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Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikts


Der Krieg in der Ostukraine währt bereits über sieben Jahre und hat auf beiden Seiten trausende Opfer gefordert. 2014 kam es im Rahmen des Minsker Abkommens wenigstens zur Vereinbarung eines Waffenstillstandes. Ganz friedlich ging es dennoch nicht an der Front zu, so dass die Ukraine seit dieser Zeit zahlreiche gefallene Soldaten zu beklagen hat.

Doch mit den ersten Januartagen des Jahres 2021 kam es auf Seiten der ukrainischen Separatisten und ihren russischen Unterstützern zu vermehrten Kampfhandlungen. Und die Zahl der Opfer stieg erneut. Besonders beunruhigend ist der vom Kreml als Manöver ausgegebene Truppenaufmarsch im April mit weit über 100 000 Soldaten und einer Masse an Panzern und sonstigem Kriegsgerät. Die zunehmende Militarisierung der Krim und die Errichtung eines großen Militärlagers unweit der ukrainischen Grenze bedeuten seitdem trotz eines teilweisen Truppenabzugs eine ernste Bedrohung der Ukraine.

Als Reaktion auf diese Verschärfung der Sicherheitslage wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj mit einem Hilferuf an die NATO sowie an die amerikanische Administration. Die NATO beließ es bei einer verbalen Zusicherung, in diesem Konflikt an der Seite der Ukraine zu stehen, und forderte zudem einen sofortigen russischen Truppenabzug. Deutlicher wurde der neue amerikanische Präsident. Er warnte Russland vor einer Eskalation und entsandte zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer.

Derweil fragen sich Diplomaten und politische Analytiker nach der mit dieser Machtdemonstration verbundenen Absicht. Dient sie der Vorbereitung einer gegen die ukrainische Schwarzmeerküste gerichteten Aggression, um eine direkte Landverbindung zwischen der Krim und Russland herzustellen? Ist sie ein Test, wie die NATO und der neue amerikanische Präsident darauf reagieren, um daraus zu schließen, wieviel Unterstützung die Ukraine im Ernstfall vom Westen zu erwarten hat? Oder verfolgt Putin mit dieser Kraftstrotzerei lediglich das Ziel, die Ukraine vor einer weiter gehenden Annäherung an den Westen zu warnen und ihr deutlich vor Augen zu führen, dass es für sie einen „Frieden“ nur an der Seite von Russland gibt?


Rückkehr zur Atommacht?

Wie bedrohlich die ukrainische Führung die Sicherheitslage ihres Landes einschätzt, das lässt sich an einer Aussage des in Berlin akkreditierten ukrainischen Botschafters ermessen: Sollte der Westen angesichts des sic h weiter zuspitzenden Konflikts mit Russland tatenlos bleiben und die Ukraine ihrem Schicksal überlassen, dann sähe man sich genötigt, nuklear aufzurüsten.

Dazu muss man wissen, dass die Ukraine für kurze Zeit eine Atommacht war. Als sie 1991 aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion unabhängig wurde, befand sich auf ukrainischem Boden ein ansehnliches Arsenal an Atomwaffen, das drittgrößte nach den USA und Russland. Doch der Westen drängte auf einen Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag. Ohnehin hatte man kein Interesse daran, dass die Ukraine im Besitz von Atomwaffen blieb, weil man die Unwägbarkeiten einer Situation fürchtete, in der die politisch keineswegs gefestigte unabhängige Ukraine über ein derartiges Arsenal verfügen werde.

Die Lösung war das von den Atommächten USA, Großbritannien und Russland sowie von der Ukraine unterzeichnete Budapester Memorandum vom Dezember 1994. Das sah die Übergabe der Atomwaffen an die Russische Föderation vor, wofür die Ukraine von den USA, Großbritannien und Russland die Garantie ihrer Sicherheit und territorialen Integrität erhielt.

Doch 2014 sollte sich mit der Annexion der Krim zeigen, dass das Budapester Memorandum nicht das Papier wert war, auf dem es abgefasst wurde. Ebenso folgenlos, von den Nadelstichen einiger Sanktionen einmal abgesehen, blieb auch die russische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine. Aufgrund dieser Erfahrung ist es durchaus nachvollziehbar, dass in der Ukraine der Wunsch nach nuklearer Aufrüstung laut wird.

Doch wie ernst ist dieser Wunsch? Dass die Ukraine in der Lage wäre, Atomwaffen zu produzieren, halten Experten für möglich. Allerdings nicht in kurzer Zeit, was konkret bedeutet, dass dieser Wunsch zur gegenwärtigen Bedrohungslage keine Alternative darstellt. So ist wohl die Äußerung des ukrainischen Boschafters vor allem als Druckmittel zu verstehen, um die USA und die N ATO zu drängen, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten der Ukraine in diesem Konflikt beizustehen.

Entmachtung prorussischer Kräfte

Die Hoffnung des Kremls, dass die Ukraine trotz des nicht enden wollenden Kriegs im Osten ihres Landes ihre Sicherheit letztlich in der Bindung an Russland gewährleistet sieht, ist nicht unbegründet. Schließlich gibt es in der Ukraine durchaus starke prorussische Kräfte, die in der „Oppositionellen Plattform“, einer Partei, die in den Parlamentswahlen beachtliche Ergebnisse erzielt, gut organisiert sind. Unterstützt wird sie vom Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, der bereits während der Präsidentschaft von Leonid Kutschma eine bedeutende politische Rolle spielte und in der Folge verschiedene hohe Ämter bekleidete. Er gilt in der Ukraine als der vermögendste prorussische Politiker, der jegliche Form einer Westbindung seines Landes ablehnt und eine wirtschaftliche Integration mit Russland anstrebt. Zum Kreml unterhält er beste Beziehungen und ist Putin persönlich freundschaftlich verbunden, wie die Patenschaft zeigt, die er über Medwedtschuks Tochter nach ihrer Geburt übernommen hat.

Zu bedenken ist auch, dass sich Zelenskyj, als er vor zwei Jahren zum Präsidenten gewählt wurde, deutlich von der antirussischen Rhetorik seines Vorgängers absetzte. Sein vorrangiges Ziel war die Beendigung des Krieges in der Ostukraine. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass er sein Ziel nur mit Zustimmung Russlands erreichen konnte. Gleichfalls war ihm klar, dass der Preis des Friedens von ihm Zugeständnisse verlangte, zu denen er grundsätzlich bereit war. So akzeptierte Zelenskyj als Bedingung die Aufnahme von Gesprächen mit den Separatisten und erklärte sich ursprünglich mit der Durchführung von Wahlen im Donbass einverstanden. Doch letztlich scheiterten die Verhandlungen. Und das nicht nur an Detailfragen, sondern auch daran, dass Putin auf weiter gehende Zugeständnisse drängte, zu denen Zelenskyj nicht bereit war. Dennoch waren die Verhandlungen nicht gänzlich ergebnislos. Sie erbachten einen mehrmonatigen, wenngleich brüchigen Waffenstillstand sowie einen Gefangenaustausch. Doch das ändert nichts daran, dass Zelenskyj sein eigentliches Ziel verfehlte. Nach den gescheiterten Verhandlungen herrscht nunmehr eine für beide Seiten unbefriedigende Pattsituation. Und die Zustimmung zur Politik des ukrainischen Präsidenten schwindet in der Bevölkerung.

All das mag Zelenskyj zu einem deutlichen Kurswechsel bewogen haben. Er entschloss sich zu einer für seine Anhänger wie für seine Gegner völlig überraschenden Aktion, indem er den prorussischen Kräften die Fernseherechte entzog und damit ihre Kanäle zum Schweigen brachte. Außerdem verhängte er über einige Politiker der „Oppositionellen Plattform“, unter ihnen auch Wiktor Medwedtschuk, Sanktionen. Ihm wurde vorgeworfen durch seine Geschäfte mit dem Donbass die Separatisten zu unterstützen, womit der Tatbestand des Terrorismus erfüllt sei.

Dieser Schlag gegen die prorussischen Kräfte richtet sich zugleich gegen Russland und trägt damit zu einer Verschärfung des russisch-ukrainischen Konflikts bei.


Annäherung an die USA

Zelenskyjs Entmachtung der prorussischen Kräfte erfolgt kaum zufällig nach dem Wechsel in der Präsidentschaft der USA. Sie ist ein Signal an die neue amerikanische Administration, dass sich die Führung der Ukraine dem Einfluss Russlands widersetzt, den Kampf gegen die mächtigen Oligarchen nicht scheut und sich für die Zugehörigkeit ihres Landes zum Westen entschieden hat, von dem man allerdings im Konflikt mit Russland auch eine tatkräftige Hilfe erwartet.

In diesem Zusammenhang spielt auch eine Rolle, dass Donald Trump seinerzeit versucht hat, den ukrainischen Präsidenten zu erpressen, indem er die Freigabe einer Militärhilfe davon abhängig machen wollte, dass Zelenskyj gegen Bidens Sohn, der in der Ukraine Geschäftsbeziehungen unterhielt, wegen eines Korruptionsverdachts ermitteln ließ, um seinen Herausforderer um das Präsidentenamt auf diese Weise zu diskreditieren. Zelenskyj kam diesem amoralischen Ansinnen zwar direkt nicht nach, verhielt sich aber in der Sache recht zweideutig, Nun galt es, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen und Präsident Biden zufriedenzustellen, der im Übrigen gegen führende, mit Zelenskyj ursprünglich eng verbundene ukrainische Persönlichkeiten, die in dieser Affäre verwickelt waren, Sanktionen verhängte, die von Zelenskyj, der Biden eine völlige Entmachtung der Oligarchen zugesagt hat, unterstützt werden.

Auf diese Weise schaffte Präsident Zelenskyj für den Besuch des amerikanischen Außenministers Antony Blinken, der Anfang Mai in Kiew stattfand, eine günstige Atmosphäre und erhielt denn auch die Zusage einer umfangreichen Militärhilfe.


Wie groß ist die Kriegsgefahr?

Angesichts der gegenwärtigen militärischen Machtdemonstration Russlands ist die Frage nach einer möglichen Kriegsgefahr durchaus berechtigt. Einer Antwort kommt man näher, wenn man danach fragt, was Wladimir Putin zu einer militärischen Intervention veranlassen könnte. Das wäre beispielsweise die prekäre Wasserversorgung der Krim. 2020 war die Situation bereits so kritisch, dass in manchen Ortschaften die Wasserhähne die meiste Zeit des Tages trocken blieben. Grund war nicht allein die Trockenheit des Sommers, sondern der niedrige Wasserstand des Kanals, der vor ihrer Annexion zu 85% die Wasserversorgung der Krim gesichert hat. Doch dazu bedurfte es eines Zuflusses vom ukrainischen Festland aus, der auf Veranlassung der ukrainischen Regierung nach dem Verlust der Krim gesperrt wurde.

Die Sicherung der Wasserversorgung für die Krim könnte somit für Putin ein Kriegsgrund sein. Denkbar wäre ein Vorstoß russischer Truppen vom Donbass aus bis zum Asowschen Meer und zur Schwarzmeerküste, unterstützt durch die Landung eines Truppenkontinents vom Meer aus.

Doch wie wahrscheinlich ist ein solches Szenarium? Und was muss geschehen, um es zu verhindern?

Die Annexion der Krim vor sieben Jahren, bei der kein einziger Schuss fiel, zeigt, dass Putin zu einer militärischen Aktion bereit ist, wenn sie nur kurz währt und ihr Preis an Opfern gering ist. Was ihm 2014 gelang, wird sich allerdings nicht wiederholen. Inzwischen ist die ukrainische Armee, vor allem aufgrund massiver amerikanischer Militärhilfe, auf ein solches Szenarium gut vorbereitet. Auch wenn sie trotz allem der russischen Übermacht unterlegen ist, so kann sie doch durch ihren Widerstand die Kosten eines solchen militärischen Abenteuers in die Höhe treiben und eine schnelle Erreichung der militärischen Ziele verhindern.

Natürlich ist wegen der aktuellen Bedrohungslage auch die internationale Diplomatie gefordert. Mitte April gab es in Paris zwischen Deutschland und Frankreich entsprechende Ukrainegespräche mit der Forderung an Russland, seine Truppen unverzüglich wieder abzuziehen. Präsident Selenskyj sprach sich für eine Wiederbelebung des Normandie Formats aus, also für Gespräche zwischen Deutschland, Frankreich und der Russischen Föderation, die allerdings bislang keinen Durchbruch gebracht haben. Zudem bekräftigte er seine Forderung nach Aufnahm e seines Landes in die EU und in die NATO. Die Hoffnungen auf eine endliche Lösung des Konflikts ruhen auf einem Treffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin, das der amerikanische Präsident am 4. Mai vorgeschlagen hat und das wohl im Sommer auf neutralem Boden, in Österreich oder Finnland, stattfinden wird. Unabhängig davon gilt: Die NATO und vor allem die UJSA müssen Putin glaubhaft vor Augen führen, welches Risiko Russland mit einem solchen Szenarium eingehen und welche Konsequenzen dies nach sich ziehen werde.


Die Rolle Polens

Bereits Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion gab es in der antikommunistischen polnischen Opposition eine durch die Pariser „Kultura“ angeregte Debatte zum polnisch-ukrainischen Verhältnis. Vereinfacht lautet die These: Polen hat ein sicherheitspolitisches Interesse an einer unabhängigen Ukraine, um nicht unmittelbar an Russland zu grenzen, von wo aufgrund geschichtlicher Erfahrungen eine potentielle Gefahr ausgeht. Gegenüber dieser Staatsräson muss der geschichtspolitische Konflikt mit der Ukraine um die von ukrainischen Nationalisten zu Tausenden während der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs ermordeter Ostpolen zurückstehen. So war denn auch Polen der erste Staat, der 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt hat. Zudem waren die liberal-konservativen polnischen Regierungen in der Folgezeit um eine Bewältigung der wechselseitigen historischen Belastungen im Geiste der Versöhnung bemüht.

Diese Grundeinstellung der Ukraine gegenüber zahlte sich für Polen international aus. In der 2004 durch die Orangene Revolution bedingten innenpolitischen Krise der Ukraine war es der polnische Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, der im Auftrag der Europäischen Union in Kiew zwischen den Fronten vermittelte. 10 Jahre später, in Zusammenhang mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, fungierte der polnische Außenminister Radosław Sikorski als Berater seiner deutschen und französischen Amtskollegen, ohne dass allerdings Polen als Mitglied in das sogenannte Normandie Format aufgenommen wurde, das sich seitdem, wenngleich mit mäßigem Erfolg, um eine Lösung des ukrainisch-russischen Konflikts bemüht.

Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Vereinigte Rechte im Herbst 2015 wurde die Ukrainepolitik der Vorgängerregierungen nicht fortgesetzt. Geschichtspolitische Reminiszenzen gewannen wieder die Oberhand und führten zu neuen Belastungen des polnisch-ukrainischen Verhältnisses., Die politische Formation, die in den Jahren zuvor ihre Verantwortung gegenüber der Ukraine wahrgenommen hat, drückt nun die Oppositionsbänke und ist außenpolitisch einflusslos. Bezeichnend ist, dass sie angesichts des russischen Truppenaufmarsches im April von Staatspräsident Andrzej Duda die Einberufung des Nationalen Sicherheitsrates forderte und nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurde. Zwar weilte der polnische Außenminister Zbigniew Rau zu einem „außerordentlichen, dringenden Besuch“ in Kiew, allerdings ohne erkennbare Konsequenzen in einsamer Mission, die international auch nicht sonderlich wahrgenommen wurde.

Polen ist im Kontext des russisch-ukrainischen Konflikts derzeit nicht gefragt. Joe Biden und Antony Blinken nehmen zwar per Video an der Bukarester Konferenz der neun Staaten, darunter Polen, teil, die die Ostflanke der NATO bilden, doch eine Polenreise steht nicht auf dem Programm des amerikanischen Präsidenten, der wohl die Slowakei aufsuchen will, um mit der Präsidentin Zuzana Caputova zusammenzutreffen, die in ihrem Land erfolgreich die Oligarchen entmachtet und die Korruption bekämpft hat. Joe Biden meidet dagegen Warschau, das mit Donald Trump sympathisierte und permanent die für die Demokratie grundlegenden rechtstaatlichen Prinzipien verletzt. Am russisch-ukrainischen Konflikt wird damit deutlich, wie schwach Polens Position unter der rechten Regierung innerhalb der EU und der NATO ist.

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