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Patriarch Kyrill und Putns Vernichtungskieg


An diplomatischen Bemühungen, Putins Krieg gegen die Ukraine abzuwenden, hat es nicht gemangelt. Der gewaltige russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze veranlasste die wichtigsten westlichen Politiker, Putin persönlich in Moskau aufzusuchen und vor einem Überfall auf die Ukraine zu warnen. Genutzt haben diese Visiten ebenso wenig wie die späteren zahlreichen Telefonate von Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz, bei denen sie Putin eindringlich aufforderten, die Feindseligkeiten einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen.

Über diese diplomatischen Initiativen ist in den Medien hinlänglich berichtet worden, nicht aber über den Versuch, den Moskauer Patriarchen Kyrill zu einer dem Frieden dienenden Intervention beim russischen Präsidenten zu bewegen, ein Versuch, der zugleich die Rolle des Moskauer Patriarchen in Putins Vernichtungskrieg in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.

Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz appelliert an Patriarch Kyrill

Bereits vor dem Überfall auf die Ukraine appellierte der Posener Erzbischof Stanisław Gądecki in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz in einem Schreiben an die orthodoxen und katholischen Bischöfe Russlands und der Ukraine, sich zusammenzuschließen, um vereint das „Gespenst eines neuerlichen Krieges abzuwenden.“ Von Erzbischof Hilarion, dem Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, erhielt er kurz nach der Invasion russischer Truppen eine brüske und brüskierende Antwort: „Wenn die polnischen Bischöfe etwas Gutes tun wollen, dann sollen sie die polnischen Politiker davon abbringen, sich aggressiv zu Russland und zur Situation des gegenwärtigen Krieges zu äußern.“

Trotz dieses deutlichen Signals, sich jeglicher Einmischung zu enthalten, richtete Erzbischof Gądecki am 2. März ein persönliches Schreiben an den Moskauer Patriarchen. Darin heißt es: „Ich bitte Dich, Bruder, dass Du an Wladimir Putin appellierst, den sinnlosen Kampf mit der ukrainischen Nation aufzugeben, in dem unschuldige Menschen sterben, und in dem nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilpersonen, besonders Kinder, von dem Leiden betroffen sind. Ein einzelner Mensch kann mit einem Wort dem Leiden tausender Menschen Einhalt gebieten – der Präsident der Russischen Föderation.“ Gądecki bittet Kyrill weiter, Putin zu bewegen, „die russischen Truppen aus der Ukraine, einem souveränen Staat, zurückzubeordern.“ Er begründet dies damit, dass „es niemals einen Grund oder einen Anlass geben kann, die Entscheidung zu einer militärischen Intervention in ein unabhängiges Land, die Bombardierung von Wohnsiedlungen, Schulen und Kindergärten zu rechtfertigen.“ Angesichts der Nähe beider Nationen und ihrer christlichen Wurzeln sei dieser Krieg bar jeden Sinns. „Darf man – so fragt der Posener Erzbischof – die Wiege des Christentums auf slawischer Erde, den Ort der Taufe der Rus, vernichten?“ Und er bittet den Patriarchen darum, an die russischen Soldarten zu appellieren, an diesem ungerechten Krieg nicht teilzunehmen und Befehle zu verweigern, die – wie bereits zu sehen ist – zahlreiche Kriegsverbrechen zur Folge haben. Befehle zu verweigern, ist in dieser Situation eine moralische Pflicht.“

Der Brief blieb unbeantwortet, doch Gądecki verwies auf die Predigt, die der Moskauer Patriarch am 27. Februar, wenige Tage nach Kriegsausbruch, gehalten hat, in der er seine Sicht der Dinge in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht habe.

Eine aufschlussreiche Predigt

Am 27. Februar beging die orthodoxe Kirche den Sonntag der Vergebung. Dieser Tag, an dem die orthodoxen Gläubigen dazu aufgerufen sind, einander zu vergeben, bot eigentlich dem Moskauer Patriarchen die Gelegenheit, eine Friedensbotschaft zu verkünden. Er nutzte sie nicht. Ganz im Gegenteil gab Kyrill dem russischen Präsidenten für seinen Vernichtungskrieg geistlichen Beistand, indem er auf die Situation in der Ukraine Bezug nahm und wörtlich sagte: „Wir begannen einen Kampf, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat.“ All das, was in diesem Krieg mit Händen zu greifen ist, all die schrecklichen Zerstörungen der zivilen Infrastruktur, die zerbombten Kult- und Kulturstätten, Krankenhäuser und Schulen, all die in den Trümmern zu Tode gekommenen Menschen, all das ist offenbar für den Moskauer Patriarchen von geringer Bedeutung. Was allein zählt, ist das, was hinter dem Augenschein verborgen liegt – ein Kampf gegen das Böse schlechthin. Kyrill spricht rein abstrakt von der Treue gegenüber dem Gebot Gottes und fährt dann fort, „wenn wir den Bruch dieser Gebote sehen, dann sind wir niemals mit denen einverstanden, die ein solches göttliches Recht vernichten, indem sie unter anderem die Grenze zwischen der Heiligkeit und der Sünde vermischen, ja mehr noch die Sünde propagieren.“

Als Beispiel für die Gefahr der Verletzung göttlicher Rechte wählt Kyrill ausgerechnet den teils russisch besetzten, teils heftig umkämpften Donbass, aus dem sich die Meldungen von gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Separatisten häufen. Und er behauptet, „die Menschen dort wollen nicht, wollen prinzipiell nicht, die so genannten Werte akzeptieren, die heute von denen propagiert werden, die für sich das Recht auf Weltherrschaft beanspruchen.“

Es sei „an einem sehr einfachen und zugleich schrecklichen Test“ feststellbar, wer zu dieser bösen Welt des Westens gehört – an den „Schwulen-Paraden“. „Eben dieses vielen Menschen aufgezwungene Verlangen nach Durchführung einer solchen Parade ist der Test für die Loyalität gegenüber dieser machtvollen Welt. […] Solange die Menschheit glaubt, die Sünde sei kein Verstoß gegen das göttliche Recht, solange sie dem zustimmt, dass die Sünde eine der Varianten menschlichen Verhaltens ist, wird dies das Ende menschlicher Zivilisation bedeuten.“ Der Krieg gegen die Ukraine – eine Rettungstat vor der westlichen Verderbnis des ukrainischen Brudervolkes.

Diese abstruse und als Rechtfertigung des russischen Überfalls auf die Ukraine zu verstehende Predigt des Moskauer Patriarchen blieb nicht unwidersprochen. Der für seine kritische Einstellung gegenüber Kyrill bekannte Diakon Andriej Kurajew nannte sie „die schändlichste, die als Beispiel primitiver Manipulation in die Geschichte eingeht.“

Es fehlt nicht an Beispielen für eine aktive Unterstützung des von Putin entfesselten Krieges gegen die Ukraine durch den Moskauer Patriarchen. So überreichte Kyrill während des Sonntagsgottesdienstes in der Erlöserkathedrale, als bereits ukrainische Städte zerbombt in Schutt und Asche lagen, dem Chef der in der Ukraine kämpfenden Nationalgarde, Wiktor Solotow, eine Ikone der Mutter Gottes mit den Worten: „Möge dieses Bild junge Soldaten inspirieren, die den Eid ablegen und den Weg der Verteidigung des Vaterlandes einschlagen." Solotow antwortete, die Ikone werde die „russischen Streitkräfte schützen und unseren Sieg beschleunigen".

Das Oberhaupt der eigenständigen orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphanius, reagierte darauf mit den Worten: „Die Übergabe einer Ikone durch das Oberhaupt des Moskauer Patriarchats an den Leiter der russischen Nationalgarde und die 'Segnung' von Mördern und Halsabschneidern sonntags in der Liturgie ist ein geistliches Verbrechen".

Eine vergebliche vatikanische Friedensinitiative

Dass Papst Franziskus zum Moskauer Patriarchen Kontakt aufnehmen würde, um das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden, war erwartet worden. So war das Videotelefonat mit Kyrill keine Überraschung. Auch wenn weder die Dauer noch der Inhalt dieses Gesprächs im Detail bekannt wurde, so liegt doch die Vermutung nahe, dass der Papst den Patriarchen für eine gemeinsame Friedensinitiative gewinnen wollte. Dazu war allerdings Kyrill nicht bereit. Ein Vergleich der von beiden kirchlichen Oberhäuptern herausgegebenen Kommuniqués zeigt im Übrigen einen deutlichen Dissens. Während die Moskauer Verlautbarung nicht vom Krieg, sondern lediglich von einer „kritischen Situation in der Ukraine“ spricht, heißt es in dem römischen Text: „Als Seelsorger haben wir die Pflicht, allen Menschen, die unter dem Krieg leiden, nahe zu sein und ihnen zu helfen.“

Die in der Sache erfolglose Intervention des Papstes dürfte auf die vatikanische Position in diesem Konflikt Rückwirkungen haben. Zwar nennt Papst Franziskus auch nach dem fehl geschlagenen Videogespräch den Aggressor nicht beim N amen, aber seine Rhetorik hat sich verschärft. So heißt es in einer Stellungnahme vom 17. März: „Ströme von Blut und Tränen fließen in der Ukraine. Es handelt sich nicht um eine Militäroperation, sondern um einen Krieg, der Tod, Zerstörung und Elend mit sich bringt.“

Die „positive Neutralität“, die der Vatikan traditionell in internationalen Konflikten als Voraussetzung für eine mögliche Friedensvermittlung wahrt, steht angesichts des ergebnislosen Videogesprächs mit dem Moskauer Patriarchen und dessen unverblümte Unterstützung der russischen Invasion samt ihrer verheerenden Folgen auf dem Prüfstand. Denn in diesem Konflikt gibt es keine moralisch zu rechtfertigende Neutralität. Der von Putin vollzogene Missbrauch seiner Macht ist überdeutlich. Es ist die Aufgabe der Kirche, den Täter beim Namen zu nennen, sein Handeln zu verurteilen und Solidarität mit den Opfern, mit der Ukraine, zu beweisen. Mit der Annahme der Einladung des ukrainischen Präsidenten, ihn in Kiew zu besuchen, könnte Papst Franziskus ein Zeichen der Solidarität setzen.

Das Bündnis von Thron und Altar

Kyrill, mit Geburtsnamen Wladimir Gundajew, ist als Nachfolger von Aleksy II. seit 2009 im Amt. Zuvor war wer jahrelang als Chef für die Außenkontakte des Patriarchats zuständig und wurde als solcher vom Geheimdienst als Agent „Mikchajlow“ geführt. Gemäß der Tradition der russisch-orthodoxen Kirche sprach er sich in seiner Antrittsrede für gute Beziehungen zur weltlichen Macht aus. Dabei gebrauchte er das Bild der Symphonie. Es dürfte wohl keine Frage sein, wer in diesem Orchester die erste Geige spielt und wer als Dirigent den Takt vorgibt.

Diese „Symphonie“ führt zudem zu einer wechselseitigen Angleichung von Thron und Altar. So ist zu fragen, was davon zu halten ist, wenn der einstige KGB-Mann Putin sich nunmehr als gläubigen orthodoxen Christen ausgibt und medienwirksam im Gottesdienst Kerzen anzündet und Ikonen küsst. Wenn er sich am achten Jahrestag der Einverleibung der Krim im Moskauer Stadion vor den jubelnden Massen der Worte Jesu bedient „Niemand hat größere Liebe als der, welcher sein Leben hingibt für seine Freunde“, um auf diese Weise seine Soldaten zu motivieren. Ein Missbrauch der Religion!

Umgekehrt erweist sich Patriarch Kyrill nicht nur als ein willfähriger Diener seines Herrn, er übernimmt auch dessen Leitungsstil, indem er jeden Ansatz eines Pluralismus in seiner Kirche unterdrückt, die Meinungsfreiheit einschränkt, Geistliche, die sich in Medien oder Blogs äußern, der Kontrolle unterzieht, keine Kritik erlaubt und von seinen Mitarbeitern absolute Loyalität verlangt. Wer aus der Reihe tanzt, der wird sanktioniert.

Beispiele für die Unterstützung des russischen Präsidenten durch den Patriarchen gibt es reichlich. Als Wladimir Putin 2012 nach vierjähriger Pause erneut die Präsidentschaft anstrebte und Massenproteste dies zu verhindern suchten, sah sich Patriarch Kyrill genötigt, Putin unter Bezugnahme auf seine imperialen geschichtspolitischen Aussagen öffentlich zu loben: „Ich muss als der Wahrheit verpflichteter Patriarch, unabhängig von politischer Konjunktur und propagandistischen Akzenten öffentlich sagen, welch bedeutende Rolle Wladimir Wladiminowicz bei der Richtigstellung der Verfälschung unserer Geschichte spielte. Dafür möchte ich ihm danken.“

Damals kam es zu einem förmlichen Kreuzzug orthodoxer Hierarchen gegen die Massen, die auf der Straße ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen zum Ausdruck brachten. Die unter staatlicher Kontrolle stehenden Medien verbreiteten unermüdlich die Propaganda von der angeblichen Anstiftung westlicher Mächte zu einer „Farbenrevolution“, wie sie in der Ukraine 2013/14 auf dem Majdan stattfand und zur Absetzung und Flucht des russischhörigen Präsidenten Janukowytsch führte, worauf Moskau mit der Annexion der Krim und den vorerst auf die Ostukraine begrenzten Krieg antwortete. Zu all dem lieferte die russisch-orthodoxe Kirche die Begleitmusik. Einer ihrer Wortführer war unter dem Segen des Patriarchen der 2020 verstorbene prominente und einflussreiche Geistliche und Theologe Wsiewolod Czaplin, ein früher Befürworter nicht nur der Annexion der Krim, sondern der gesamten Ukraine. Er rief die enge Verbundenheit von Kirche und Staat in der Zarenzeit in Erinnerung, in der es selbstverständlich gewesen war, seitens der Kirche zu den Waffen zu rufen und die für die gerechte Sache kämpfenden Krieger zu segnen. Das sei heute nicht anders. Man müsse daher den politischen Kurs der Regierung unterstützen. Das seine militärische Macht ausbauende Russland könne immer damit rechnen, dass fertiggestellte Kriegsschiffe und die neusten Raketen von einem orthodoxen Geistlichen mit Wasser besprengt und auf diese Weise gesegnet werden.

Wie sehr Putin die politische Unterstützung durch den Moskauer Patriarchen schätzt, zeigte sich am 19. November 2021, dem Vorabend von Kyrills 75. Geburtstag, als er aus seiner Hand die höchste staatliche Auszeichnung entgegennahm, den Orden des Heiligen Andreas des Erstberufenen. Zar Peter I. hatte ihn 1698 gestiftet. 300 Jahre später hatte ihn Boris Jelzin durch Dekret erneuert, nachdem der Orden mit dem Untergang des Zarentums und dem Beginn kommunistischer Herrschaft abgeschafft worden war.

Aus Anlass der Ordensverleihung gab der Patriarch im Fernsehen ein Interview, in dem er das Russland unter Putins Führung in den höchsten Tönen pries. Und das zu einer Zeit, als sich die Gefängnisse und Straflager mit Oppositionellen füllten, die freie Meinungsäußerung unter Strafe gestellt und die Bürger- und Menschenrechte zunehmend eingeschränkt wurden. Er lobte „Russland als Führer der freien Welt und Beispiel für andere Staaten.“ Man sei stolz darauf, in einem Land zu leben, „das selbst den mächtigsten äußeren Einflüssen nicht erliegt.“

Putin hob in seiner Ansprache zur Ordensverleihung die Verdienste des Patriarchen „für die Stärkung der traditionellen Werte“ sowie für die „Wahrung unseres historischen und kulturellen Erbes“ hervor.

In seiner Dankesrede verwies Kyrill auf die großen Veränderungen, die sich in den letzten Jahren in Russland vollzogen haben und sagte: „Wir sind uns bewusst, in einem glücklichen Land zu leben“, und sprach Putin für seine „kluge Führung“ seine Anerkennung aus.

Der historische Hintergrund

Die Symphonie von Thron und Altar besitzt eine bis in die Zarenzeit zurückgehende Tradition. Und die ist für die Ukraine eine Tragödie. Denn sowohl der russische Staat als auch die russisch-orthodoxe Kirche führen ihre Existenz und ihre Identität auf die Kiewer Rus zurück. Sie sehen sich als ihre alleinige Erben. Konkret bedeutet dies ein sich über Jahrhunderte hinstreckender Prozess der Russifizierung der Ukraine, der man den Anspruch auf einen eigenen Staat, auf eine unabhängige Kirche, auf eine eigene Sprache, auf eine eigene Kultur absprach. Und das bevorzugte Instrument dieser Russifizierung war und ist das Moskauer Patriarchat. Dem gelang es nach mehreren vergeblichen Bemühungen im 17. Jahrhundert, die Oberhoheit über die ukrainische Kirche zu gewinnen. Ende des 18. Jahrhunderts schien diese Russifizierung abgeschlossen. Sämtliche Kiewer Metropoliten waren russischer Herkunft. Die orthodoxen Verlage in der Ukraine unterlagen der Zensur. Der Versuch, die Bibel in ukrainischer Sprache herauszugeben, zog 1876 das Verbot nach sich, überhaupt Bücher in ukrainischer Sprache zu drucken und den Namen „Ukraine“ zu verwenden.

Ganz selbstverständlich bedient sich denn auch Putin, der sich wie allgemein bekannt mit Vorliebe als Historiker präsentiert, der Argumentation aus der Zeit der vom Moskauer Patriarchat betriebenen Russifizierung. Es kann, so die Auffassung Putins und Kyrills, nur ein Erbe der Kiewer Rus geben, Moskau. Dass auch die Ukraine sich in ihrer Herkunft auf die Kiewer Rus beruft, darf nicht sein. Dass sie in einer kurzen Phase 1917/18 selbstständig war und seit 1991 als unabhängige Republik existiert, verstößt aus der Sicht des russischen Präsidenten und Moskauer Patriarchen gegen den Sinn der Geschichte. Dass in ihrem Staatswappen der auf die Kiewer Rus verweisende goldene Dreizack auf blauem Grund das Zentrum bildet, flankiert vom Lemberger Löwen und einem goldgekleideten Kosaken als Symbol für die Einheit der westlichen und östlichen Landesteile, ist aus russischer Sicht eine Provokation. Wenn Kyrill in der besagten Predigt von der „metaphysischen“ Bedeutung des Krieges spricht, dann dürfte er diese Zusammenhänge mit im Blick gehabt haben.

Die Kenntnis von dieser jahrhundertelangen Russifizierung durch das Moskauer Patriachat ist auch deswegen wichtig, um Verständnis für die Vorbereitung eines Gesetzes durch das ukrainische Parlament zu gewinnen, das jede Art von Tätigkeit der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine untersagt und die Konfiszierung ihres Besitzes vorsieht.

Das Interesse des Moskauer Patriarchen am Krieg in der Ukraine

Kyrills voller Titel lautet: Patriarch von Moskau und der ganzen Rus. Damit sieht sich der Moskauer Patriarch in der Tradition des Kiewer Rus, eines aus Teilfürstentümern zusammengesetztes slawisches Großreichs des frühen Mittelalters, das 988 unter dem Großfürsten Wladimir I. von Byzanz aus griechisch-orthodox christianisiert wurde. Die Patriarchen residierten zunächst in Kiew, doch 1325 verlegte Metropolit Maximus seinen Sitzt nach Moskau, wo das Patriarchat in der Folge bis heute verblieb.

Der Anspruch, der sich aus dem Titel des Moskauer Patriarchen ergibt, ist allerdings gegenwärtig durch die Wirklichkeit nicht gedeckt. Denn neben der Kirche des Moskauer Patriarchats und der mit Rom verbundenen unierten orthodoxen Christen gibt es seit 1991 die von Moskau unabhängige, autokephale orthodoxe Kirche der Ukraine. Vom Moskauer Patriarchen exkommuniziert, verblieb sie zunächst ohne kanonische Anerkennung. Doch unter dem Eindruck der Annexion der Krim und dem von Russland initiierte und militärisch unterstützten Separatismus in der Ostukraine erhielt sie durch den Ehrenvorsitzenden der Orthodoxie, den ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, die kanonische Anerkennung. Damit wurde die Dominanz der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine gebrochen, wenngleich die unabhängige ukrainische Kirche nach der Zahl der Gemeinden, wohl aber nicht der Gläubigen, in der Minderheit blieb.

Diese Entwicklung rückgängig zu machen, liegt im Interesse des Moskauer Patriarchats. Würde es Putin gelingen, die Ukraine unter seine Gewalt zu bringen, wäre damit für Kyrill die Voraussetzung geschaffen, im Einklang mit staatlichen Maßnahmen, durch Repressionen und Verfolgung, die Einheit der Orthodoxen in der Ukraine wieder herzustellen und auf diese Weise den in seinem Titel enthaltenen Anspruch einzulösen.

Es regt sich Widerstand

Doch dazu sieht es wegen der offenbar von Putin verfehlten Kriegsziele im Augenblick nicht aus. Vorerst stehen Hierarchie, Priester und Gläubige der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in einem Loyalitätskonflikt. Wie kann man unter der Oberhoheit des Moskauer Patriarchats verbleiben, wenn dieser den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt? So hat selbst Onufry, das dem Moskauer Patriachat unterstehende Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine, die russische Invasion als „Sünde Kains“, also als Brudermord, bezeichnet. Und ein Teil der Priester dieser Kirche bekundete am 2. März in einem Schreiben an den Moskauer Patriarchen die Bereitschaft, sich aus den vom Moskauer Patriarchat vorgegebenen kirchlichen Strukturen heraus zu lösen.

Die russisch-orthodoxe Kirche steht somit keineswegs geschlossen hinter Patriarch Kyrill. Es ließen sich zahlreiche Stimmen zitieren, die den Patriarchen für seine Unterstützung des Krieges verurteilen. Es sind zwar wenige Gerechte in der Masse folgsamer oder schweigender orthodoxer Priester. Aber sie verdienen, gehört zu werden. So wie die 300 russisch-orthodoxen Theologen aus aller Welt. In ihrer Stellungnahme heißt es: „Wir weisen die Häresie einer ‚russischen Welt‘ und das – durch Zustimmung der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützte – schändliche Handeln der Regierung zurück, dessen Ziel die Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine ist. Diesen Krieg ermöglichte eine niederträchtige und gewissenlose Lehre, bar jeder Begründung, zutiefst orthodoxwidrig, unchristlich und menschenfeindlich. […] So wie Russland die Ukraine überfiel, so wurde auch das Moskauer Patriarchat, von Kyrill angeführt, für die orthodoxe Kirche zum Aggressor.“

Benutzte Literatur: Anna Łabuszewska, Nie-Boży Pomazaniec (Der ungöttliche Gesandte), Tygodnik Powszechny v. 13. 03. 2022, S. 38- 44.



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