Der Wahlkampf hat bereits begonnen 30. 07. 2022
- Theo Mechtenberg
- 30. Juli 2022
- 8 Min. Lesezeit
Wenn der Slogan „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ auf ein Land zutrifft, dann auf Polen. Dort finden im Herbst 2023 Parlamentswahlen statt, doch der Wahlkampf ist bereits im vollen Gange. Und kein anderer nach dem Umbruchjahr 1989 wurde mit einer solchen Erbitterung geführt.
Zur Ausgangslage: Nach einer Umfrage vom 2. Juli 2022 führt mit 31% die Vereinigte Rechte, also der Zusammenschluss der Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit der von Justizminister Zbiegniew Ziobro geführten Partei Solidarisches Polen. Für die Bürgerkoalition (KO), zu der sich die Bürgerplattform (PO) von Donald Tusk mit den zwei Miniparteien Moderne und Die Grünen vereinigt hat, wurden 26% ermittelt. Die von Szymon Hołownia gegründete und geleitete Partei Polen 2050 kam auf 10%, die Neue Linke auf 8%.
Sollte sich an diesem Ergebnis wenig ändern, dann ist vorhersehbar, dass die Vereinigte Rechte aus den kommenden Parlamentswahlen zwar als Siegerin hervorgehen wird, doch ihre bisherige siebenjährige Regierungsarbeit nicht fortsetzen kann. Dagegen hätte ein von Donald Tusk angeführtes Bündnis aus Bürgerkoalition, Polen 2050 und Neue Linke eine zur Regierungsbildung deutliche parlamentarische Mehrheit. Der Wahlausgang könnte dennoch sehr knapp ausfallen, sollte Jarosław Kaczyński von der in Teilen antisemitischen und antiukrainischen Konföderation, die 8% für sich verzeichnen konnte, unterstützt werden.
Gemeinsam oder getrennt?
Am 11. Juni 2022 trafen sich auf Einladung von Donald Tusk die Spitzenpolitiker der drei Oppositionsparteien, deren gemeinsames Ziel es ist, die Vereinigte Rechte im Herbst 2023 von der Macht zu verdrängen. Man war sich durchaus bewusst, dass nur ein hoher Grad an Geschlossenheit einen Erfolg verspricht und dieser durch jede Spaltung und jeden Richtungsstreit verspielt würde. Daher müssten die politischen und weltanschaulichen Unterschiede und Gegensätze, die es unter ihnen gibt, um des gemeinsamen Zieles willen zurückgestellt werden. Also verzichtete man auf die Erarbeitung eines gemeinsamen Programms, wobei diese Gegensätze naturgemäß deutlich geworden wären.
Es hätte nahe gelegen, sich bei diesem Treffen entsprechend dem Wunsch von Donald Tusk auf eine gemeinsame Liste zu verständigen. Zumal Umfragen zeigen, dass sich eine große Wählergruppe dafür ausspricht. Doch dazu waren Polen 2050 und die Neue Linke nicht bereit. Und sie haben dafür ihre Gründe. Zum einen können sie sicher sein, die 5%-Hürde zu überspringen und so aus eigener Kraft im nächsten Parlament vertreten zu sein. Zum anderen spielt ein gewisses Misstrauen gegenüber Tusk und seiner Bürgerplattform eine Rolle. Polen 2050 war gegründet worden, um den ewigen, die polnische Gesellschaft tief spaltenden Gegensatz zwischen PO und PiS zu überwinden, doch dieses Ziel wurde verfehlt. Es zeigte sich, dass mit der Rückkehr von Tusk in die polnische Politik Hołownia die Hälfte seiner Anhängerschaft an die Bürgerplattform verlor. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung würde, so die Befürchtung von Hołownia, ein Bündnis mit der Bürgerplattform einer Kapitulation gleichkommen, und er würde möglicherweise auch noch den Rest seiner Wählerschaft einbüßen.
Die Neue Linke hat nach einer Phase des Niedergangs neues Selbstbewusstsein gewonnen und fühlt sich in einem politischen Aufwind. Große Teile der Gesellschaft haben es ihr honoriert, dass sie sich, anders als die sonstigen Parteien, in der Corona-Pandemie für eine Impfpflicht ausgesprochen hat. Zudem kommt angesichts der zunehmenden Unbezahlbarkeit von Wohnraum ihr Wahlslogan „Wohnraum ist ein Recht, keine Ware“ bei den Wählern gut an. Die Neue Linke befürchtet daher nicht ohne Grund bei bloßen Listenplätzen einen politischen Profilverlust und sieht die Gefahr, von der starken PO aufgesogen zu werden.
So werden wohl die jetzigen Oppositionsparteien bei der kommenden Wahl getrennt antreten und, falls sie am Wahlabend über eine Mehrheit verfügen, eine Koalitionsregierung aushandeln.
Ein kämpferischer Parteitag
Am 2. Juli 2022 versammelten sich rund 6000 Parteiaktivisten der Bürgerplattform in der Sporthalle von Radom zu ihrem Parteitag. Die Wahl des Ortes war Programm. In dieser im südöstlichen Teil Polens gelegenen Stadt regierte lange Zeit ein Vertreter der Kaczyński-Partei, doch 2018 wurde durch die Wahl eines der Bürgerplattform nahestehenden Stadtpräsidenten diese Vorherrschaft von PiS beendet. Und 1976 waren es die Arbeiter von Radom, die wegen der Preissteigerungen das kommunistische Regime herausforderten, woran denn auch Parteichef Tusk in seiner Rede erinnerte.
Der Parteitag stand unter dem Leitwort „Konvent der Zukunft“. In Wahrheit aber diente er einer Generalabrechnung mit der nun schon sieben Jahre währenden Regierungszeit von PiS. Sie zu beenden, sei die Voraussetzung für eine neue Zukunft. Doch dazu müssten unbedingt die nächsten Wahlen gewonnen werden, und das bedeute, auch in den östlichen Kleinstädten und Dörfern, den Hochburgen von PiS, um Stimmen zu werben. Das hatte die Bürgerplattform vor den letzten Wahlen versäumt, weil man glaubte, zum Wahlsieg reiche die Konzentration auf den westlichen Teil Polens mit den größeren Städten, ein Irrtum, wie sich zeigen sollte.
Donald Tusk hat daraus die Lehre gezogen und einen verstärkten Wahlkampf auch in den östlichen Gebieten des Landes angeordnet, wo sein Rivale Kaczyński unter Aufgabe seines Regierungsamtes schon seit Wochen zu Wahlkampfveranstaltungen unterwegs ist. Tusk selbst ging mit gutem Beispiel voran und zog auf dem Parteitag gleich zu Anfang seiner Rede eine positive Bilanz seiner Wahlkampfreise durch die von PiS dominierten Landesteile. Wie wirksam dieser Strategiewechsel ist, wird sich am Wahlabend zeigen.
Insbesondere befasste sich der Parteichef mit den rasant steigenden Preisen. Wie jedes westliche Land, so hat auch Polen unter einer hohen Inflation zu leiden. Mit aktuell bei 16% liegt sie deutlich höher als in der Bundesrepublik. Für den Herbst werden sogar über 20% prognostiziert. Das sei nicht allein dem Ukrainekrieg geschuldet, sondern auch durch eine verfehlte Finanzpolitik hausgemacht, worunter nun die Bevölkerung zu leiden habe. Ausgerechnet in dieser Situation habe PiS die Gehälter der Regierungsmitglieder um sage und schreibe 50% erhöht, eine unerhörte Selbstbedienung auf Kosten der Armen.
Zur üblichen Rhetorik von PiS gehört die Behauptung, sie allein basiere auf christlichen Prinzipien und verteidige das Christentum gegen die westliche Dekadenz, von der auch Tusk und seine Partei befallen seien. Der verwahrte sich gegen diese böswillige Unterstellung, indem er sich ausdrücklich als Christ bekannte und konterte, man dürfe PiS nicht wählen, denn das hieße für „Lüge, Diebstahl und Verachtung“ zu stimmen. Wörtlich sagte er: „Wenn ihr Kinder, Enkel und Töchter habt, dann könnt ihr um Gottes Willen nicht PiS eure Stimme geben, die euren Töchtern und Enkeln die Hölle bereiten.“
In diesem Zusammenhang wandte sich Tusk auch gegen das von PiS und Kirche praktizierte Bündnis von Thron und Altar: „Für mich als Christ ist es schmerzhaft, dass 1976 alle Polen wussten, dass die Kirche auf ihrer Seite steht, als die Menschen in Radom wegen der Preissteigerungen auf die Straße gingen, während heute die Kirche ihren Platz an der Seite der Macht einnimmt, die gegen die Menschen gewaltsam vorgeht und sie demütigt.“
Auch die weiteren Redner gaben sich angriffslustig: PiS treibe die Menschen mit ihrer Politik ins Elend, zerstöre das zwischenmenschliche Vertrauen, schaffe mit ihren gravierenden Rechtsbrüchen eine allgemeine Rechtsunsicherheit, verfolge zum Schaden Polens eine Politik der Schwächung der Europäischen Union – kurzum eine Generalabrechnung mit PiS.
Im staatlichen Fernsehen erfuhren die Menschen von diesem Parteitag allerdings nichts. Während Tusk seine kämpferische Rede hielt, waren auf den Bildschirmen weidende Schafe zu sehen.
Eine gute, bewährte Regierung in schwerer Zeit
Mit diesem Wahlslogan hofft die Kaczyński-Partei aus den derzeitigen Krisen Gewinn zu ziehen: Vor Polens Tür der Ukrainekrieg, die Aufnahme von über einer Million Flüchtlingen aus dem Nachbarland, die Corona-Pandemie, die hohe Inflation – diese Summierung von Krisen erfordere eine stabile, handlungsfähige Regierung, zu der die Opposition nicht in der Lage sei. Käme sie an die Macht, würde Polen im Chaos versinken.
In diesem Sinn äußerte sich Parteichef Kaczyński im Fernsehen und auf seiner Wahltournee: „Die Wahl von Tusk und seiner Formation kann zu unerhört harten Konflikten mit all ihren Konsequenzen führen“; Tusk bereite „etwas in der Art eines Bürgerkrieges vor“; er verfolge Pläne, „die nichts mit Demokratie und Rechtstaatlichkeit gemein haben“; „ich kann nur alle warnen, die für eine solche Politik stimmen möchten, die fatale Folgen haben wird.“
Was ist von derlei Worten zu halten? Droht mit Tusk wirklich ein Bürgerkrieg? Wie kann sich ausgerechnet Kaczyński, der eine Fülle von Verletzungen der Rechtstaatlichkeit zu verantworten hat und mit seinem autoritären Kurs die Demokratie in seinem Land gefährdet, zum Wächter von Demokratie und Rechtstaatlichkeit aufspielen?
Hinter dieser Angstmache verbergen sich in Wahrheit eigene und durchaus berechtigte Ängste. Für Kaczyński und seine Getreuen steht viel auf dem Spiel. Der Verlust der Macht wäre kein bloßer Wechsel auf die Oppositionsbänke, bedeutete nicht nur den Verzicht auf die ach so lukrativen Pöstchen, angesichts ihres Machtmissbrauchs und ihrer Rechtsbeugungen drohen den dafür verantwortlichen Politikern von PiS Prozesse, die sie möglicherweise hinter Gittern bringen könnten.
Versuche, Politiker der Rechten wegen Machtmissbrauchs vor Gericht zu bringen, hat es in der Vergangenheit bereits gegeben. 2007 betraf dies den jetzigen Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, 2014 den Chef des Geheimdienstes Mariusz Kamiński. In beiden Fällen wurde aber im Sejm die erforderliche Mehrheit zur Aufhebung ihrer Immunität verfehlt, so dass es nicht zu Prozessen kam.
Donald Tusk ließ auf dem erwähnten Parteitag keinen Zweifel aufkommen, dass nach gewonnener Wahl sich schuldig gemachte Politiker zur Rechenschaft gezogen werden, unter ihnen die führenden Köpfe von PiS, Jarosław Kaczyński und Premier Mateusz Morawiecki. Die wissen das und werden alles unternehmen, um einer möglichen Strafverfolgung zu entgehen.
Wahlkampf als totaler Krieg
Allein schon dieser Tatbestand dürfte Grund genug für diesen vorzeitigen Wahlkampf sein, der mit aller Härte geführt wird, so dass sowohl Kaczyński als auch Tusk von einem „totalen Krieg“ sprechen. In diesem „Krieg“ verfügt PiS über die meisten Waffen. An erster Stelle ist das öffentliche, von PiS kontrollierte Fernsehen zu nennen, das mit seiner Propaganda ganz in Diensten des Regierungslagers steht. Nicht erst jetzt, sondern bereits mit dem Tag, an dem im Oktober 2021 Donald Tusk in die polnische Politik zurückkehrte, sieht er sich fast täglich verleumderischen Angriffen ausgesetzt. Tusk, der fließend Deutsch spricht, jahrelang das Amt des EU-Ratspräsidenten bekleidete und danach den Vorsitz der im Europäischen Parlament als stärkste Gruppierung vertretenen Volkspartei übernahm, wird permanent beschuldigt, die gegen Polen gerichteten Interessen Deutschlands zu vertreten und der polnischen Regierung in ihrer Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission in den Rücken zu fallen; er sei ein Verräter. Neuestens gilt er sogar als Mann Moskaus und für den Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit verantwortlich. Eine Machtübernahme durch Tusk und seine Partei bedeute für Polen und die Polen nichts weniger als einen dramatischen Anstieg der Armut, zerstöre die Kirche und mache Gender und die LGBT-Ideologie zur Staatsdoktrin. Absurde Behauptungen und Unterstellungen, die aber durch ständige Wiederholung ihr Ziel bei einem Teil der Wählerschaft nicht verfehlen dürften.
Doch PiS verfügt nicht nur über die Propagandahoheit, sondern über ein ganzes Arsenal staatlicher Instrumente, die möglicherweise im Kampf mit der Opposition zum Einsatz kommen. So könnte etwa der die Tankstellen versorgende Ölkonzern Orlen kurz vor der Wahl die Benzinpreise senken und in der Breite der Gesellschaft die Bereitschaft wecken, PiS diese „Wohltat“ an den Wahlurnen zu honorieren. Auch wird bereits vermutet, die Regierung werde zugunsten von PiS die Wahlordnung ändern. Und die Nationalkonservativen könnten die Wahlen für ungültig erklären, sollte die Opposition sie für sich entscheiden. Das dazu erforderliche Instrument ist die mit PiS-treuen Richtern besetzte, für die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen zuständige Oberste Kammer für Öffentliche Angelegenheiten.
Inhaltliche Schwerpunkte des Wahlkampfes
Wie in früheren Walkämpfen präsentiert sich PiS als die einzige politische Kraft, die in der Lage ist, die angeblich durch die Opposition bedrohten nationalen Werte zu verteidigen. Entsprechend wird die Gefahr beschworen, nach einem Regierungswechsel würden unter dem Einfluss westlicher Dekadenz Gender und die LGBT-Ideologie zur Staatsdoktrin, und Abtreibungen könnten dann auf Wunsch der Frauen wieder erlaubt sein.
Dazu hat Kaczyński angekündigt, wieder einmal die antideutsche Karte zu spielen. Am 1. September, dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, soll der erste Teil eines umfassenden, die polnischen Reparationsforderungen betreffenden Dokuments veröffentlicht werden. Dabei ist dieses Problem bereits vor Jahren diskutiert und damit klargestellt worden, dass es für deutsche Reparationszahlungen keine rechtliche Grundlage gibt. Aber zur Anheizung einer antideutschen Stimmung bei einem Teil der Gesellschaft reicht dies allemal. Und sie macht sich, so hofft PiS, durch entsprechende Wählerstimmen bezahlt.
Umfragen zeigen allerdings, dass die Polen gegenwärtig andere Sorgen haben. Sie stellen sich vor allem die Frage, ob ihr Geld noch für das ihnen von PiS verheißene gute Leben reicht. Die Angst, in eine Notlage zu geraten, wächst in der Gesellschaft. Die Unzufriedenheit nimmt angesichts der hohen und sich beschleunigenden Inflation in der Bevölkerung zu.
Diese sozio-ökonomische Situation, durch die sich die nationalkonservative Partei und Regierung in die Defensive gedrängt sehen, nützt die Opposition aus. Sie lässt die Erklärung, die wachsende Teuerungsrate sei durch den Ukrainekrieg bedingt, nicht gelten und verweist auf eine falsche Finanzpolitik. Und Tusk verspricht in seinen Wahlkampfreden, dass es unter seiner Regierung eine derartige Teuerung nicht geben werde. Eine gewagte These, zu der er die Erklärung , wie dies konkret geschehen solle, schuldig bleibt.
Tusk ist im Übrigen der Auffassung, dass Programme für den Wahlsieg nicht ausschlaggebend sind. Sie würden ohnehin nicht gelesen. Man solle, um möglichst viele Stimmen zu gewinnen, die Wähler nicht vor den Kopf stoßen. Und schließlich würde derjenige die Sympathie der Bürgerinnen und Bürger für sich gewinnen, der sich als der stärkere erweise. Und dafür tut Tusk in diesem monatelangen Wahlkampf alles, und sei es auf Kosten der übrigen Parteichefs der Opposition. So läuft dieser Wahlkampf letztlich auf ein Duell zwischen Kaczyński und Tusk hinaus – auf die Fortsetzung einer seit Jahrzehnten bestehenden Rivalität, bei der so mancher Schlagabtausch unter der Gürtellinie zu erwarten ist.
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