top of page

Das Selbstverständis polnischer Seminarbewerber 2020

Der geistliche Professor Krzysztof Paulina, der 13 Jahre als Rektor ein Priesterseminar geleitet hat, gilt als Experte für die Formung künftiger Seelsorger. Eine unlängst von ihm erstellte Studie „Priesterberufungen AD 2020“ ist das Ergebnis einer umfassenden Befragung von Priesteramtskandidaten des Studienjahrs 2019/2020. Bis auf vier beteiligten sich sämtliche Diözesanseminare an der Umfrage. 289 Antworten liegen vor.

Prof. Paulina hatte bereits im Jahr 2000 eine ähnliche Befragung durchgeführt, so dass sich die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte eingetretenen Veränderungen ermitteln lassen.

Aus welcher Kirche kommen die Seminarbewerber?

Polen ist in Europa das Land mit der wohl reichsten kirchlichen Tradition. Doch der Wahlspruch „Polonia semper fidelis“ gilt schon lange nicht mehr. Vorbei die Zeit, in der man nur die Glocken zu läuten brauchte, damit die Gläubigen in die Kirchen strömten. Und von dem Impuls, den Polens Kirche durch die Wahl „ihres“ Papstes erfuhr, ist heute kaum noch etwas spürbar.

Immerhin beurteilten 90% der Polen bis in die Anfänge des neuen Jahrtausends ihr Verhältnis zur Kirche positiv. Paradoxerweise zeigte sich ein deutlicher Bruch ausgerechnet im Jahr 2015, als die nationalkonservative, die christlichen Werte stark betonende Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Regierungsverantwortung übernahm. Der Zustimmungswert für das Verhältnis zur Kirche sank auf 60%. Gegen die nun allzu große Nähe der Kirche zur politischen Gewalt und ihre dadurch bedingte Politisierung regte sich in der Bevölkerung Widerstand.

Die klerikalen Missbrauchsfälle, ihre langjährige Vertuschung und ihre Behandlung in den weltlichen Medien, speziell in den beiden Dokumentarfilmen der Brüder Sekielski, führte zu einer deutlichen Verschärfung der kirchlichen Krise. Die einst so starke Autorität der Bischöfe hat bei weiten Teilen der Gesellschaft erheblichen Schaden erlitten. 40% der Bevölkerung hat ein negatives Bild von der Kirche und hält sich von ihr fern. Bemerkenswert ist der Glaubensverlust unter der Jugend.

Positiv zu verzeichnen sind dagegen die zahlreichen Gruppen Formen charismatischer und geistlicher Erneuerung, die rund 2,5 Millionen Gläubige umfassen.

Dies alles hat seine Konsequenzen für den Priesternachwuchs. Er ist stark rückläufig und fiel in den letzten 10 Jahren von 5500 Seminaristen auf heute nicht einmal 3000. 2019 verzeichneten die Seminare 498 Eintritte, 122 weniger als im Jahr zuvor. Nach sechs Jahren Seminarausbildung dürfte erfahrungsgemäß nur die Hälfte die Weihen empfangen. Sollte dieser Trend anhalten, dann ist nur eine Frage der Zeit, wann auch in Polen westliche Verhältnisse herrschen werden.

Soziale Herkunft

Was die soziale Herkunft der jungen Kleriker betrifft, so zeigt sich im Vergleich zur Umfrage des Jahres 2000 kaum eine Veränderung. 60% kommen aus Städten, 4o% aus dörflichen Verhältnissen. In der Regel verfügen die Kandidaten über einen Abiturabschluss. Zugenommen hat gegenüber 2000 die Zahl der Spätberufenen (2000: 0,9%, 2010: 4,5%).

84% leben in intakten Familien mit zwei oder mehr Kindern. Beide Elternteile erfreuen sich gegenüber der Befragung vor zwei Jahrzehnten eines höheren Bildungsstandes und sind auch vermehrt berufstätig. Die materielle Situation ihrer Herkunftsfamilie schätzen die jungen Theologen überwiegend positiv ein. Prof. Paulina wertet diesen Befund als Anzeichen dafür, dass den Seminarbewerbern auch andere Berufsmöglichkeiten offen standen und die Zeit vorbei sei, in der „Priester werden“ einen sozialen Fortschritt bedeutete.

Religiöse Verwurzelung

Die Antworten auf die Fragen nach religiöser Verwurzelung bieten keine Überraschung. Neben dem religiösen Einfluss der Familie (20%) spielen der Ministrantendienst (85%) sowie die Zugehörigkeit zu einer charismatischen oder geistlichen Erneuerungsbewegung (68%) eine Rolle.

Unterstützt wurden die Seminarbewerber in ihrer Berufung durch Priester ihres Vertrauens (81%) sowie in der Familie mehr von den Müttern (75%) als von den Vätern (62%). Doch nicht alle Eltern waren mit der Berufswahl ihrer Söhne einverstanden. Und diese ablehnende Haltung hat sich gegenüber 2000 verstärkt. Eine Auswirkung, auch nach Meinung von Prof. Paulina, des zunehmenden Säkularisierungsprozesses und eines allgemeinen Prestigeverlusts des Priesters.

Wissensstand

Offenbar unterliegen die jungen Kleriker der Versuchung ihrer Generation, das Internet für eine ausreichende Bildungsquelle zu halten. Bücher jedenfalls nehmen sie kaum zur Hand. 9% geben an, im Laufe des Jahres kein einziges Buch gelesen zu haben. Keiner der Kandidaten nahm sich die Zeit für die Lektüre von mehr als fünf Büchern. Das ist bedenklich wenig an Bildung durch das Wort für jene, die einmal das Wort Gottes zu verkünden haben.

Auch sonst ist ihr Bildungsstand bestenfalls durchschnittlich. Es gab eine breite Palette an Fragen, von den Hauptstädten einiger Länder über die Namen bedeutender Politiker bis zu einzelnen Glaubenswahrheiten. Der Vergleich zu 2000 zeigt ein um 30% schlechteres Ergebnis. Die Namen der beiden Vorgänger von Johannes Paul II. waren 46% nicht geläufig, und 54% kannten nicht einmal den Titel einer einzigen Enzyklika. Immerhin waren 93% der Befragten in der Lage, die Namen der vier Evangelisten zu nennen.

Dieses eher negative Ergebnis verweist auf Defizite des Bildungswesens einschließlich der Katechese, die – unabhängig von dieser Befragung – in den Medien häufig den Gegenstand kritischer Betrachtung bilden.

Politische Einstellung

Gefragt wurde u. a. nach der Stimmabgabe bei der Europawahl im Mai 2019. Das Ergebnis: Eine vorherrschend nationale und nationalistische Einstellung. 67% hatten für PiS gestimmt, 24 % für die in Teilen antisemitische Konföderation. Das sind Prozentzahlen weit über dem Landesdurchschnitt (PiS: 45,38%; Konföderation: 4,55%). Für die liberale, europafreundliche Koalition stimmten lediglich 7% (Landesdurchschnitt: 38,47%). 21% werteten den EU-Beitritt Polens negativ, wobei die Zustimmung in der Bevölkerung immer noch bei über 90% liegt. 23% sehen in der Aufnahme von Flüchtlingen eine nationale Bedrohung, dagegen befürchten nur 10% ein Anwachsen nationalistischer Strömungen.

Diese Aussagen zur politischen Einstellung der Seminarbewerber sind als besonders bedenklich zu bewerten. Sie lassen sich nur in dem Sinn deuten, dass von ihnen das bestehende System einer engen Verflechtung der Kirche mit den regierenden Nationalkonservativen nicht nur reproduziert, sondern noch verstärkt wird. Auch von den künftigen Priestern ist offenbar ein Klerikalismus der Festungsmentalität zu erwarten, und dies mit den entsprechenden Feindbildern, seien es Flüchtlinge, sei es die so genannte LGBT+-Ideologie oder ganz allgemein der westliche Liberalismus, der für jeden Verlust an nationalen und christlichen Werten in der polnischen Gesellschaft verantwortlich gemacht wird.

Hinter den 7% derer, welche die Europäische Koalition gewählt haben, verbergen sich vermutlich junge Menschen eines weltoffenen Katholizismus. Sie vor allem dürften ein Anwachsen des Nationalismus befürchten. Doch das ist, leider, nur ein äußerst geringer Prozentsatz im Vergleich zu den 91% national bzw. nationalistisch eingestellter Bewerber um das Priesteramt. Aus dem weltoffenen, christlichen Milieu entscheiden sich offenbar nur wenige für den Priesterberuf. Auf diese Weise wird wohl der ohnehin geringe Rückhalt, den weltoffene Katholiken bei Priestern und Bischöfen finden, weiter schwinden und damit die Hoffnung auf eine grundlegende Reform und Erneuerung der „polnischen“ Kirche in naher Zukunft.

Sexualität

In Polen bedurfte es massiver, äußerer Anstöße, ehe sich die kirchlich Verantwortlichen ernsthaft mit der Vielzahl an klerikalen Missbrauchsfällen befassten. In den Priesterseminaren wurden nach allem was man weiß die damit verbundenen Probleme nicht behandelt. So verwundert es nicht, dass von den befragten Priesteramtskandidaten den klerikalen Missbrauchsfällen nicht die Bedeutung beigemessen wurde, die sie verdienen. Zwar müsse sich in der Kirche einiges ändern, doch das Fehlverhalten einzelner sei durch die Medien aufgeputscht und kirchenfeindlich ausgeschlachtet worden.

Überraschend ist dagegen, dass 39% der Seminarbewerber angaben, „häufig und regelmäßig nach Pornographie zu greifen.“ Die Befragung war zwar anonym, aber eine derart freimütige Äußerung war dennoch nicht zu erwarten. Die Analytiker rätseln daher auch, wie sie zu bewerten sei. Eine klare Antwort geben sie nicht. Doch eines wird deutlich: Das Problem einer psychosexuellen Unreife der künftigen Priester. Zu fragen ist: Kann überhaupt die notwendige Reifung in der Abgeschiedenheit des Seminars erreicht werden? Besteht nicht die Gefahr weitgehender Verdrängung der eigenen Sexualität mit allen daraus resultierenden negativen Folgen? Kommentatoren fordern daher als Voraussetzung sexueller Reifung den Zugang zu einem ideologiefreien, wissenschaftlichen Sexualwissen. Doch wer kann das im Seminar vermitteln? Sicher nicht der Rektor, auch nicht der Spiritual, niemand, der mit dem Seminarsystem eng verbunden ist. Es muss, so fordern sie, jemand von außen sein, ein wissenschaftlich ausgewiesener Psychologe und Sexologe.

Fasst man die Ergebnisse der Befragung zusammen, dann ergibt sich die Notwendigkeit einer Reform der Seminarausbildung. Entsprechende Vorschläge hat im Übrigen die für die Priesterausbildung zuständige vatikanische Kommission bei der Polnischen Bischofskonferenz angefordert, und die Befragung nebst ihrer Auswertung ist auch in diesem Kontext zu sehen.

Quelle: Macej Müller, Skąd się biorą księża (Woher die Priester kommen), Tygodnik Powszechny v. 11. 10. 2010. S. 32-35.

Comments


Follow Us
  • Twitter Basic Black
  • Facebook Basic Black
  • Black Google+ Icon
Recent Posts
bottom of page