top of page

Malgorzata Chmielewska - Helferin der Ausgegrenzten

  • Theo Mechtenberg
  • 12. Apr. 2021
  • 9 Min. Lesezeit

Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen. die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 6,37) Papst Franziskus, Evangelii Gaudium 49.

Ein Blick in die Kirchengeschichte genügt, um sich zu vergewissern, dass es selbst in ihren dunkelsten Zeiten nicht an Lichtgestalten mangelte, die sich in ihrem Leben konsequent am Evangelium orientierten. Das gilt auch für die polnische Kirche, die angesichts der zahlreichen von Priestern an minderjährigen Schutzbefohlenen begangenen sexuellen Verbrechen und ihrer Vertuschung, eines diese Untaten begünstigenden Klerikalismus sowie aufgrund ihrer engen Verflechtung mit der politischen Macht eine tiefe Krise durchlebt. In ihr gibt es trotz allem ein radikal gelebtes Christsein, wie das Beispiel von Małgorzata Chmielewska zeigt, die zu ihrem 70. Geburtstag das Cover des „Tygodnik Powszechny“ vom 21. März 2021 mit ihrem Bild schmückt und dort mit einem ausführlichen Dossier(S. 42-55) bedacht wird, das den folgenden Ausführungen weitgehend zugrunde liegt.

Familiärer Hintergrund

Die am 20. März 1951 geborene Małgorzata wuchs in einer areligiösen Familie auf. Die Eltern waren, für Polen ungewöhnlich, nicht einmal kirchlich getraut, ließen aber ihre drei Kinder taufen und firmen. Ihr Leben war stark geprägt von ihren Erfahrungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation. Der Vater erlebte eine wahre Odyssee. Bereits mit 17 Jahren kämpfte er mit Beginn des Krieges gegen den deutschen Aggressor, beteiligte sich später am Warschauer Aufstand, wurde verwundet, für seine Tapferkeit ausgezeichnet, geriet in Gefangenschaft, floh aus dem Lager, schloss sich jugoslawischen Partisanen an, geriet erneut in Gefangenschaft und wurde ins KZ Dachau eingeliefert, wo ihn amerikanische Truppen befreiten.

Auch die Mutter nahm am Warschauer Aufstand teil. Als Sanitäterin wurde sie bei einem Bombenangriff unter Trümmern verschüttet. Als sie geborgen wurde, hielt man sie für tot und legte sie auf einem Leichenberg ab. Ein Priester, der den Gefallenen einen letzten Segen erteilte, sah, dass sie noch lebte und rettete ihr so das Leben. Auch sie geriet mit Ende des Aufstandes in Gefangenschaft. Auf der Fahrt ins KZ Auschwitz gelang ihr die Flucht, und sietauchte für den Rest des Krieges unter.

Während der Jahre kommunistischer Herrschaft gingen die Eltern ihren Berufen nach, der Vater als Arzt, die Mutter als Lehrerin. Ansonsten lebten sie, wie ihre Tochter betont, als Antikommunisten in „innerer Emigration“ ohne die geringste Chance beruflicher Karriere.

Małgorzata Chmieleswska spricht von ihren Eltern mit Hochachtung, Dankbarkeit und Liebe für die Vermittlung der für eine gelungene personale Selbstverwirklichung grundlegenden Werte. Am Vorbild ihrer Eltern lernte sie, dass auch Nichtchristen ein von Nächstenliebe geprägtes Leben führen können und Christen nicht unbedingt bessere Menschen sind als sie.

Małgorzatas Weg religiöser Selbstfindung

Małgorzata Chmielewskas Anfänge religiöser Berufung fallen in die Zeit ihres Biologiestudiums an der Warschauer Universität. Auf der Suche nach Gott vertiefte sie sich in religiöse Literatur und stieß dabei auf die Schriften von Thomas Merton, der sie offenbar so beeindruckte, dass in ihr der Wunsch geweckt wurde, Trappistin zu werden. Hinzu kam der Kontakt zu Persönlichkeiten und Gemeinschaften, die ihr Leben konsequent am Evangelium orientieren, wie dies etwa für das von Franziskanerinnen geleitete, nahe bei Warschau gelegene Blindenzentrum Laski gilt, wo sie eine Zeitlang arbeitete.

Weil es in Polen kein Trappistinnenkloster gibt, erwog Małgorzata Chmielewska den Eintritt in ein Benediktinerinnenkloster. Sie unternahm zwei Versuche, die beide fehlschlugen. Im ersten Fall war es der beim Kloster gelegene See, der sie bei dem Gedanken erschreckte, wohl als Nonne in ihm nicht schwimmen zu dürfen, wo sie doch den Wassersport leidenschaftlich liebte. Beim zweien Mal war es ein kleines, verlassenes Mädchen, das ihr auf dem Weg zum Kloster begegnete und dem unverzüglich geholfen werden musste. Es wurde das erste von fünf hilfsbedürftigen und behinderten Kindern, die ihr in ihrem weiteren Leben über den Weg liefen, deren sie sich annahm und die sie adoptierte. Und denen sie auf diese Weise die Familie ersetzt.

Während ihres Aufenthalts in Laski hatte Małgorzata Chmielewska von der Existenz der Kleinen Schwestern Jesu erfahren, die zu kommunistischer Zeit illegal in Polen wirkten Dieser Gemeinschaft trat sie bei, verbrachte ihr Noviziat in Rom, wo sie Schwester Madeline, die Gründerin, kennenlernte.

Doch nach Ablauf ihrer zeitlichen Gelübde verließ sie die Gemeinschaft, blieb ihr aber weiterhin freundschaftlich verbunden. Immer noch nicht hatte sie zu ihrer eigentlichen Berufung gefunden. Bis sie auf einer Konferenz zur Arbeit von Sozialarbeiterinnen in Haftanstalten von einem jungen Mann die Adresse der Gemeinschaft „Brot des Lebens“ erhielt.

Sie nahm zu dem Gründerehepaar Marie Anneck und Pascal Pingault brieflichen Kontakt auf und erhielt deren Einladung. Im Herbst des europäischen Wendejahrs 1989 machte sich Małgorzata Chmielewska mit ihrer Freundin Tamara auf den Weg nach Frankreich, um sich dort über Initiativen zur Obdachlosenbetreuung zu informieren und Marie Anneck und ihren Mann zu treffen. Auf diese Weise gut vorbereitet, wollten sie in Polen ein entsprechendes Haus eröffnen. In Lisieux schliefen sie in einem kirchlichen Haus zusammen mit Obdachlosen unter einem Dach. So etwas gab es bislang in Polen nicht. Bestenfalls war in der kalten Winterzeit, wie bei den Jesuiten in der Warschauer Altstadt, die Kirche für Obdachlose geöffnet, damit sie dort die Nacht verbringen konnten, wobei sie allerdings bis zum Morgen in der Kirche eingeschlossen waren.

Eintritt in die Gemeinschaft „Brot des Lebens“

Marie Anneck und Pascal Pingault hatten 1968 während der Studentenrevolte in Paris zu einander gefunden. Sie eine engagierte Katholikin und Mitglied der Christlichen Arbeiterjugend, er ein auf der Straße lebender Künstler und Hippy, politisch als Anarchist radikal links eingestellt, zwar getauft, doch ohne jeden Bezug zur Kirche. Drei Jahre nach dem ersten Kennenlernen heirateten sie, und zwar auf Wunsch von Marie kirchlich. Mit der Zeit fand auch Pascal zu einem radikalen Christsein, das sich an der urkirchlichen Gemeinschaft orientierte. Sie teilten ihr Leben mit Obdachlosen und ehemaligen Prostituierten.

Aus dieser Erfahrung entstand 1976 die Gemeinschaft „Brot des Lebens“. Kirchlich bestätigt wurde sie durch den Bischof der Diözese Bayeux-Lisieux in der Normandie. Ihr schloss sich Małgorzata Chmielewska an. 1990 legte sie vor Pascal Pingault und in Anwesenheit des Ortsbischofs in einem den Franziskanerinnenhabit ein zweites Mal in ihrem Leben die zeitlichen Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams ab, die sie nach acht Jahren erneuerte.

Małgorzata Chmielewska versteht sich nicht im klassischen Sinn als Ordensschwester, sondern – wie sie selbst von sich sagt – als „weltliche Person, die sich auf besondere Weise dem Herrn durch Gelübde weiht.“ Dennoch wird sie allgemein als Schwester angesprochen.

Eine Frau in einem auffälligen rostbraunen Habit, auf dem Kopf ein weißes Tuch, als Ordensschwester erkennbar, die raucht und gerne schwimmt, die in keinem Kloster lebt, aber Armut und Ehelosigkeit gelobt hat, dazu mit fünf adoptierten Kindern – das wird es in der Welt kaum ein zweites Mal geben. Verständlich, dass diese „Nonne“ zuweilen in der Öffentlichkeit Anstoß erregt. Bei einer ihrer ersten Gründungen hielten die Menschen vor Ort sie mit ihren Gefährtinnen und Gefährten, einen bunten Haufen von Ehelosen und Familien, von Obdachlosen und Behinderten, für eine Sekte, die sich zu ihrem Ärger in ihrem Dorf einnisten wollte. Und immer wieder kommt es zu Irritationen, so wenn eines ihrer adoptierten Kinder diese Frau in Ordenstracht als „Mama“ anredet.

Ein beachtliches Werk der Solidarität mit den Armen

Als Ouvertüre für das, was Sr. Małgorzata innerhalb von drei Jahrzehnten an Liebeswerken errichtet hat, kann der Heilige Abend 1989 gelten. Mit ihrer verheirateten Freundin Tamara und einem ihnen eng verbundenen Schauspieler bereiteten sie den Obdachlosen im Warschauer Zentralbahnhof eine weihnachtliche Agape. Die Gäste nahmen Platz an weiß gedeckten Tischen, die reichlich mit Speisen versehen waren, die zur Vigilfeier in polnischen Häusern an diesem Abend üblich sind.

Heute verfügt die von Sr. Małgorzata gegründete Stiftung als Trägerin der Einrichtungen über elf Obdachlosenhäuser mit Club- und Gemeinschaftsräumen, zwei Werkstätten, Kindergärten und einem Stipendíenfonds zur Unterstützung von über 400 armen oder behinderten Schülern und Studenten. Zudem gewährt die Stiftung soziotherapeutische Hilfen und betreibt einige Suppenküchen für Hunderte Bedürftige.

In den Häusern erschöpft sich die Arbeit der Gemeinschaft nicht in der bloßen Betreuung. Ziel ist die Resozialisation, die Rückführung der Obdachlosen in die Gesellschaft. Dazu erfahren sie alle notwendigen Hilfen. Doch die können nur wirksam werden, wenn die Betroffenen, mitunter in einem sehr mühsamen Prozess, auch wollen und fähig werden, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Natürlich gibt es Rückfälle, Heimbewohner, die wieder auf der Straße landen, erneut in den Häusern Schutz suchen und nicht abgewiesen werden.

Die Kraft persönlicher Ausstrahlung

Es versteht sich, dass ein so umfangreiches Werk, wie es Sr. Małgorzata geschaffen hat, die Mitwirkung vieler erfordert. Und sie alle fühlen sich von der Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit magnethaft angezogen. Zu diesen Zeugen zählt auch der polnische Kardinal und Unterstützer Konrad Krajewski, der im Auftrag des Papstes für die Sorge um die Armen zuständig ist. Über seine erste Begegnung mit Sr. Małgorzata schreibt er: „Das erste Mal traf ist sie im Vatikan. Das mag fünf Jahre her sein. Zuvor hatte ich schon viel von ihr gehört, ohne dass wir persönlich einander begegnet wären. Sie kam mit dem ehemaligen polnischen Botschafter beim Vatikan, um am Grab Johannes Pauls II. zu beten. Danach gingen wir in eine Cappuccino-Bar und tauschten unsere Telefonnummern aus. Bereits dieses erste Zusammentreffen war elektrisierend. Ich merkte, dass ich es mit einer ungewöhnlichen Frau zu tun hatte, von der ich viel lernen konnte.“

Und an einer Reihe von Beispielen zählt der Kardinal auf, was er von ihr gelernt hat: „Wenn du um Regen bittest, dann gehe nie ohne Regenschirm aus dem Haus. Anderenfalls ist dein Gebet schwach wie dein Glaube. […] Wenn jemand in Not vor dir steht, dann steht er dort allein für dich. Dann kannst du ihn nicht zu anderen schicken oder sagen: Komm später wieder, dann schauen wir, was sich machen lässt. Man muss wie sie unverzüglich tätig werden. […] Manchmal handelt sie am Rande des Rechts; mitunter verletzt sie es auch. Um einem anderen Menschen zu helfen, muss man mitunter gegen Rechtsvorschriften versstoßen. So ist die Liebe. Und so ist Schwester Małgorzata. Auch das habe ich von ihr gelernt.“

Alle diese Erfahrungen mit ihr verleiten den Kardinal zu der Aussage, sie müsse eigentlich „Kardinal sein“. Denn Kardinal sein, bedeute einen Glauben an Christus bis zur Hingabe des Blutes. Genau diese Bereitschaft zur Selbsthingabe sei für sie charakteristisch, „auch wenn sie verlacht und verspottet wird, selbst von Leuten der Kirche. Viele verstehen sie nicht. […] Was ist das für eine Nonne, die ein Kind adoptiert? Sinnlose Argumente. Um einen anderen Menschen zu retten, muss man ihn manchmal adoptieren.“

Missachtet und gewürdigt

Ein prominenter, der regierenden Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ nahestehender Journalist fragte einmal Małgorzata Chmielewska, ob ihre Gemeinschaft überhaupt einen kirchlichen Status besitze. Im Übrigen sehe man sie immer wieder in der „Wyborcza“ gemeinsam mit Owsiak abgebildet, niemals jedoch mit einem Bischof. „Wenn Fotos mit Bischöfen das Maß der Katholizität sein soll, dann bedarf es dazu nicht viel“, lautete ihre Antwort. Und Sr. Małgorzata lud den Journalisten in eines ihrer Häuser ein, damit er sich vor Ort ein Bild von der Gemeinschaft „Brot des Lebens“ machen könne. Doch dazu war er nicht bereit. Ihm ging es allein darum, seine Missachtung gegenüber dieser Anwältin der Armen und Ausgegrenzten zum Ausdruck zu bringen.

Wer zur liberalen, die regierenden Nationalkonservativen scharf kritisierenden Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ Kontakt hält und sich Jerzy Owsiak verbunden fühlt, der mit seiner „Großen Spendengala“ jährlich Millionen über Millionen Spendengelder für karitative Zwecke sammelt, ohne dass sie darauf den geringsten Einfluss haben, der kann eben in ihren Augen kein wahrer Katholik sein.

Dass Sr. Małgorzata von den Rechtskonservativen und Nationalkatholiken missachtet wird, ist die Folge ihres öffentlichen Ansehens. Bereits 1996 wurde sie zur „Frau des Jahres“ gewählt. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, allerdings nie von einer der rechtskonservativen Regierung nahestehenden Institution. Sie erteilt Interviews, tritt bei öffentlichen Diskussionen in Erscheinung, äußert sich im unabhängigen Fernsehen. Sie sagt von sich: „Ich bin in einem gewissen Sinn populär, so dass ich mich ständig fragen muss, zu welchem Zweck ich im Fernsehen auftrete und Interviews gebe. Ich tue dies nicht, um selbst davon zu profitieren, ich tue es für jene, denen ich helfe.“

Und was sie bei diesen Gelegenheiten von sich gibt, ist für die von Kaczyński verfolgte Politik und seine nationalkatholische Gefolgschaft alles andere als schmeichelhaft. Dazu ein paar Beispiele: Am 29. Jahrestag der Gründung von „Radio Maryja“ verharmloste Pater Rydzyk unter Missachtung des Opfers die von einem Priester verübte sexuelle Gewalt, indem er sagte: Dass er gesündigt hat? Nun dann sündigte er eben. Wer ist schon ohne Versuchung.“ Gefragt, was sie von dieser Aussage halte, bezeichnete Sr. Małgorzata sie als geradezu „strafwürdig“.

Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober 2020, wonach selbst bei einer geschädigten Leibesfrucht ein Schwangerschaftsabbruch verboten ist, kommentierte sie, die selbst ein behindertes Kind adoptiert hat, mit den Worten: „Der Kampf um das Leben muss mit der Unterstützung derer beginnen, welche diese Last zu tragen haben.“ Davon sei in dem Urteil in keiner Weise die Rede, und das sei ein „absoluter Fehler. Im Übrigen könne man niemanden zu einem Heroismus zwingen.

Und angesichts der gegenwärtigen Bestrebungen der Regierung, die bislang unabhängigen Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, scheute Sr. Małgorzata nicht den Vergleich mit Hitler: „Man muss sich dessen erinnern, was Hitler nach seiner Machtübernehme tat: Verbot bestimmter Medien, Propaganda, Installation eigener Sender zur Verbreitung seiner Propaganda. Weil er wusste, dass ihm dies ermöglichte, die Menschen zu beherrschen. Wer Macht haben will, der will die Medien. Und er will keinen Pluralismus, sondern strebt ein Monopol an. Geschieht dies nicht im heutigen Polen?“

Man kann nur dem zustimmen, was der Marshall der Wojewodschaft Wielkopolski, Marek Woźniak, in seinem Glückwunschscheiben zum Ausdruck brachte:. „Wir bewundern alle Ihre mutigen, angesichts unserer Wirklichkeit geradezu revolutionären Initiativen, Ihre öffentlich geäußerten Ansichten und Meinungen.“

Comments


Follow Us
  • Twitter Basic Black
  • Facebook Basic Black
  • Black Google+ Icon
Recent Posts

© 2023 by Glorify. Proudly created with Wix.com

bottom of page