube und Freiheit die Hoffnung weckten auf ein Ende der Drangsal und auf die staatliche Neugeburt. Im Rückgriff auf den christlichen Glauben, in Analogie zu Tod und Auferstehung Christi, verlieh Adam Mickiewicz dem Kampf gegen die Unterdrücker und dem Leiden der Nation einen spezifischen Sinn: Eine Überhöhung der Leiden der Nation, die in einen Messianismus gipfelt, der das unterdrückte und um seine Freiheit kämpfende Polen zum „Christus der Nationen“ erhebt.

Das Ende des romantischen Paradigmas

Nach dem Ende des Kommunismus war Maria Janion der Überzeugung, dass es mit der gewonnenen Freiheit neuer kultureller Entwürfe bedürfe. Sie verkündete das Ende des romantischen Paradigmas und löste damit eine breite Diskussion aus. Sie sah sich Attacken nationalistischer Kreise ausgesetzt, die ihr vorwarfen, die Nationaldichter Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Cyprian Kamil Norwid aus dem nationalen Kanon streichen zu wollen. Ein Missverständnis. Die nationale Bedeutung dieser Romantiker stand für sie selbstverständlich außer Frage. Der Glaube, dass aus dem Martyrium der Nation in der langen Phase der Unterdrückung, der Aufteilung des Landes, des Verlustes der Eigenstaatlichkeit, als Frucht der erbrachten Opfer der Morgen der Freiheit anbrechen werde, hatte sich schließlich als wahr erwiesen.

Aber konnte dieses romantische Paradigma auch für die nun angebrochene Freiheit Geltung beanspruchen? War es für die nun geforderte gesellschaftspolitische Gestaltung nicht dysfunktional? Janion empfand jedenfalls die überlieferte romantische Tradition als Korsett patriotischer Pflichten sowie zur Pflege eines Opferkults für das nun geforderte individuelle und gesellschaftliche Verhalten als nicht mehr geeignet. Sie meinte, dass es an der Zeit sei, Freiheit und Verantwortung neu zu bedenken damit neue schöpferische Ideen und Initiativen zur Formung des sozialen Lebens bereit stünden.

Dazu sei es erforderlich, die Enge der Selbstgefangenheit in die eigene nationale Tradition aufzubrechen und den Anschluss an die Weite der Weltliteratur zu suchen. Mit sieben Bänden ihrer „Transgression“ lieferte Janion dazu die Grundlage. Die von ihr ausgewählten Texte wurden in ihrem legendären Seminar interpretiert, diskutiert und auf ihre kulturelle Adaption geprüft.

Was bedeutet „Nation“?

In der Auseinandersetzung mit der romantischen Tradition ist die Frage nach dem Verständnis von Nation von entscheidender Bedeutung. Janion wandte sich immer wieder entschieden gegen jede Art von Überhöhung der Nation, wie sie in Sprache und Handlungen von PiS und der von ihr gebildeten Regierung zum Ausdruck kommt. Sie braucht ihr Feindbild, sei es der Antisemitismus, sei es die Homophobie einer so genannten „LGBT-Ideologie“.

Janion betont: „Die Nation schafft sich weder selbst noch ist sie gottgegeben – wie dies manche Romantiker meinten, sondern sie ist ein zwischenmenschliches, kommunikatives Konstrukt – also eine auf Vorstellungen beruhende politische bzw. soziale Gemeinschaft.“ Das in der Romantik ausgeprägte Verständnis der Nation könne keinen absoluten Rang beanspruchen. Es sei ideengeschichtlich und damit historisch bedingt.

Ist dem so, dann schließt dies ein Verständnis aus, wonach die Nation eine heilige, gleichsam aufgrund übernatürlicher Kräfte geprägte Gemeinschaft ist. Weil jedoch weite Teile der polnischen Gesellschaft an der Vorstellung der Heiligkeit der Nation festhalten, haben wir es mit einem Konflikt zwischen einem säkularen Verständnis der Nation als eines sozialen Konstrukts und der von PiS sowie seitens der Kirche geförderten Idee einer religiös überhöhten Nation zu tun. Dieser Konflikt bestimmt die Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik der Kaczyński-Partei. Ihr geht es u. a. darum, durch die von ihr veranlasste Umgestaltung des Warschauer Historischen Museums, durch die Gründung zahlreicher neuer Museen sowie durch eine entsprechende Gestaltung der schulischen Lehrpläne einen Patriotismus der traditionellen romantischen Überzeugung zu fördern, die Nation sei ein Absolutum. Dies bringt diese Auffassung in Widerspruch zur Religion, der man sich bedient. Anders gesagt: Indem man sich zur Überhöhung der Nation, so wie in der Romantik geschehen, christlich-religiöser Elemente bedient, wird der christliche Glaube auf unzulässige Weise national instrumentalisiert. Janion verweist in diesem Zusammenhang auf den polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz, der im religiös verbrämten Patriotismus geradezu eine Gotteslästerung sah und dafür von nationalistischen Kreisen als „antinational“ scharf attackiert wurde.

Absage an den Messianismus

Die Überhöhung der Nation wird im Messianismus der Romantik besonders deutlich. Dazu ein Fragment aus den „Büchern der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft“. Verfasst hat es Adam Mickiewicz nach dem verlorenen Novemberaufstand (1830/31), um dem leidvollen Schicksal seines Volkes eine sinnstiftende Deutung zu verleihen: „Die polnische Nation wurde gemartert und ins Grab gelegt, worauf die Könige riefen: ‚Getötet und bestattet haben wir die Freiheit.‘ Doch ihr Rufen war Dummheit. Mit ihrem letzten Verbrechen ward das Maß ihrer Untaten voll, und ihre Macht endete, da ihr Jubel am größten. Denn die polnische Nation starb nicht. Zwar liegt ihr Leib im Grab, doch ihre Seele erstand von der Erde, das heißt, sie entwich aus dem öffentlichen Leben, in den Abgrund, in das verborgene Leben der unter Unfreiheit leidenden Völker in der Heimat und außerhalb ihrer – um ihre Leiden zu schauen. Doch am dritten Tag kehrt die Seele in den Leib zurück und die Nation ersteht von den Toten und befreit alle Völker Europas aus der Knechtschaft.“

Diese Analogie zum Martertod Jesu, zu seinem Abstieg ins Totenreich und zu seiner Auferstehung macht Polen zu einer auserwählten Nation, dazu berufen, die Völker Europas in die Freiheit zu führen. Janion verweist in diesem Zusammenhang auf Zygmunt Krasiński (1812-1859), der in seinen Briefen an die damaligen politischen Autoritäten Europas unter Hinweis auf die Opfer, die Polen für Europa gebracht habe, den Anspruch auf Unabhängigkeit seines Landes erhob, ohne die es kein Gleichgewicht Europas geben könne. Die Briefe seien, wie Janion anmerkt, wirkungslos geblieben. Es habe sich gezeigt, dass Europa im 19. Jahrhundert ohne ein unabhängiges Polen gut zurechtgekommen sei.

Aus dieser Erfahrung resultiert die bis in die Gegenwart nachwirkende, in PiS und ihrer Politik lebendige Überzeugung, Polen habe sich unentwegt für Europa geopfert, ohne dass dies honoriert worden wäre. Als Beispiel erwähnt Janion den polnisch-sowjetischen Krieg von 1920, in dem Polen durch das „Wunder an der Weichsel“, wie man glaubt, Europa vor dem Bolschewismus gerettet und sich erneut als Vormauer Europas erwiesen habe, ohne dass dies im Bewusstsein der Westeuropäer eine Rolle spiele. Wenn heute die Nationaldemokraten für sich in Anspruch nehmen, das wahre Europa zu repräsentieren, und bei ihnen immer wieder eine ablehnende Haltung gegenüber der Europäischen Union und ihren Institutionen erkennbar sowie ein moralischer Verfall Westeuropas behauptet wird, dann erkläre sich dies auf dem Hintergrund des aus der Romantik überlieferten Messianismus.

Maria Janion sagt von sich, sie habe im Leben einen Wandel vollzogen. Einst habe sie geglaubt, der polnische Messianismus sei keine Selbstüberhebung und wenn, dann eine allein im Leiden, nicht aber eine, die Gewalt beinhalte. Diese Auffassung hat sie korrigiert: „Auch Selbstüberhebung im Leiden ist eine Selbstüberhebung wie jede andere, ist etwas, das Herzen versteinert und nicht imstande ist, anderen gegenüber Empathie zu empfinden.“ Damit spielt sie auf die unter der PiS-Regierung deutliche Tendenz an, über die eigenen Leiden das zu vergessen und zu verdrängen, was man anderen angetan hat, womit die erforderliche Selbstreinigung des nationalen Gedächtnisses zum Schaden der Nation unterbleibt.

Die Fragwürdigkeit einer „Theologie der Nation“

Dass die polnische Romantik mit ihrem Verständnis der auserwählten Nation und ihres Messianismus Auswirkungen auf die Religionsauffassung hat, dürfte aus dem bislang Gesagten bereits hervorgegangen sein. Auch Janion verweist auf die Problematik einer Sakralisierung des Säkularen und die dadurch bedingte Säkularisierung des Sakralen, ohne sie allerdings im Einzelnen zu erörtern.

Dieser Sachverhalt erklärt, warum Polens Kirche in ihren bischöflichen Aussagen, in ihrer Verkündigung, in der Feier der Kirchenfeste sowie in ihrer Volksfrömmigkeit stark national geprägt ist. Auch säkulare Ereignisse finden eine religiös-nationale Deutung. Dies zeigte sich beispielsweise an der von Jarosław Kaczyński betriebenen Sinnstiftung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, bei der mit den beinahe hundert politisch und gesellschaftlich hochrangigen Persönlichkeiten auch der damalige Präsident, sein Zwillingsbruder Lech, ums Leben kamen. Jahrzehntelang wurde dieser Unfall als Attentat fremder Mächte ausgegeben und ganz im Sinne der Romantik als nationales Martyrium interpretiert, das die Auferstehung eines neuen, sich gegen das Vierteljahrhundert einer „postkommunistischen Ära“ der III. Republik abhebenden Polens begründe.

Zudem verfügt Polen über eine eigene „Theologie der Nation“. Ihr Begründer ist der heute 91järige Theologieprofessor Czesław Stanisław Bartnik, der an der katholischen Universität Lublin (KUL) lehrte. Zehn Bischöfe und eine Kardinal zählen zu seinen Schülern. Mit verschiedenen öffentlichen Erklärungen erweist er sich als Befürworter der von Kaczyński verfolgten national-katholischen Politik. Bartnik ist eng mit Pater Rydzyk und seinem Medienimperium verbunden, das er häufig als Sprachrohr seiner „Theologie der Nation“ zu nutzen weiß. Der verlieh ihm denn auch den Titel „Prophet der Nation“ .

Entsprechend seiner 1988 erschienenen Schrift „Die Polnische Theologie der Nation“ ist die Nation kein bloßes Konstrukt, sondern gottgegeben und von Gott auserwählt. Sie besitzt einen Subjektcharakter, verfügt über „Seele“ und „Geist“. Ihr ist das Individuum ein- und untergeordnet. Wörtlich schreibt Bartnik: „Das Individuum ist eine in der Nation, durch die Nation und für die Nation lebende Person.“ In diesem Sinn sei die Nation heilig. Wer sich nicht im höchsten Maße mit ihr, ihrer Geschichte und ihrer religiös-kulturellen Tradition identifiziere, übe an ihr Verrat.

Zu fragen ist jedoch nach der Vertretbarkeit dieser aus der Romantik resultierenden „Theologie der Nation“ und ihrer Neigung zu einer heilsgeschichtlichen Interpretation nationaler Geschichte. Aufgabe der Theologie in Polen wäre es eigentlich, die unaufhebbare Differenz von christlicher Heils- und säkularer Weltgeschichte zu wahren und auf die mit einer „Theologie der Nation“ verbundene Gefahr einer Sakralisierung der eigenen Nation zu verweisen, zumal eine solche Sakralisierung einen gegenwärtig virulenten, stark fremdenfeindlichen Nationalismus fördert. Diese kritische Funktion wird jedoch von polnischen Theologen nur vereinzelt wahrgenommene, und wenn, dann sehen sie sich häufig dem Vorwurf eines mangelnden Patriotismus konfrontiert.

An ihrem 90. Geburtstag fühlte sich Maria Janion schon sehr schwach, Sie wollte keine Gäste, weil ihr die Kraft zu einem Gespräch fehle. Nach ihren Wünschen gefragt, verrät ihre Antwort eine gewisse Resignation. Ihr Traum von einem neuen Paradigma hat sich leider nicht erfüllt, wie die weiterhin einem romantischen Modell verpflichtete Geschichts- und Kulturpolitik von PiS und ein in der Gesellschaft präsenter Antisemitismus sowie eine bedrohliche Homophobie zeigen. So bedauerte sie, „dass vieles in eine falsche Richtung geht. Doch wegen meines Alters fällt es mir nicht leicht, an die Zukunft zu denken. Ich wünsche mir für Polen eine kluge und ehrliche Regierung. Privat habe ich ganz minimalistische Wünsche. Ich hätte gerne zu einem Geburtstag, also unter dem Weihnachtsbaum, einen Haufen guter Bücher und ein paar bequeme, warme Winterstrümpfe.“

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