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Ansätze einer polnischen "Kirche von unten"

  • Theo Mechtenberg
  • 8. Apr. 2021
  • 12 Min. Lesezeit

Als im März 1995 der Internatsschüler eines kirchlichen Gymnasiums gegen den damaligen, später zum Erzbischof von Wien sowie zum Kardinal ernannten Hans Hermann Goër (1919-2003) schwere Vorwürfe sexuellen Missbrauchs erhob, reagierten Österreichs Gläubige noch im gleichen Monat mit einem „Kirchenvolksbegehren“. Es fand mit einer halben Million Unterschriften eine deutliche Unterstützung. Im September 1996 griffen deutsche Katholiken mit gleichem Zuspruch die österreichische Initiative auf. Seitdem drängt die „Kirche von unten“ auf Reformen wie die Überwindung des vorherrschenden Klerikalismus, die Aufhebung des Junktims zwischen Zölibatsverpflichtung und Weiheamt, die Gleichberechtigung der Frauen einschließlich ihres Zugangs zum Diakonat und zum Priestertum sowie eine kritische Überprüfung der kirchlichen Sexualmoral. Auch wenn keine dieser Forderungen bislang erfüllt wurde, so haben doch die Initiativen der „Kirche von unten“ zu einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel der kirchlichen Basis beigetragen, der im gegenwärtigen „Synodalen Weg“ seinen Ausdruck findet. Doch erste vatikanische Warnungen lassen darauf schließen, dass die weit reichenden Reformwünsche unerfüllt bleiben. Immerhin können in diesem Fall die deutschen Bischöfe für sich in Anspruch nehmen, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, damit sie verwirklicht werden, was im Falle eines Scheiterns des „Synodalen Weges“ die Einheit der Bischöfe mit der reformwilligen Basis vor einer Spaltung bewahren und die krisenhafte Situation stabilisieren könnte.

Keine Nachahmung in Polen

Ein vergleichbares Aufbegehren der kirchlichen Basis fand in Polen nicht statt. Als sich dort in den letzten Jahren die Aufdeckung klerikaler Missbrauchsfälle häufte, kamen Anstöße zu ihrer Aufarbeitung und Hinweise auf erforderliche Reformen von außerhalb der Kirche. So durch den Kinofilm „Kler“ (Klerus), der eindrucksvoll den verbreiteten Klerikalismus als Ursache jeglichen kirchlichen Machtmissbrauchs belegt, sowie durch zwei Dokumentarfilme als erschütterndes Plädoyer für die Opfer sowie als Anklage der allgemein praktizierten Vertuschung solcher von Priestern begangener Verbrechen, die es unmöglich macht, die Täter entsprechend zu bestrafen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur vereinzelt gab es Stimmen von Priestern und Laien, die neben einer Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nach ihrer systembedingten Ermöglichung fragten und die Quelle allen Übels im Klerikalismus sahen, dessen Überwindung sie eindringlich forderten. Doch zu einer Koordinierung dieser wenigen innerkirchlichen Interventionen kam es nicht, geschweige denn zu einer der „Kirche von unten“ ähnlichen Bewegung.

An der Schwelle einer neuen Zeit!

Eine erste koordinierte Aktion ist der von 27 Geistlichen unterzeichnete Appell vom November 2020. Die teils sehr prominenten Welt- und Ordenspriester legen Wert darauf, als Sprecher der kirchlichen Basis wahrgenommen zu werden, weil sie „tagtäglich unter normalen Menschen arbeiten, unter Alten und Kindern, unter Studenten, Wissenschaftlern, Künstlern, Ärzten, Kranken.“ Der Appell fand zahlreiche weitere Unterstützer, darunter auch solche, die aus Angst vor Sanktionen ihrer kirchlichen Vorgesetzten nicht bereit waren, ihn namentlich zu unterzeichnen.

Der Appell nimmt einleitend Bezug auf die Massenproteste, zumal von Frauen, die im Herbst des vergangenen Jahres mit „Wut und Auflehnung“ auf die einem totalen Abtreibungsverbot gleichkommende Entscheidung des Verfassungsgerichts reagierten. Anders als die Bischöfe, die diese sich auch gegen die Kirche richtenden Proteste in der Regel scharf als kirchenfeindlich verurteilten, zeigen die Initiatoren und Unterzeichner des Appells Verständnis, und das im Bewusstsein, „an der Schwelle einer neuen Zeit“ zu stehen. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner, der eine solche „Wut und Auflehnung“ rechtfertigen könnte, benennen sie einige Aspekte, die sie mit einem klaren „NEIN“ versehen: die unter der gegenwärtigen Regierung deutliche Praxis, „sich der Religion zu politischen Zwecken zu bedienen“; die mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts verbundene Auffassung, Rechtsbeschlüsse „könnten einen dauerhaften Wandel der Sensibilität der Gewissen herbeiführen“, was wegen der massiven Auflehnung gegen die weitgehende Verstaatlichung des Gerichtswesens in der Tat höchst unwahrscheinlich ist; die in der stark klerikalisierten polnischen Kirche herrschende „Ungleichheit zwischen Männern und Frauen“, ohne dass die Unterzeichner daraus konkrete Konsequenzen wie etwa die Forderung nach dem Zugang zu den Weiheämtern ziehen würden; schließlich die „Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung“, wie sie in Zusammenhang mit dem von der Kaczyński--Partei und ihrer Regierung geführten Kampf gegen LGBT in der Gesellschaft präsent und auch „in Aussagen kirchlicher Vertreter“ zu finden ist.

Ein deutliches JA erteilen sie sodann „wichtigen Herausforderungen unserer Zeit“. Im Einzelnen listen sie auf: einen „solidarischen Schutz der Schwachen, Behinderten, Einsamen“; entgegen der verbreiteten Haltung, in Kritikern innkirchlicher Missstände „Feinde zu sehen, den Andersdenkenden mit Offenheit“ zu begegnen und mit ihnen in „Dialog“ zu treten; „Flüchtlingen Schutz zu gewähren“ und nicht vor ihnen die Grenzen zu verschließen; angesichts der zahlreichen klerikalen Missbrauchsfälle „diese „schwierige Vergangenheit von Geistlichen, die ihnen anvertraute Kinder und Jugendliche missbrauchten“, endlich eindeutig und rückhaltlos aufzuarbeiten; schließlich durch „die Schaffung eines Raums des Vertrauens und der Hoffnung“ sich der „Verlorenen und Suchenden“ anzunehmen.

Die Unterzeichner beenden ihren Appell mit einer nochmaligen Betonung der Notwendigkeit des Dialogs, der sowohl aufgrund der „polnischen Revolution der Solidarność“ als auch insgesamt in Europa „die wichtigsten sozialen Veränderungen“ ermöglicht hat. Um „gemeinsam eine neue Qualität sozialen Lebens ohne Gewalt und Aggression zu schaffen“, laden sie zu einem diesem Ziel dienenden Dialog ein.

Der Kongress aus Katholikinnen und Katholiken

Nicht dass sich die Menschen von der Kirche abwenden, sondern dass sich die Kirche von ihnen abgewendet hat, ist das größte Problem.

Es ist nicht bekannt, ob überhaupt jemand der Einladung zum Dialog gefolgt ist. Da die Unterzeichner in ihrem Appell ausdrücklich betonen, „keine formale Struktur schaffen“ zu wollen, fehlt auch die für einen Dialog erforderliche Plattform. Die gibt es nun, nachdem sich auf die Initiative einiger Priester und Laien Ende 2020 der „Kongress aus Katholikinnen und Katholiken“ formierte.

Den Anstoß dazu gab eine aufschlussreiche Begebenheit. Fryderyk Zoll, ein Rechtswissenschaftler, der neben seiner Warschauer Professur auch an der Universität Osnabrück lehrt, besuchte den Sonntagsgottesdienst in der dortigen Kathedrale. Zu seiner Verwunderung hielt, übrigens mit Zustimmung des Bischofs, eine Frau die Predigt. Bedenkt man, dass in Polen ein Kirchenbesucher unter den Ministranten kaum einen Mädchenkopf entdecken dürfte und es, trotz päpstlicher Erlaubnis, dort keine Frauen gibt, die als Lektorinnen oder Kommunionhelferinnen ihren Altardienst versehen, dann erst gewinnt man eine Vorstellung davon, wie die Osnabrücker Szene auf den polnischen Professor gewirkt haben mag. Jedenfalls war er so beeindruckt, dass er, nach Hause zurückgekehrt, einen Artikel mit der Frage veröffentlichte, warum in Polen die offensichtliche Ungerechtigkeit eines gänzlichen Ausschlusses der Frauen vom Altardienst widerspruchslos hingenommen wird. Das Ausmaß der Reaktion auf seinen Artikel war gewaltig und führte zur Bildung des Kongresses, in dem neben den Unterzeichnern und Unterstützern des Appells auch Mitglieder der Clubs vertreten sind, die sich aus Lesern des „Tygodnik Powszechny“ im In- und Ausland zusammensetzen.

Der Kongress versteht sich als Initiative von Personen, „die gemeinsam positive Antworten auf die Frage nach der Zukunft der römisch-katholischen Kirche in Polen, in Europa und in der Welt suchen. Er ist eine Form des Gedankenaustausches sowie eine Plattform gemeinsamen Handelns zugunsten von Reformen, deren die Kirche in der sich wandelnden Wirklichkeit bedarf.“

Im Programm des Kongresses ist das besondere Augenmerk auf die Dominanz der von Geistlichen in der Kirche ausgeübten Macht gerichtet, zumal auf die Macht, die die Hierarchie über Millionen gläubiger Frauen und Männer ausübt, die aufgrund ihres allgemeinen Priestertums eigentlich zur Mitentscheidung über die Gegenwart und Zukunft der Kirche berufen sind.

Der Kongress ist offen für jeden, „der die Freiheit anderer respektiert und dazu steht, dass das Liebesgebot ausnahmslos alle Menschen umfasst.“ Auch nur lose mit der Kirche verbundene Personen, denen es aber um das Wohl der Kirche geht, sind zur Mitarbeit eingeladen. Die Initiatoren betonen zudem, im Kern gehe es ihnen um einen offenen Dialog zur Überwindung der gegenwärtigen innerkirchlichen, durch Vorschriften, Interventionen und Emotionen bedingten Spaltung.

Der Dialog bestimmt auch die innere, demokratische Verfasstheit des Kongresses. Alle wichtigen Entscheidungen werden entsprechend der Gewichtung der Argumente und nach ausgiebiger Diskussion möglichst einvernehmlich beziehungsweise mehrheitlich getroffen. Durch eine entsprechende Auswahl der Mitglieder soll der Kongress über ein breites Spektrum an beruflicher Kompetenz verfügen. Für die Gremien gilt eine paritätische Besetzung durch Männer und Frauen. Der Kongress soll zudem verdeutlichen, dass die Laien, die 98% der Kirche ausmachen, ihre eigentliche Kraft sind. Sie sollen daher auch im Kongress gegenüber den Priestern und Ordensleuten ein Übergewicht besitzen.

Operieren will der Kongress unter Wahrung seiner Unabhängigkeit innerhalb der bestehenden kirchlichen Strukturen, also auf Diözesan- und Pfarrebene. Die Bischöfe wurden über seine Gründung informiert und zur Mitarbeit eingeladen, allerdings ohne Vorrechte auf der Grundlage der Gleichberechtigung.

Vorgesehen ist die Bildung von breit gefächerten Arbeitskreisen. Die Liste umfasst im Einzelnen: Jugendpastoral; Transparenz in der Kirche; Frauen in der Kirche: eheliche Partnerschaft; Sorge um das Gemeinwohl; Bewahrung der Schöpfung: Machtausübung in der Kirche; neue Modelle katholischer Bildung; Verhältnis von Priestern und Laien; Beziehung zwischen Staat und Kirche. Allein diese Aufzählung zeigt, welch ein Reformbedarf aus Sicht des Kongresses in der polnischen Kirche besteht.

Man hatte erwartet, dass die Bischofskonferenz auf ihrer Sitzung am 11. März zur Gründung des Kongresses Stellung beziehen würde. Dies war nicht der Fall. Er wurde mit keinem Wort erwähnt. Sie beließ es bei einer allgemein gehaltenen Erklärung: „Die Bischöfe schätzen die verschiedenen Initiativen von Priestern und Laien, deren wahres Ziel eine Erneuerung der Kirche ist. […] Wir erinnern daran, dass nur jene Initiativen von Priestern und Laien, die in Einheit mit den Hirten ergriffen werden, zum Wohl der Kirche beitragen.“ Das klingt eher nach einer Warnung als nach einer Ermutigung.

Im Folgenden sollen zwei Reformaspekte von grundsätzlicher Bedeutung näher betrachtet werden: das Staat-Kirche-Verhältnis sowie die Stellung der Laien in der Kirche.

Verlust an Autonomie durch übergroße Staatsnähe

Das Verhältnis von Staat und Kirche regelt der Artikel 25 der polnischen Verfassung. Danach sind „Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften gleichberechtigt“. (1) In „Fragen religiöser Überzeugungen“ wahren die staatlichen Institutionen „Neutralität“ und „garantieren im öffentlichen Leben die Religionsfreiheit“. (2) Das wechselseitige Verhältnis von Staat und Kirche gestaltet sich gemäß der „Wertschätzung ihrer Autonomie“ und der „Zusammenarbeit im Interesse des Gemeinwohls“. (3)

Doch die Wirklichkeit sieht gänzlich anders aus. Es gibt vielmehr, zumal unter der jetzigen Regierung der Vereinigten Rechten, eine enge Verflechtung von Staat und Kirche auf allen Ebenen bis hinunter zu den Stadt- und Dorfgemeinden. Der Dominikaner Maciej Biskup spricht davon, man habe es mit „gewissen Elementen eines Bekenntnisstaates zu tun.“[1] Noch deutlicher wird Zbigniew Nosowski, der Chefredakteur der Warschauer katholischen Monatszeitschrift „Więź“ , der den Vergleich mit einem „Konkubinat“ nicht scheut und fragt, wann wohl die Bischöfe den durch das II. Vatikanum vorgezeichneten Weg beschreiten und dieses „Konkubinat“ auflösen werden.[2] Doch solange die meisten Bischöfe und Priester, Ordensbrüder und Ordensschwestern mit der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sympathisieren und sich für sie als nützliche Wahlhelfer erweisen, wird eine solche Zäsur kaum zu erwarten sein.

Während die Vereinigte Rechte bestrebt ist, die Kirche für ihre politischen Ziele auszunutzen, profitiert die Kirche finanziell, allen voran P. Tadeusz Rydzik mit seinem Medienimperium. Ihrerseits ist die Kirche, wie die jüngste radikale Verschärfung des Abtreibungsverbots zeigt, bestrebt, die staatlichen Institutionen für ihre Moralvorstellungen in Dienst zu nehmen. Dabei negiert sie den demokratisch-pluralistischen Charakter der Gesellschaft und geht von der Fiktion aus, dass es sich bei den Polen um eine katholische Nation handelt, für die katholische Moralvorstellungen gelten. Dabei übersehen die Bischöfe, dass das göttliche Recht, so wie sie es verstehen, nicht auf direktem Weg in weltliche Gesetze übertragbar ist, ganz abgesehen davon, dass sich Moralansprüche zu allererst an das Gewissen der Menschen richten und ihre Durchsetzung mit Hilfe des Strafrechts einem Gewissenzwang gleichkommt.

Verstärkter Autoritarismus

Eine Konsequenz der polnischen Symbiose von Staat und Kirche ist ein verstärkter klerikaler Autoritarismus. Er findet sich bei den Bischöfen, die sich als moralische Autoritäten verstehen, deren Pflicht es sei, das soziale Leben nach kirchlichen Maßstäben zu regeln. Und wer, wie die Vorgängerregierung der Vereinigten Rechten, eine Politik verfolgt, die ihnen nicht passt, der wird mit Verurteilungen bedacht. So drohte z. B. Erzbischof Henryk Hoser 2010 katholischen Abgeordneten, die sich für eine gesetzliche Regelung der Befruchtungsmethode „in vitro“ aussprachen, mit der Exkommunikation. Und als der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski, ein praktizierender Katholik, ein entsprechendes Gesetz unterzeichnet hatte, sah der Kirchenrechtler Góralski damit den Tatbestand einer schweren, öffentlich begangenen Sünde erfüllt, die Priester dazu berechtigt, ihn vom Kommunionempfang auszuschließen. Wo sich indessen die Kirche im Einklang mit dem Staat weiß, mangelt es nicht an positiven Äußerungen, wie dies 2020 der Fall war, als Erzbischof Stanisław Gądecki, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, ausdrücklich dem Verfassungsgericht für die radikale Verschärfung des Abtreibungsverbots dankte.

Dieser Autoritarismus bleibt nicht auf die Bischöfe beschränkt. Er zeigt sich auch auf der unteren Ebene der Pfarreien. Dazu ein Passus aus dem Leserbrief einer Pfarrangehörigen: „Wenn Minister Zieliński (PiS) die Pfarrei mit seiner Anwesenheit bei der Messe beehrt, dann spricht der Pfarrer vom Ambo so flammend, dass der Minister Beifall klatscht. Als die neue Chefin einer öffentlichen Institution des „guten Wandels“ bei ihrem Amtsantritt beschließt, noch mehr Kreuze im Amt anzubringen, und dafür eine Messe bestellt, dann hören die Mitarbeiter, die sich aus Angst massenweise einfinden, von einem Polen, ´das endlich zu Christus kommt.` […] Im Beichtstuhl befragt ein Priester die Beichtenden, welchen Fernsehsender sie einschalten und welche Zeitungen sie kaufen. Er verhängt für das unabhängige Fernsehen und die Gazeta Wyborzca eine Buße und erteilt eine ernste Mahnung im Falle des Tygodnik Powszechny.“ Für eine „Auseinandersetzung mit den Kräften des Bündnisses von Kirche und Staat“ gäbe es auf der Ebene der Pfarrei „keinerlei Chance“.[3]

Dieser klerikale Autoritarismus bedeutet den Verlust der von der Verfassung geforderten Autonomie. Indem Polens Kirche, wenn auch nur partiell, teil hat an der rechtskonservativen Macht, wird sie selbst Teil des herrschenden Systems und zum Ziel der gegen dieses System agierenden oppositionellen Kräfte. Sie ist damit zugleich mitverantwortlich für durch die jetzige politische Konstellation bedingte tiefe Spaltung der Gesellschaft, zu deren Überwindung die Bischöfe im Übrigen in ihren Verlautbarungen paradoxerweise immer wieder aufrufen. Erst aufgrund der Befreiung der Kirche aus dem „Konkubinat“ wird sie zu wahrer Autonomie gelangen können. Doch dazu ist ein politischer Machtwechsels erforderlich, der es ermöglicht, ein strikt an die Vorgaben der Verfassung orientiertes Staat-Kirche-Verhältnis zu verwirklichen. Ob es dazu kommt, werden in gut zwei Jahren die Parlamentswahlen zeigen.

Die Stellung der Laien in der polnischen Kirche

In einem Brief Danziger Katholiken an Papst Franziskus heißt es: „Heiliger Vater! Wecke auf unsere Kirche! Wir flehen Dich an! Blicke mit Sorge auf die Kirche in Polen, wo Bischöfe die Fälle von Pädophilie vertuschen, wo eine blinde und taube Loyalität der Institution gegenüber wichtiger ist als das Wohl der Opfer, und der Episkopat sowie der Apostolische Nuntius so tun, als würden sie dies nicht wissen.“ Mit dieser Intervention wollten die Danziger Laien die Abberufung ihres Erzbischofs Sławoj Leszek Głódź erreichen. Sie blieb ergebnislos. Rom wartete den nahe bevorstehenden Tag ab, an dem Erzbischof Głódź altersbedingt sein Rücktrittgesuch einreichen musste, das von Papst Franziskus angenommen wurde. Ein halbes Jahr später fällte er ein relativ mildes Urteil, das Erzbischof Glódź u. a. untersagt, seinen Wohnsitz in der Danziger Erzdiözese zu nehmen.

Unabhängig vom Ausgang dieser Laieninitiative stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Stellung der Laien in der Kirche. Ist die Vorstellung einer hierarchischen, zweigeteilten Kirche noch stimmig, in der Bischöfe und Priester die Lehrenden, die Laien die Hörenden und Gehorchenden sind? Steht den Laien nicht vielmehr aufgrund ihres allgemeinen Priestertums eine Mitentscheidung einschließende Mitverantwortung für die Kirche insgesamt zu? Dürfen sie daher auch die Abberufung eines Bischofs fordern?

Dieser Frage geht Piotr Sikora, Redaktionsmitglied des „Tygodnik Powszechny“, nach.[4] Er beruft sich zunächst auf die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, die ein hehres Bild von der Würde der Bischöfe zeichnet. Von ihnen heißt es, sie würden „in hervorragender und sichtbarer Weise die Aufgabe Christi selbst, des Lehrers, Hirten und Priesters innehaben und in seiner Person handeln.“ (Art 21) Die Aussage impliziert ein Höchstmaß an Identifikation mit Christus selbst, was zu einem Amtsverständnis führen kann, wodurch sich ein Bischof gegenüber jeglicher Kritik unanfechtbar macht, abgesehen davon, dass mit solch überhöhter Würde eine kaum tragbare Bürde verbunden ist.

Damit scheint sich jede Kritik aus Laienmund zu verbieten. Doch was ist, wenn ein Bischof vor dem Anspruch seines Amtes versagt? Wenn er auf eklatante Weise gegen seine Bischofswürde verstößt? Sikora verweist darauf, dass der Codex Iuris Canonici die Bestimmung enthält, dass Gläubige angesichts eines ernsthaften Versagens eines Bischofs dessen Demission fordern dürfen. (Can 401) Entsprechend beschließt er seine Überlegungen mit folgender Feststellung: „Ein kritischer Blick auf die kirchliche Wirklichkeit legt somit nahe, dass Appelle von Laien, die eine Demission von Bischöfen fordern, in der gegenwärtigen Ordnung der institutionellen Kirche im höchsten Maße berechtigt sind. Möglich und notwendig ist eine Diskussion zu solchen Veränderungen dieser Ordnung, die einem breiten Kreis von Gläubigen die Teilhabe an Entscheidungsprozessen, auch in Personalfragen, ermöglichen würde.“[5]

In einem gänzlich anderen Zusammenhang fordert der Jesuit und Psychotherapeut Jacek Prusak ein kirchliches Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht der Laien. Ausgangspunkt ist „der längste Prozess der Kirche“, ein Dokumentarfilm, der im unabhängigen Fernsehen TVN 24 gesendet wurde. Er hat den sexuellen Missbrauch durch einen prominenten, als Manager geschätzten Danziger Priesters zum Thema. Angefangen von ersten Beweisaufnahmen in den 1990er Jahren und dem Beginn des kanonischen Prozesses im Jahr 2004 dauerte es bis in den Februar 2021, ehe das Danziger Geistliche Gericht ein Urteil fällte, das allerdings nicht veröffentlicht wurde, weil der beschuldigte Priester kurz zuvor verstorben war.

Der Fall wirft viele Fragen auf, auch die, wohin es führt, wenn Bischöfe uneingeschränkt über eine von niemanden kontrollierte Macht verfügen und damit einen kanonischen Prozess nach Belieben verschleppen können. Der Vorgang rief in der Gesellschaft und im Kirchenvolk Erbitterung hervor, für die Prusak Verständnis zeigt: „Diese Empörung ist nicht nur verständlich – sie ist logisch, und sie ist ein Zeichen der gesunden Einstellung der Opfer wie ihrer Sachwalter. […] Sie muss aber genutzt werden, um Instrumente und Verhältnisse zu schaffen, die die Opfer schützen und die Täter zwingen, die Verantwortung für ihre Verbrechen zu übernehmen.“ Doch damit dies geschehen kann, darf das Wohl der Kirche „nicht in die Hände eines demoralisierten Klerus gegeben werden. Mit einem Wort: Wir fordern im Umgang mit der Pädophilie in der Kirche eine große Beteiligung von Laien.“ Konkret bedeutet dies u. a. „die Schaffung von Gremien, in denen Laien und Geistliche mit gleichen Rechten vertreten sind.“[6]

Auf einen weiteren Aspekt verweist der Dominikaner Dawidowski. Er sieht einen Grund für die gegenwärtige kirchliche Krise in Polen darin, dass Bischöfen und Priestern die Fähigkeit verloren ging, auf das zu hören, was Laien ihnen zu sagen haben – wobei die Frage erlaubt sein muss, ob sie jemals im Besitz dieser Fähigkeit waren. Jedenfalls zeigt sich dieser Mangel in den unterschiedlichsten pastoralen Bereichen, so in einer weltfremden Sprache in Predigt und Katechese sowie in Dokumenten der Bischofskonferenz zu bioethischen und anderen Fragen, deren Beantwortung auch Kenntnisse weltlicher Wissenschaften erfordert.

Dawidowski glaubt, dass eine Plenarkonferenz hier Abhilfe schaffen könnte, weil dann die Bischöfe genötigt wären, auf die Stimmen vieler Laien zu hören. Doch wer das kirchenrechtliche Reglement für derlei Plenarkonferenzen kennt, der weiß, dass Laien auf ihnen nur sehr beschränkte Rechte besitzen und daher Mühe haben, sich wirksam Gehör zu verschaffen. Zu leicht endet für sie ein solches Experiment mit einer erneuten Frustration.

Vielleicht bietet der „Kongress aus Katholikinnen und Katholiken“ aufgrund seiner Zusammensetzung und Unabhängigkeit eine bessere Chance, gehört zu werden, auch wenn nicht zu erwarten ist, dass das, was in den Arbeitskreisen diskutiert und dokumentiert wird, die Zustimmung der Bischöfe finden wird. Doch ähnlich wie durch die westliche „Kirche von unten“ könnte auch der Kongress in Polen einen breiteren Mentalitätswandel herbeiführen als unabdingbare Voraussetzung für notwendige, wenngleich im Vergleich zu westlichen Kirchen weit bescheidender Reformen. Doch selbst diese dürften auf den hartnäckigen Widerstand eines rechtskonservativen und nationalistisch eingestellten Klerus treffen, der ihre Verwirklichung sehr fraglich macht.






[1] Maciej Biskup, Szafarze władzy (Machtverwalter), Tygodnik Powszechny v. 21. 02. 2021, S. 26. [2] Wiesław Dawidowski, Kot Eliota (Eliots Katze), „Tygodnik Powszechny“ v. 14. 02. 2021, S. 33. [3] Barbara, Tygodnik Powszechny v. 27. 08. 2017. [4] Usilnie prosimy: odejdź(Mit Nachdruck bitten wir: Geh), Tygodnik Powszechny v. =7. 03. 2021 S. 36f. [5] Ebd. S. 37. [6] Jacek Prusak, Zabójcza protekcja (Tödliche Protektion), Tygodnik Powszechny v. 21. 02. 2021, S. 57.

 
 
 

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