Kaczynskis Macht bröckelt
Zum Jahreswechsel ist es üblich, auf die vergangenen Monate zurückzublicken, Bilanz zu ziehen und eine Zukunftsprognose zu wagen.
Wie jedes andere europäische Land war auch Polen von der Corona-Pandemie betroffen, wobei im Frühjahr wie im Herbst im Vergleich zu den Nachbarstaaten die Infektionszahlen und Todesfälle deutlich geringer waren.
Doch politisch gab es reichlich Unruhe: Die mehrfache Verschiebung der Präsidentschaftswahlen; der Konflikt mit der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Verabschiedung des EU-Haushalts; der gescheiterte Versuch von Kaczyński, ein Tierschutzgesetz zu verabschieden, das die Interessen der Pelztierfarmer verletzt hätte; das Urteil des Verfassungsgerichts zur Abtreibungsgesetzgebung, das vor allem Frauen zu Zigtausenden zum Protest auf die Straße trieb; der Kampf zwischen Justizminister Ziobro und Premier Morawiecki um die Ausrichtung der Regierungspolitik; ernste, die Koalition in Frage stellende Streitigkeiten mit Gowin und Ziobro.
Die Konflikte im Einzelnen
Jarosław Kaczyński gilt als der ungekrönte König Polens. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse waren ihm Sejm und Senat zu Diensten. Die beiden Koalitionsparteien, Ziobros „Solidarisches Polen“ und Gowins „Verständigung“, die mit seiner Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Vereinigte Recht bilden, waren treue Vasallen. Und Staatspräsident Andrzej Duda segnete ab, was immer die Regierung beschloss.
Doch diese Hegemonie, der sich Kaczyński erfreuen konnte, fand 2010 nicht ihre bruchlose Fortsetzung. Mit den Wahlen im Herbst 2019 veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse im Senat zugunsten der Opposition. Kaczyńskis Versuche, den einen oder anderen Senator durch reichliche Versprechungen auf seine Seite zu bringen, um so die Kontrolle über den Senat zu behalten, scheiterten. Dazu beging Kaczyński den Fehler, seinen beiden Koalitionspartnern in den Sejmwahlen zu viele Mandate zuzugestehen, so dass nunmehr die absolute Mehrheit von PiS von ihrem Wohlwollen abhängt. Anders gesagt, PiS wurde durch ihre Koalitionspartner erpressbar. Und Kaczyński wurde erpresst, zunächst durch Gowin, der sich Kaczyńskis Absicht widersetzte, unter den Bedingungen der Pandemie Dudas Wiederwahl als Präsident durch frühzeitige Briefwahlen sicherzustellen. Gowin verlor zwar aufgrund dieser Auseinandersetzung sein Ministeramt, und seine Partei wurde geschwächt, aber Kaczyński musste auf die Briefwahlen verzichten und einer Verschiebung der Präsidentschaftswahlen widerwillig zustimmen.
Beim Tierschutzgesetz, das sogar von Teilen der Opposition unterstützt wurde, versagten Abgeordnete aus den eigenen Reihen Kaczyński die Gefolgschaft, so dass der Parteichef einen Rückzieher machen musste und das geplante Gesetz nicht in Kraft trat.
Auch ein weiteres Vorhaben von Kaczyński scheiterte, diesmal am Widerstand von Justizminister Ziobro. Weil die Pandemie ungewöhnliche, rechtlich möglicherweise umstrittene Entscheidungen notwendig macht, wollte Kaczyński seinem Premier für derlei Fälle Straffreiheit garantieren. Gleichfalls dieser Versuch führte zu einer Koalitionskrise, weil sich Ziobro dem entschieden widersetzte.
Kaczyński ist zwar weiterhin der starke Mann Polens, aber er ist politisch angeschlagen. Zudem hat er es nicht geschafft oder nicht gewollt, in der durch die Pandemie heraufgeschworenen dramatischen Situation Führungsqualität und Führungsstärke zu beweisen.
Ausblick auf das Jahr 2021
Was bedeutet dies alles für das Jahr 2021? Verliert Kaczyński weiterhin an Macht und Einfluss?
Es darf als sicher gelten, dass beide Koalitionspartner ihre Stärke ach 2021 nutzen werden. Ziobro, der nicht damit einverstanden war, dass Polen das angedrohte Veto gegen den EU-Haushalt zurücknahm, wird weiterhin einen radikalen nationalen und antieuropäischen Kurs verfolgen. Er wird versuchen, Premier Morawiecki diesen Kurs aufzuzwingen und auf diese Weise den Konflikt mit ihm verschärfen. Nicht ausgeschlossen, dass es dadurch zu einem Bruch der Koalition kommt und vorgezogene Neuwahlen notwendig werden, wobei Ziobro wohl den Schulterschluss mit der nationalistischen Konföderation anstreben und sich zum Führer einer radikalen Rechten aufschwingen wird.
Dass Gowin und seine Partei nicht treu zu Kaczyński stehen, das hat das Jahr 2020 gezeigt. Gowin dürfte daher seine politische Zukunft nicht mehr an dessen Seite sehen. Aber hat er eine Alternative? Es gab Gespräche mit der Opposition, die allerdings vorerst ergebnislos verliefen. Die Frage ist, ob die Tatsache, dass er Kaczyński geschwächt hat, seinen politischen Tod bedeutet, oder ob im Falle von Neuwahlen er und seine Partei politisch überdauern werden. Nach allem, was geschehen ist, ist es jedenfalls unwahrscheinlich, dass Kaczyński nochmals Gowin ein Koalitionsangebot machen wird.
Zu all dem kommen für Kaczyński und seine PiS außenpolitische Unwägbarkeiten. Mit der Rücknahme des Vetos ist ja der Konflikt mit der EU noch keineswegs gelöst. Der beschlossene Rechtsstaatmechanismus besteht schließlich weiterhin. Nicht ausgeschlossen, dass er auf Polen Anwendung findet, Sanktionen verhängt werden und die Stellung Polens innerhalb der EU weiteren Schaden erleidet.
Dazu erfordern die polnisch-amerikanischen Beziehungen eine Neuausrichtung. In Warschau hatte man auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump gesetzt. Wie stark die Sympathien für ihn selbst nach dessen Wahlniederlage bei den polnischen Nationalkonservativen sind, wurde nicht nur an dem lange hinausgezögerten und widerwillig erteilten Glückwunsch von Präsident Duda an den Wahlsieger Biden deutlich, sondern auch in zahlreichen Kommentaren der PiS nahestehenden Presse, die eine sehr positive Bilanz der Präsidentschaft Trumps zieht, sich den erneuten Einzug Trumps ins Weiße Haus wünscht und dessen aufrührerische Rede mit der anschließenden Erstürmung des Kapitols durch seine treue Anhängerschaft bagatellisiert. Keine guten Voraussetzungen für das Verhältnis Polens zur neuen amerikanischen Administration.
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