Die bittere Frucht eines Triumphs
Ein für die polnische Kirche folgenschweres Verfassungsurteil
Der 22. Oktober 2020 markiert ein Datum, das wohl in der Geschichte der polnischen Kirche als tiefgreifende Zäsur seinen Platz finden dürfte. An diesem Tag, der im liturgischen Kalender dem Gedenken des heiligen Papstes Johannes Paul II. gewidmet ist, gab das mit PiS-treuen Richterinnen und Richtern besetzte Verfassungsgericht bekannt, dass die geltende Abtreibungsgesetzgebung nicht verfassungskonform ist und geändert werden muss. Der bislang als legal geltende Schwangerschaftsabbruch bei einer geschädigten Leibesfrucht widerspreche dem in der Verfassung verankerten Lebensschutz und sei per Gesetz zu verbieten.
Zur Erinnerung: Im postkommunistischen Polen galt zunächst das liberale Abtreibungsgesetz von 1956 weiter, das bereits aufgrund „widriger Lebensumstände“ einen Schwangerschaftsabbruch erlaubte, was faktisch einer völligen Freigabe der Abtreibung gleich kam. Für Polens Kirche bedeutete dies eine gezielte Demoralisierung der Nation. Sie forderte ein neues Gesetz, das Abtreibungen grundsätzlich untersagt. Doch zu ihrer Enttäuschung fand sie in der katholischen polnischen Nation dafür keine Mehrheit.
Die 1990er Jahre waren stark von der Auseinandersetzung um eine Abtreibungsgesetzgebung bestimmt und mit einem deutlichen Autoritätsverlust der Kirche verbunden. Als 1997 ein Kompromiss gefunden wurde, beruhigte sich die Lage. Das Verfassungsgericht entschied damals, dass ein Schwangerschaftsabbruch wegen „widriger Lebensumstände“ nicht verfassungskonform ist, wohl aber für den Fall, dass die Leibesfrucht schwer geschädigt ist. Doch zufrieden waren mit dieser Lösung weder die Kirche noch die Verfechter einer weitgehenden Legalisierung von Abtreibungen; sie wurde aber um des gesellschaftlichen Friedens will akzeptiert.
Die für die Kirche negativen Konsequenzen des Verfassungsurteils
Dieser gesellschaftliche Friede ist nun mit dem Verfassungsurteil vom 23. Oktober zutiefst gestört. Ungeachtet dessen sah sich die Kirche endlich am Ziel ihrer Wünsche. Der Vorsitzende des Bischofskonferenz, der Posener Erzbischof Stanisław Gądecki, beeilte sich, noch am gleichen Tag die Entscheidung des Verfassungsgerichts zu begrüßen: „Mit großer Hochachtung nehme ich heute Kenntnis von der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das eine eugenetische Abtreibung als mit der Verfassung der Republik für unvereinbar erklärte.“ Überglücklich sagte sein Stellvertreter, der Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski: „Man kann sich schwerlich eine herrlichere Meldung vorstellen. Große Anerkennung gebührt den Verfassungsrichtern für ihren Mut wie für ihren Sachverstand und Dankbarkeit den Initiatoren sowie den Teilnehmern der großen sozialen Bewegung, die für den Schutz der Heiligkeit eines jeden Lebens vom Moment seiner Empfängnis bis zum Augenblick des natürlichen Todes eintraten.“
Doch der Preis ihres Triumphes ist hoch. Zu Zigtausenden gingen die Frauen, und nicht nur sie, aus Protest auf die Straße, und ihr Protest galt nicht nur Jarosław Kaczyński und seiner Partei und Regierung, sondern auch der Kirche. Am 25. Oktober, einem Sonntag, demonstrierten die Frauen vor und, wenn möglich, auch in den Kirchen unter dem Motto „Ein Wort zum Sonntag“. Als Antwort auf die ausdrückliche Begrüßung der Entscheidung des Verfassungsgerichts durch den Vorsitzenden der Bischofskonferenz wählten sie seine Posener Kathedrale zu einer besonderen Aktion. Ein gutes Dutzend protestierender Frauen mischte sich unter die Gottesdienstbesucher. Nachdem der Priester zur Predigt die Kanzel bestiegen hatte und im Altarraum die liturgische Handlung unterbrochen war, besetzte die Gruppe mit ihren Plakaten den Chorraum. Ein präzedenzloser Vorgang! Die Aufforderung des Priesters, die Kirche zu verlassen, negierten die Frauen. Die Polizei wurde herbeigerufen, und die räumte den Altarraum von den teils passiven Widerstand leistenden Frauen und notierte ihre Personalien.
Es kam zu einer Welle von Kirchenausritten. Die protestierenden Frauen riefen dazu auf, der Kirche den Rücken zu kehren. Und wer sich zu diesem Schritt bekannte, wurde mit Beifall bedacht. Auf Facebook wurde die Losung verbreitet: „Tritt noch im November aus der Kirche aus.“ In kürzester Zeit kamen 1500 Polinnen und Polen dieser Aufforderung nach. Doch diese Akte der Apostasie waren nicht unbedingt Zeichen eines Abfalls von Gott. Typisch die Äußerung einer der protestierenden Frauen: „Ich verlasse die Kirche als Institution, denn ich will nicht Teil einer Gemeinschaft sein, die uns ins Mittelalter versetzt. Gott verwerfe ich nicht.“
Dass es zu diesen in der Geschichte der polnischen Kirche einmaligen Protesten gekommen ist, darin sieht der Dominikaner Ludwik Wiśniewski „eine nicht von der Hand zu weisende Schuld. Im Kampf um eine heilige Sache besaß für uns das Recht und nicht der Mensch Priorität. Daher bitte ich die Bischöfe, nicht so zu tun, als seien sie unfehlbar und frei von Sünde, sondern sich an die Brust zu schlagen und die Polen für ihr Versagen und ihre Fehler um Verzeihung zu bitten.“[1]
Theologie der Nation als vorkonziliares Staat-Kirche-Modell
Was ist der tiefere Grund für die Versäumnisse und Fehler der Bischöfe, die ja, das sei vorausgesetzt, im guten Glauben handeln? Woraus resultieren sie? Jacek Prusak, Jesuit und Psychotherapeut, sieht ihn in einem vorkonziliaren Modell des Verhältnisses von Staat und Kirche, das von Pater Rydzyk und seinem Medienimperium promulgiert und für die Bischöfe, wenngleich nicht für alle, Leitvision ihres Handelns ist. Er sagt: „Diese Ekklesiologie basiert auf zwei Pfeilern. Erstens auf der Überzeugung, dass das Wohl der Nation durch die katholische Soziallehre definiert werden muss, denn nur dann ist ein gerechter Staat möglich, und damit es dazu kommt, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat erforderlich. Zweitens auf dem Prinzip, dass eine lebendige Kirche nicht ohne einen katholischen Staat existieren kann; also muss die Verfassung die Katholiken privilegieren. Wenn du dem nicht beipflichtest, dann bist du ein ‚Liberaler‘ oder ‚Linker‘. Diese Utopie eines Großpolens wurde im Verlauf der jüngsten Proteste entlarvt.“[i][2]
Es ist eine spezifische Theologie der Nation, welche diese Ekklesiologie bestimmt. Entworfen wurde sie von Professor Czesław Stanisław Bartnik[3], der sein halbes Leben an der Katholischen Universität Lublin (KUL) lehrte. Er beendete 2004 aus Altersgründen seine Lehrtätigkeit, ist aber weiter aktiv. Von 2006-2013 lehrte er an der von Pater Tadeusz Rydzyk gegründeten kirchlichen Hochschule für Sozial- und Medienkultur. Auch sonst ist er ihm als Mitarbeiter von „Radio Maryja“ und der Kirchenzeitung „Nasz Dziennik“ eng verbunden. Wegen seiner Bemühungen um eine „Theologie der Nation“ hat ihm P. Rydzyk den Titel „Prophet der Nation“ verliehen.
Als nach Überwindung des Kommunismus Polens Kirche in den 1990er Jahren erfahren musste, dass sich ihre Moralvorstellungen – wie im Falle der Abtreibungsfrage – in einem pluralistisch-demokratischen Staatswesen nicht einfach in Gesetze umgießen ließen, reagierte Bartnik darauf mit einer die damalige gesellschaftspolitische Auseinandersetzung verzerrenden Äußerung: „Die ganze unbeschreibliche Hoffnung und Freude verfinsterten neue Fehler, Sünden und Kämpfe um Macht und Geld. Mit einem Male kam es zu scharfen Attacken von Juden gegen Polen und die polnische Kirche.“ Entsprechend geißelte er den Protest der Frauen, der sich gegen eine Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung richtetet: Er ziele dann darauf ab, „unser polnisches Haus nicht nur materiell, sondern auch geistig, moralisch und religiös zu zerstören.“ Derlei Aussagen belegen eine nationalistische Grundeinstellung von Bartnik und lassen seine Konzeption einer „polnischen Theologie der Nation“ gleichsam als Gegenentwurf zu der nach der politischen Wende geschaffenen III. Republik eines freien und demokratischen Polens erscheinen.
Bartniks „Theologie der Nation“ ist ein Konstrukt der Überhöhung der polnischen Nation als höchste Form kollektiver Existenz. Daraus resultiert, dass sich das Individuum, wolle es sich als Mensch voll entfalten, mit der Nation identifizieren muss. „Das Individuum ist eine in der Nation, dank der Nation und durch die Nation lebende Person.“ Verweigert es sich dieser nationalen Forderung wie „Kosmopoliten und Liberale“, denen Bartnik einen Mangel an Nationalbewusstsein und Patriotismus unterstellt, dann erweist es sich als Feind der Nation und Verächter wahren Menschseins.
Diese „Theologie der Nation“ dient in Wahrheit ideologischen Zwecken, um Forderungen der Kirche durch eine nationalistische Politik durchzusetzen. Sie ist somit nichts anderes als eine Ideologie im Dienste politischer Macht. Zudem bildet sie die Grundlage für die enge Beziehung der Kirche zur PiS-Partei samt ihrer Regierung. Parteichef Kaczyński ist von ihr tief überzeugt und hat dies immer wieder zum Ausdruck gebracht¸ etwa indem er fordert, auch ein nichtgläubiger katholischer Pole solle am Gottesdienst teilnehmen, weil die Katholizität zur Identität eines Polen gehöre; oder wenn er meint, die Verwerfung des durch die Kirche repräsentierten „moralischen Depositum“ sei „Nihilismus“. „Diese Attacke kann Polen zerstören. Sie kann zu einem Triumpf der Kräfte führen, deren Macht im Grunde die Geschichte der polnischen Nation beendet, so wie wir sie bislang kannten.“ Prusak glaubt, Kaczyński gehe es im Grunde um „die Wiedererweckung einer ‚vorkonziliaren Leiche‘ in Form eines Bekenntnisstaats, in dem die Seele der Nation untrennbar mit dem Leib der Kirche verbunden ist.“ Die protestierenden Frauen haben genau dies begriffen, denn einer ihrer häufigen Slogans lautet „Kirche ist PiS“.
Die praktische Konsequenz dieses Modells besteht darin, dass der Staat zum weltlichen Arm der Kirche wird, wofür die Art und Weise, wie auf langjähriges Drängen der Kirche das Verfassungsurteil zustande kam, den Beweis liefert. Andererseits profitiert PiS von der Unterstützung durch die Kirche, wie dies beispielsweise die Wahlanalysen belegen.
Die Frage ist allerdings, wie lange noch dieses Modell die Geschicke Polens bestimmt. Nicht ausgeschlossen, dass sich der 23. Oktober als entscheidende, das Ende dieses Modells herbeiführende Zäsur erweist. Ihm wird, wie die Wucht der Frauenproteste zeigt, zunehmend die gesellschaftliche Basis entzogen, die auch im katholischen Polen mit fortschreitender Säkularisierung und weltanschaulicher Pluralität schwindet. Dies zeigen Umfragen unmittelbar nach Bekanntgabe des Verfassungsurteils. Danach hat PiS erheblich an Zustimmung eingebüßt, so dass, würden zum jetzigen Zeitpunkt Wahlen stattfinden, die Vereinigte Rechte keine Mehrheit besäße.
Ein Ausweg aus der Krise?
Allein schon die Erfahrung, dass nach weitgehendem Verlust der Jugend nun auch die Frauen der Kirche verloren gehen, sollte das Krisenbewusstsein in Polens Kirche schärfen. Voraussetzung, dass überhaupt ein Ausweg aus der Krise gefunden wird, wäre eine entschiedene Absage an ihrer „Theologie der Nation“ sowie an das aus ihr resultierende Verhältnis zur politischen Macht. Konkret geht es um eine Neubesinnung bezüglich ihres gesellschaftlichen Auftrags. Vielleicht hilft die Erinnerung daran, dass die Kirche zu kommunistischen Zeiten ein Raum der gesellschaftlicher Freiheit war und als solche empfunden wurde; und dass sie in der Umbruchphase 1989/90 so viel Vertrauen besaß, dass sie als Moderatorin von den Konfliktparteien akzeptiert wurde, während sie heute mit PiS gemeinsam Partei ist. Vollzieht Polens Kirche indes keinen einer Bekehrung gleichkommenden Mentalitätswandel und hält sie an ihrer bisherigen Strategie fest, droht ihr wohl eine zunehmende gesellschaftliche Isolierung und Gettoisierung.
Forderung nach einem alternativen kirchlichen Handeln
Pater Wiśniewski zeigt am Beispiel der Abtreibungsproblematik, wie ein solcher Mentalitätswandel und das aus ihm resultierende Handeln aussehen kann. Er glaubt, dass die Verabschiedung eines äußerst restriktiven Abtreibungsgesetzes das Problem nicht löst – zumindest nicht im Geiste Jesu: „Man muss schon ein engstirniger Doktrinär sein, um der Auffassung zu sein, dass ein gesetzliches Gebot oder Verbot die Gesellschaft heilt und Achtung vor Ungeborenen lehrt. Ein so übereiltes Verbot, das Widerspruch weckt, kann nur der hehren Sache schaden und dazu noch die Menschen der Kirche, die ein solches Gesetz forciert, entfremden.“
Wiśniewski bedauert zudem, dass das Verfassungsurteil ohne jedes Verständnis für die betroffenen Frauen gefällt wurde. Er zitiert das an die Pharisäer gerichtete Jesuswort, wonach sie Menschen Lasten aufbürden, ohne selbst mit dem Finger daran zu rühren. (Lk 11, 45f.) Und er kommentiert es mit den Worten: „Der Mensch ist vor dem Recht. Wir verkünden Grundsätze und Prinzipien, aber wir sehen nicht die konkreten Menschen und ihre Belastungen. Das ist das heutige, grundsätzliche polnische und kirchliche Problem – unsere Lehre ist leeres Gerede.“
Welche Last Frauen und ihre Familien auf sich nehmen, die sich für die Geburt einer geschädigten Leibesfrucht entscheiden, davon haben jene, die ein solches Gesetz fordern und beschließen, kaum eine Vorstellung. Schlimmer noch: Die soziale Unterstützung der Frauen und Familien mit behinderten Kindern ist minimal. Wiśniewski hatte daher vor einiger Zeit den Vorschlag gemacht, mit den Geldern, welche die Priester bei ihren traditionellen weihnachtlichen Hausbesuchen in den Pfarreien erhalten, einen Fonds zu gründen, um diese Familien zu unterstützen. Ein Bischof reagierte empört: Was ihm wohl einfalle, diese Gelder zu verteilen! Nur ein emeritierter Bischof äußerte sich positiv, alle anderen schwiegen. Aus der Sache wurde nichts. Dabei wäre sie ein Beispiel für den so dringend notwendigen Mentalitätswandel der polnischen Kirche.
[1] Ludwik Wiśniewski, Człowiek przed prawo (Der Mensch hat Vorrang vor dem Recht), Tygodnik Powszechny v. 16. 11. 2020. S. 38. [2] Jacek Prusak, Czas na ruch (Zeit für Bewegung), aaO., S. 33. [3] Czeslaw Stanislaw Bartnik, Polska Teologia Narodu (Die polnische Theologie der Nation), Towrzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubielskiego, Lublin 1988.
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